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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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X, Y, Z … Helikopter Eltern aufgepasst!

Zehn Jahre nach ihrem Erfolgsroman »Ohio« erzählt Ruth Schweikert
anhand von Familienschicksalen dreier Generationen einfühlsam
»Wie wir älter werden«.

Von Mareike Springer

Als überbehütet, verwöhnt und unselbständig wird die Generation Y, also die der 80er und 90er Geburtsjahrgänge, häufig bezeichnet. In diesen Tagen kann man einiges über sie lesen, sie sollen so anders sein, als die Generationen vor ihnen – vor allem im negativen als im positiven Sinne. Doch lässt sich das Phänomen der »Helikopter Eltern«, welches als häufige Ursache für diese Merkmale genannt wird, nur auf diese Generation beziehen? Nach Ruth Schweikerts neuem Roman »Wie wir älter werden« eindeutig nicht.

Dass sich eine Generation von der Vorherigen oder der Nachfolgenden unterscheidet, ist nicht ungewöhnlich. Erziehung, Lebensumstände und Herausforderungen, denen man beruflich und privat begegnet, beeinflussen das Leben jedes Menschen, wie Schweikert einfühlsam schildert.

Geht man nach der chronologischen Reihenfolge der Jahrgänge und dem Aufbau des Buches, muss mit der Mature-Generation begonnen werden, also der Geburtsjahre 1933-1945. So dreht sich das erste der fünf Kapitel, verteilt auf 267 Seiten, um den 87-jährigen Jacques und seine pflegebedürftige Ehefrau Friederike. Den Umständen entsprechend sind diese gerade in eine altersgemäße Wohnung gezogen. Jaques kämpft mit Husten, chronischem Hunger und Hüftproblemen, während Friederike nur noch mit sich und ihrer Konzentration, nicht zu fallen, ringt. Täglich muss sie Abschied nehmen, wie von ihrem Hobby, dem Chor. Von außen kommende Anregungen, wie das Singen, kann sie nicht mehr wahrnehmen, ihre Aufmerksamkeit schenkt sie allein dem Versuch, ihr Arrangement mit Jaques zusammenzuhalten und der Beschäftigung mit ihrem eigenem Tod. Beispielhaft, wenn man die Kriegszeit, in der sie aufwuchs, bedenkt. Ob auf dem Schlachtfeld draußen oder im ehemals behüteten zu Hause, war das Überleben zu dieser Zeit das einzige Ziel. Für heutige Generationen sind derartige Umstände nur schwer nachvollziehbar. Die bedrückende Wärme, die Friederikes und Jaques Kindern und Enkeln bei Besuchen entgegenschlägt, wird beim Lesen förmlich spürbar. Mit jedem Gang in die Wohnung nimmt Schweikert Leser(innen) mit in eine Höhle, in der im wahrsten Sinne des Wortes dicke Luft herrscht. Schnell wird klar, dass hinter dieser nicht nur der Heizofen und die Wollsocken, sondern viel mehr Lügen und Geheimnisse stecken, interne Faktoren also, keine externen.

»Die Wölfe, die Bedrohungen und Gefährdungen die Angriffe in seinem und auf sein Leben waren nie von außen gekommen, sondern hatten ihren Ursprung, die verborgene Höhle, in der sie heranwuchsen, stets in ihm selbst gehabt.«

Im Laufe des Romans kreuzen sich die Wege dieser Wölfe der drei Generationen, prallen nahezu aufeinander. Die Konflikte sind unübersehbar. Hauptsächlich werden diese aus den Blickwinkeln der Protagonistinnen Kathrin und Iris erzählt. Zwei (Halb-) Schwestern, die allerdings erst im Laufe ihres Lebens voneinander erfahren. Der Reihe nach:

Wie die Autorin, ist die Protagonistin Kathrin 1964 geboren, also während des Übergangs der Baby-Boomer zur Generation X. Sie ist die leibliche Tochter von Friederike und Jaques und hat noch zwei Brüder, Johannes und Sebastian. Wie der Name der Zeitperiode es schon verrät – Babys boomten. Dass es bei Jacques nicht bei diesen drei Kindern geblieben ist, überrascht daher wenig. Mit seiner Geliebten Helena zeugte er zwei weitere Kinder. So ist Kathrin fast gleichzeitig mit Sabine auf die Welt gekommen, von der sie allerdings erst viele Jahre später etwas erfährt sowie auch von ihrer weiteren Halbschwester, Iris. Die Mädchen wuchsen mit Helena und ihrem Mann Emil auf. In der erzählten Zeit haben alle bereits Enkel.

