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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Zimtwecken und verlorene Utopien im Neubau

Anke Stelling zeigt in ihrem fünften Roman »Bodentiefe Fenster«
die Schwierigkeiten des Balanceakts zwischen Muttersein und Frausein
und warum manche Probleme nicht mehr durch Reden zu lösen sind.

Von Maxi Weber

Sandra ist 41, Journalistin und lebt mit ihrem Mann Hendrik und ihren zwei Kindern Lina und Bo im sechsten Stock eines Gemeinschaftshauses in Berlin Prenzlauer Berg. Sie hat sich das so ausgesucht, denn sie gehört zu einer Generation von Frauen, die die Möglichkeiten haben, sich ihr Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten. Sie kann Zimtwecken backen, sodass es in ihrer Wohnung wie in Bullerbü riecht, hat ein Baumhaus im Garten, ist freiberuflich unabhängig und hat ihre besten Freunde direkt um die Ecke. Wie idyllisch könnte man Sandras Leben nicht beschreiben... Doch das wäre nur die Außenansicht.

»Ich bin wie meine Mutter.«

»Einer ist keiner, zwei sind mehr als einer«, »Gemeinsam sind wir stark« und »Diese Welt ist veränderbar« – das sind die Maxime, die ihr ihre Mutter seit der Kindheit predigte. Erzogen von der 68er-Generation haben Sandra und ihre Altersgenossinnen linksliberale und bürgerliche Werte mit der Muttermilch aufgesogen und gelernt, dass man über alles diskutieren kann und sollte. Nun aber muss Sandra beobachten, wie die Utopien verloren gehen, der Alltag Überhand nimmt und ihr Umfeld an den morbiden Strukturen der Gemeinschaft zugrunde geht.

Sandra beurteilt, wird beurteilt und hinterfragt sich vor allem selbst. Sie ist inmitten einer Gesellschaft, die sie nicht nur durch die bodentiefen Fenster sehen, sondern auch durch die pappdünnen, selbst hochgezogenen Wände hören kann.

Das Makabre im Alltäglichen

Sandra ist zum Geburtstag ihrer alten Kinderladenfreundin Tinka eingeladen. Diese Geburtstage sind immer groß, das ist eine Tradition. Dort gibt es nicht nur Himbeertorte, Sandras Zimtwecken, gedeckten Apfelkuchen und Prosecco, sondern auch noch Kindergeschrei und unterdrückte Streitereien. Das war schon damals so, als ihre Mutter Marlies an den Kindergeburtstagen ihr Haus regelrecht in eine Villa Kunterbunt mit Pudding und Schokoküssen verwandelte. Marlies, damals eine gute Freundin von Sandras Mutter, wollte ihren Kindern immer das bieten was sie selbst nicht hatte und dafür tat sie alles. Marlies backte Kuchen, zog in den Keller, zog wieder hinauf, und wurde schlussendlich depressiv.

Eine weitere Person, von der Sandra erzählt, ist ihre Studienfreundin Isa, eine eigentlich selbstbewusste Frau, die sich aus unerfindlichen Gründen nicht von ihrem Mann trennen kann, der von ihr noch Essensgeld für die drei Monate verlangt, in denen sie nach der Geburt des zweiten Kindes nicht arbeiten konnte. Eines Weihnachtsfestes schickte er sogar eine SMS aus seinem Zimmer, dass er doch nicht an den Festlichkeiten in der Küche teilnehmen würde. Seine Kinder aus der ersten Ehe waren bei der Exfrau und für die Gemeinsamen mit Isa hatte er nicht viel übrig.

Eine von Sandras größten Ängsten ist, dass ihre Tochter und sie einmal ein so schlechtes Verhältnis haben würden, wie ihre Schwester zu ihrer Mutter. Ihre Schwester Wiebke, die stillschweigend hinnimmt, dass ihr Ehemann einem befreundeten lesbischen Paar bei deren Kinderwunsch unter die Arme greift. Wiebke kann sich nicht einmal in einer Diskussion um den Sinn von Socken im Winter gegen eine Zweijährige durchsetzen. Sandra geht sogar so weit, ihr ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom zu attestieren und fürchtet, dass sie den Kindern etwas antun könnte.

Dies sind nur drei der mehr tragischen als komischen Geschichten aus Sandras Umfeld, die in einer Vielzahl von ihr auf eine trockene und doch berührende Art und Weise erzählt werden. In »Bodentiefe Fenster« nutzt Anke Stelling die Möglichkeiten die ihr das Buch zulässt und spielt mit Absätzen um ihre Gedanken zu visualisieren. Manchmal wirken die Alltagsgeschichte lang, doch dann erschrecken einen makabre Zwischenfälle, die sich nahtlos in die Beschreibungen des Duftes von Kinderhaar eingliedern. Der Leser folgt Sandra in ihrem inneren Monolog und ist sich manchmal nicht mehr sicher, ob all die Dinge wirklich passieren oder nur ihren Angstvorstellungen entspringen. »Dieser Aberglaube ist Teil des mütterlichen Wahnsinns, deshalb können Mütter nicht mehr damit aufhören, sich Tag und Nacht Fürchterliches auszumalen: weil wir denken, es damit gleichzeitig zu verhindern.«

Anke Stelling, Meisterin des ironisch-makabren Alltagsgeplänkels, wurde 1971 in Ulm geboren und wuchs in Stuttgart auf. Wie auch ihre Protagonistin ist die Exil-Schwäbin dem Lockruf nach Berlin gefolgt und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einem Gemeinschaftshaus in Berlin Prenzlauer Berg. Bereits bekannt wurde sie durch die in Zusammenarbeit mit Robby Dannenberg erschienenen Romane »Nimm mich mit« und »Gisela«, der 2004 sogar verfilmt wurde; sowie ihre eigenen Werke »Horchen« und »Glückliche Fügung«.

»Zwischen Aufbruchsangst und Freiheitsliebe: krank«

Mit »Bodentiefe Fenster« dockt Anke Stelling an das Lebensgefühl der heutigen Mütter und deren Balanceakt zwischen dem Muttersein und Frausein an. Sie nähert sich diesem Thema mit einer charmanten Leichtigkeit und gnadenlosen Ehrlichkeit, sodass es Eltern sicher nicht schwer fällt, sich in Sandra hineinzuversetzen, wenn sie beispielsweise über ihren dreijährigen Sohn Bo denkt: »Ich will in Ruhe kochen, ich mag mich nicht unterbrechen lassen, ich hasse es, wenn einer ständig an mir zieht.«

Stellings Roman besticht durch seine Authentizität. Jeder kennt Frauen wie Marlies und Isa oder hat vielleicht eine Schwester wie Wiebke. Gerade die detaillierten kleinen Geschichten und Einzelschicksale, die sich zu einer Diagnose ihrer Generation manifestieren, bereichern das Buch und ziehen die Leserinnen in ihren Bann. Anke Stelling überzeugt mit ihrem neuen Roman, in dem sie die Sprache einer Generation von Frauen spricht, die ihre Kinder aus pädagogischen Gründen Schlitten fahren lassen und sich Wohl oder Übel langsam eingestehen müssen, dass man nicht alle Probleme im Stuhlkreis lösen kann und für bodentiefe Fenster ein »schlüssiges Gesamtkonzept« braucht.

Artikel online seit 14.05.15

 

Anke Stelling
Bodentiefe Fenster
Roman
Verbrecher Verlag
Hardcover, 256 Seiten
19,00 €
9783957320810

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