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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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»Vier zu vier statt eins zu sieben«

Anke Stellings neuer Roman »Bodentiefe Fenster« beschreibt
mitreißend Höhen und Tiefen im Leben einer Prenzlauer-Berg-Mutter.

Von Eva Schanz

 

Alle Menschen sind gleich: »Einer ist keiner, zwei sind mehr als einer, gemeinsam sind wir stark, diese Welt ist veränderbar.« So lautet die Botschaft, die die Protagonistin Sandra in Anke Stellings neuem Roman Bodentiefe Fenster beherzigen will. Eine Maxime, die einst von ihrer Mutter aufgestellt wurde. Nun hat die Tochter selbst zwei Kinder und versucht der These ihrer Vorgänger-Generation zu folgen, indem sie sich der Vision einer harmonischen Gemeinschaft hingibt.

My Mother, My Self.

Das innovative Wohnprojekt eines Mehrgenerationenhauses sieht Sandra als Chance, das zu verwirklichen, was ihre Mutter immer gepredigt hat. Angesiedelt im Berliner Prenzlauer Berg soll es »genau die richtige Mischung aus Nähe und Distanz ermöglichen, also auf der einen Seite dem anonymen Großstadtleben entgegenwirken, aber auch nicht in unangenehme Kontrolle umschlagen.« Das mit der unangenehmen Kontrolle ist so eine Sache. Im Idealfall sähe die richtige Mischung folgendermaßen aus: In der Gemeinschaft steht es immer »vier zu vier« statt »eins zu sieben«, niemand wird benachteiligt, gleiches Recht für alle.

Der Realität ist das ziemlich egal. Schließlich kann man nicht immer Rücksicht auf andere nehmen, es jedem recht machen, dem allgemeinen »Mutti-Sprech« folgen. Sandras Problem: sie hat das Beuteschema ihrer Mutter übernommen und darf sich deshalb nicht wundern, dass auch ihre Freundinnen allesamt irre sind, labil, gefangen in ihren Beziehungen, kurz vor dem Durchdrehen oder rekonvaleszent danach. »Auch«, weil Sandra sich selbst als überfordert, ausgebrannt, intolerant, und nicht anpassungsfähig genug bezeichnet für das Leben, das sie sich ja eigentlich selbst ausgesucht hat. Anke Stellings Hauptfigur betreibt ambivalenten Seelenstriptease und ist dabei immer wieder streng mit sich selbst: unangenehme Zugeständnisse, Überfordert-Sein und Resignation werden schonungslos offenbart – die kluge und verständnisvolle Sandra hasst und verachtet in Wahrheit nämlich alle – um anschließend von ein und derselben Person wieder relativiert zu werden. Der Sprung vom Konkurrenzwahnsinn zur völligen Unbedarftheit gelingt Sandra nicht. Es ist eher ein Balanceakt, den sie vollzieht, um nicht wegzukippen.

Die Sucht nach Vergleich

Wer anfängt, zu vergleichen, der hat schon verloren. Im Grunde weiß das auch Sandra: »Das ewige Vergleichen ist wirklich ein Problem. Aber führt es nicht auch zu Entlastung? Dass ich mich beispielsweise damit trösten kann, dass es mir immer noch besser geht als Isa? Dass ich zumindest nicht so runtergewirtschaftet bin wie Regine?« Einerseits leidet sie unter der Last, die ihr die Schicksale ihrer Mitmenschen auf die Schultern legen, andererseits sind diese Vergleiche Teil einer Überlebensstrategie, die da lautet: wenn sich mein Leben mal wieder so richtig beschissen anfühlt, dann schaue ich mir das Leben meiner Freunde an, denn dann stellt sich heraus: »Im Vergleich zu Isa darf ich mich auf keinen Fall beschweren. Im Vergleich zu Isa geht es mir prima, im Vergleich zu ihren Kindern haben meine hier den Himmel auf Erden, im Vergleich zu den Kindersoldaten im Kongo geht es allerdings auch Isas Kindern relativ gut.« Und genau hier zeigt sich die Problematik der Vergleichssucht. Es bleibt immer Luft, nach oben ebenso wie nach unten. Schlimmer geht’s immer.

