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Literatur und Zeitkritik


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Wir sind alle Kannibalen

In seinen Essays ordnet Claude Lévi-Strauss Ereignisse in einen Kontext,
der weit über nur eine Gesellschaft und nur eine Denktradition hinausreicht.


Von Patrick Wichmann

 

Weitestgehend abgeschlossen war das Œuvre des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, als ihn ein Angebot ereilte, das er dann doch nicht ablehnen wollte: Als Essayist arbeitete er ab 1989 für die italienische Zeitung »La Repubblica« – und das auch noch, als er 1993 sein wissenschaftliches Werk mit der Publikation von »Regarder, écouter, lire« (1995 auf Deutsch als »Sehen, Hören, Lesen«) vollendet hatte. 16 Artikel erschienen von Lévi-Strauss bis zum Jahr 2000, weniger als anderthalb pro Jahr also. Erstmals liegen sie nun auch auf Deutsch vor, als »Wir sind alle Kannibalen«, ergänzt um den auch hierzulande bereits bekannten Essay »Der gemarterte Weihnachtsmann«.

Zunächst einmal sind die 16 Artikel Lévi-Strauss’ Kommentare zum Zeitgeschehen. In ihnen blickt er auf die Praxis der Beschneidung, auf den Tod von Lady Diana, die BSE-Ausbreitung in den 90er-Jahren und 1991 sogar auf die Präsentation seines eigenen Buches »Die Luchsgeschichte«. So weit, so gut, so unspektakulär. Bemerkenswert sind dann aber die Volten, die Lévi-Strauss von diesen Ereignissen ausgehend schlägt. Immer wieder bilden sie nur den Ansatzpunkt teils virtuoser Überlegungen: So erkennt er in der Trauerrede Charles Spencers, der nach dem Tod seiner Schwester Diana das Königshaus kritisierte und offerierte, die Erziehung der jungen Prinzen zu übernehmen, ein ihm altbekanntes Motiv: die Rückkehr des Onkels mütterlicherseits. Und schon ist Lévi-Strauss wieder dort, wo er sich wohlfühlt und auskennt, im Bereich von Traditionen und Mythen: »In wessen Namen könnte er darauf Anspruch erheben, ohne eine Verwandtschaftsstruktur wieder aufleben zu lassen, die einst in den menschlichen Gesellschaften vorherrschend war, die aus der unseren verschwunden zu sein schien und die dank einer Krise den Akteuren von neuem bewußt wird?«

Das ist das Prinzip der 16 Essays: Ereignisse einzuordnen in einen Kontext, der weit über nur eine Gesellschaft und nur eine Denktradition hinausreicht. Im titelgebenden Essay etwa widmet sich Lévi-Strauss 1993 der Kuru-Krankheit in Papua-Neuguinea, die mutmaßlich ihren Ursprung im Kannibalismus hat, und dem vermehrten Auftreten von Fällen der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, das möglicherweise mit der Transplantation von Gehirnmasse zusammenhing. »Vielleicht wird man sich gegen diesen Vergleich verwahren. Doch welch wesentlicher Unterschied besteht zwischen dem oralen Weg und dem Weg über das Blut, zwischen dem Verzehr und der Injektion, um einem Organismus etwas von der Substanz eines anderen zuzuführen?« Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: »Wir sind alle Kannibalen.«

Noch weiter geht Lévi-Strauss drei Jahre später, im Folgeartikel »Die kluge Lektion des Rinderwahnsinns«, in der er den Verzehr von Fleisch grundsätzlich als nur eine Zwischenstufe der gesellschaftlichen Entwicklung ausmacht: »Denn der Tag wird kommen, an dem der Gedanke, daß die Menschen der Vergangenheit zu ihrer Ernährung Lebewesen züchteten und abschlachteten und ihr Fleisch in gefälligen Portionen in den Schaufenstern ausstellten, sicher den gleichen Widerwillen einflößen wird, wie den Reisenden des 16. oder 17. Jahrhunderts die kannibalischen Mahlzeiten der amerikanischen, ozeanischen oder afrikanischen Wilden.«

Lévi-Strauss’ Blick ist unbestechlich, allenthalben ordnet er ein, sucht und findet Analogien quer durch Zeiten und Kulturen. Statt zu (ver-)urteilen, beleuchtet er viele Dinge von einer anderen Seite – und sorgt damit immer wieder für Verwunderung beim Leser, durchaus auch über die eigene Engstirnigkeit. Dabei ist »Wir sind alle Kannibalen« aufgrund der Vielgestalt der Themen vor allem ein Beweis der Flexibilität des Denkens von Claude Lévi-Strauss und damit – wie die anderen bisher posthum erschienenen Artikelsammlungen – zugleich als Einführung in das Werk des großen Ethnologen geeignet.

Auffällig allerdings ist auch, dass der brillanteste Text im vorliegenden Band ausgerechnet keiner der 16 Essays ist, sondern eben das vorangestellte »Der gemarterte Weihnachtsmann«. Diesen leitet er aus den Mythen der Welt ab, aus den römischen Saturnalien, klar, aber eben auch aus indianischen Riten, ehe er Parallelen zu Halloween zieht: Und plötzlich erscheinen die Kinder als Tote, deren Zorn es mit Geschenken zu besänftigen gilt.

Einordnen, Grenzen sprengen, um Verständnis werben – das ist es, was der vor sechs Jahren verstorbene Claude Lévi-Strauss Zeit seines Lebens getan hat. Das ist es, was die Texte in »Wir sind alle Kannibalen« prägt.

Artikel online seit 14.08.15
 

Claude Lévi-Strauss
Wir sind alle Kannibalen
Mit dem Essay »Der gemarterte Weihnachtsmann«
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
252 Seiten
26,95 EUR.
978-3-518-58613-6

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