Wer bis hierhin mitgekommen ist, kann erahnen, wie groß das Netz ist, dass Schweikert in ihrem Roman gestrickt, beziehungsweise verstrickt hat: im Jahr 1964 der erzählten Zeit schlossen die zwei Kriegspaare einen Pakt, den

»Pakt des lebenslangen Schweigens zum Schutz ihrer Kinder, die in intakten Familien aufwachsen sollten, in denen alles seine Richtigkeit hatte, vor Gott und der Welt und den Nachbarn».

… Ein Pakt mit Wölfen, wie sich im Laufe der Handlung herausstellt, denn natürlich treffen die Kinder auf all die Lügen und Geheimnisse, vor denen ihre Eltern sie behüten wollten. Der vorgetäuschte Tod von Jaques, als er bei Helena war, die Tatsache, dass Emil nicht Iris leiblicher Vater ist – Wölfe überall. Schweikert beschreibt die Begegnungen mit ihnen weder vorwurfsvoll noch wütend, viel eher sensibel und einfühlsam. Ein Gefühl der Verwirrung entsteht. Bei den Protagonistinnen und beim Lesen ihrer Gedanken.

Erweitert wird Schweikerts Netz durch Nebenfiguren wie Freund(innen) der Protagonist(innen), Nachbarn und irgendwann sogar durch Ärztinnen. Es fällt schwer, den Überblick zu behalten, denn auch von ihren Geschichten, wie der von Frau Seiffert und ihrem Sohn Thomas, berichtet Schweikert. Grundsätzlich ist dies nicht verwerflich, denn bekanntlich hat jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen – doch vor dem Hintergrund der immensen Größe, die Schweikerts Netz besitzt, sorgen diese Nebengeschichten nur noch für mehr Verwirrung. Man ist geneigt, weiterzublättern oder zu überblättern, um mehr über Iris und die anderen zu erfahren, denn sie und Kathrin, als Vertreterinnen der Generation X haben durchaus genug zu erzählen. Thematisiert werden zum Beispiel die finanzielle Abhängigkeit von Eltern, die selbst im Reichtum geboren wurden sowie das Scheitern, sich und seine Kinder aus eigener Kraft ernähren zu können. Der Vorwurf an Eltern, weggeschaut zu haben als das Böse die Welt regierte, abgehauen zu sein, ohne Stellung zu beziehen - Wölfe über Wölfe.

Auch der Generation Y laufen sie über den Weg. Vertreten wird diese durch Brennan, Iris Sohn, der zum Erstaunen aller, einfach nur unabhängig sein will. Er ist derjenige, der sich vor allem von der finanziellen Abhängigkeit seiner Mutter distanzieren möchte, nicht leben möchte wie sie:

»ich lasse es nicht zu, dass du mich einlädst, es stinkt, das Geld das du von deiner Mutter geerbt hast, es stinkt zum Himmel«.

Und da sagt noch einer, die Generation Y sei nicht dazu in der Lage aus eigener Kraft ihr Leben zu meistern…

Schweikert zeigt, dass es letztendlich für Kinder jeder Generation eine komplexe Angelegenheit ist, erwachsen zu werden und sich zu lösen und Eltern nur selten aufhören, sich um ihren Nachwuchs zu sorgen – unabhängig von dessen Alter. Sie neigt dabei zum Verschachteln ihrer Sätze sowie einzelner Handlungsstränge. Für zeitliche Einordnungen sind die zahlreichen Verknüpfungen mit historischen Ereignissen, wie der Mondlandung 1968, den olympischen Spielen in München 1972 und dem Attentat auf Utøya 2011 daher hilfreich.

Wer es geschafft hat, sich durch Schweikerts Netz aus Beziehungen, Geheimnissen und Lügen durchzukämpfen wird vermutlich erstmal durchatmen müssen, wenn die letzte Seite gelesen ist. Doch ist es nicht genau das, was das Leben ausmacht? Es unterliegt nun einmal oft Unabsehbarem und genau das zeigt Schweikert. Sie schreibt trotz der Verschachtelungen klar und knapp, weswegen es schwerfällt den Roman zur Seite zu legen, wenn man den roten Faden erst einmal erwischt hat. Einzig und allein die Frage, welchen Wölfen Generation Z begegnen wird, bleibt offen – vielleicht hat Schweikert in zehn Jahren darauf eine Antwort.

Artikel online seit 29.07.15
 

Ruth Schweikert
Wie wir älter werden
Roman
S. Fischer Verlag
Hardcover
€ (D) 21,99| € (A) 22,70 | SFR 31,50
978-3-10-002263-9

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