Zombie-Modus, oder: Das muss so sein, wegen der Kinder.

Burnout-Fanatikerinnen, Übermuttis, Ärztewahnsinn, Laktoseintoleranz, Konkurrenzkampf – Sandra versucht, ihre Daseinsberechtigung zu wahren, hinterfragt die zweifelhaften Wettbewerbsstrategien ihrer Mitstreiterinnen: »Sie kommt mir so hilflos vor diese ewige Konkurrenz, das heimliche Aufrechnen und Abgleichen. Was will ich überhaupt wirklich? Außerhalb dieses Wettstreits? Was würde ich wollen, wenn ich nicht unter Beobachtung stünde, mich mit niemandem vergleichen müsste?« Die Sehnsucht nach Unbedarftheit bahnt sich immer wieder ihren Weg. Die Hoffnung, dass irgendwann ein Gegengift für all die zu Zombies mutierten Mütter gefunden würde, stirbt schließlich zuletzt, doch wird sie von der Erkenntnis überschattet: »Mit Zombies kann man nicht reden, man muss sich vor ihnen hüten oder sie erschießen.«

Sag, was mit dir los ist, sonst kann dir auch niemand helfen!

Aber meinte Mutter nicht immer, dass Reden alle Probleme löse? Leben wir nicht in einer ach so toleranten, offenen Gesellschaft? Nicht umsonst hat sich Sandra dem Experiment »Mehrgenerationenhaus« gestellt, denn ein friedliches Miteinander ist doch schließlich der Schlüssel zum vollkommenen Glück. Die wahren Erkenntnisse sind jedoch mehr ernüchternd als aufbauend: Coolness und Multitasking sind eben schwer vereinbar mit der realen Gefühlswelt, die sich in einer Mutter abspielt, die ja auch immer noch Frau, Partnerin, Geliebte ist. Von wegen friedliches Miteinander, Offenheit, »Wir können über alles reden!«. Alles nur Fassade, stellt Sandra fest und versucht zu rebellieren: »Ich werde nicht mehr zulassen, dass wir die Offenheit nur vorgeben, und uns mit allem, was entscheidend ist, hinter unseren Wohnungstüren und hinter unserem Lächeln verschanzen.« Bei einem der zahlreichen Plena in ihrem Gemeinschaftshaus macht sie nun das stets so Hochgelobte: sie redet. Reden löst ja schließlich alle Probleme. Sie redet und eckt an. Geheuchelte Offenheit, Scheinwelt »Toleranz«. Rückzug. Reden ändert eben doch nichts, oder etwa doch? Fest steht: Das Verständnis vom Reden ist verfälscht, Reden wird inflationär – es muss umgeschrieben werden.

Mit Zynismus, nackter Ehrlichkeit und teilweise makabren Erkenntnissen lässt Anke Stelling die Gedanken ihrer Protagonistin sprechen. Ihr Schreiben ist lebendig, wahrhaftig und hat vor allem eines: viel Herz. Sandra beweist letztendlich den Mut, Schwäche zu zeigen und Erklärungen abzugeben, die so manche Vorzeigemutti in die Knie zwingen würde. Es folgt das gefürchtete Wegkippen. Und trotzdem gibt sie ihre Vision, dass Gemeinschaft und Einheit etwas Schönes, Machbares sind, nicht auf: »Ich weine nur deshalb, weil ich an meine Sehnsucht erinnert werde, etwas zusammen zu machen. An meine Sehnsucht nach der Kraft, die darin liegt, sich einig zu sein.« Sandra bleibt dabei stets Realistin, denn sie weiß, dass diese Sehnsucht in erster Linie eine Sehnsucht bleiben wird.

Artikel online seit 14.05.15

 

Anke Stelling
Bodentiefe Fenster
Roman
Verbrecher Verlag
Hardcover, 256 Seiten
19,00 €
9783957320810

Leseprobe


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