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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Spurenlesen in der Lüneburger Heide

Henschel/Kromschröders kleine norddeutsche »Landvermessung«

Von Wolfram Schütte

 

Der 1962 in Hamburg geborene Schriftsteller Gerhard Henschel und der 1941 in Frankfurt am Main geborene Journalist & Photograph Gerhard Kromschröder sind miteinander befreundet, beide schätzen sowohl Arno Schmidt als auch Walter Kempowski. Im September 2015 haben sie sich in Bargfeld (Kreis Celle) getroffen, um in zehn Tagesmärschen die rund 200 km von Arno Schmidts winzigem Wohnhaus zu Kempowskis weitläufigem Anwesen in Nartum (Nähe Bremen) quer durch die Lüneburger Heide zu gehen. Es wurde eine entspannte Wanderschaft & keine ehrfürchtige Pilgerfahrt, wenn sie auch angeregt wurde durch einen Satz des Dorfschullehrers Kempowski, der Henschel 1986 geschrieben hatte: »Eine Tour, die in Bargfeld beginnt, sollte in Nartum enden«.

Unter dem auf eine Passion des frühen Schmidt anspielenden Titel »Landvermessung« (& einem Foto, das ein berühmtes von Arno Schmidt imitiert) haben die zwei Gerhards ihre gemächlichen Ortsbegehungen &-besichtigungen nun als ebenso amüsantes wie verstörendes Buch in Wort & Bild vorgelegt. Es dürfte nicht nur für die Liebhaber oder aficionados der zwei genannten Autoren von Fan-Interesse sein, weil Schmidt/Kempowskis enge Verbundenheit mit der einsamen ländlichen Gegend zur Folge hatte, dass einige Erzählstücke der beiden literarischen Einzelgänger dort spielen. Das Buch ist deshalb speziell für »Schmidt-Fans« wegen der ikonographischen »Vermessungen« Kromschröders wertvoll, der viele Kuriosa & bauliche Eigenheiten der Dörfer, Kleinstädtchen & Gehöfte, Häuser oder Tümpel, Moore, Alleen & Reklameschilder auf dem Weg durch die Lüneburger Heide mit seiner Kamera festgehalten hat; mehr noch aber für jeden anderen Leser durch Henschels 10 Texte einer exemplarischen deutschen Geschichtskunde, die von Kromschröders opulenten fotografischen Fundstücken umrahmt werden.

Während der passionierte Fotograf auf seiner Pirsch nur die Augen aufhalten musste, um im Sichtbaren vielfältig »fündig« zu werden, fiel dem Schriftsteller Henschel der größere Aufwand zu, um zum historischen Unterfutter der Gegend zu gelangen. Henschel ist ein ausgepichter Rechercheur, der alle journalistischen Register zu ziehen versteht. Sein »Wandertagebuch« verweilt weniger bei der literarischen Schilderung der launigen Fußreise der beiden (& was sie dabei alles erlebt & gesehen haben), als dass Henschel in Bibliotheken & im Internet geforscht hat, um gewissermaßen die »geheime« oder verschwiegen/vergessene Geschichte der Gegend zwischen Winsen an der Aller, Bad Fallingbostel, Walsrode, Visselhövede & Rotenburg an der Wümme essayistisch zu beschwören.

Etwas zu häufig breitet Henschel die aus Chroniken oder historischen Reiseberichten die bis ins vergangene Jahrhundert reichende Armseligkeit, Abgeschiedenheit & Unheimlichkeit von Heide-Land & »Heidjer«-Leuten aus. So befremdlich diese einzigartige Gegend in Deutschland von jeher war, so populär wurde sie dank des tief-reaktionären dichtenden Försters Hermann Löns. Arno Schmidt hatte es unmittelbar nach Kriegsende als Dolmetscher der britischen Besatzungsmächte hierher verschlagen & seine »Nobodaddy´s Trilogie« in dieser Gegend als Robinsonstraum einzelner Gesellschaftsflüchtiger lokalisiert – bevor er dann endgültig in Bargfeld sich bis zu seinem Lebensende »vor der Welt verschließen« konnte.

Aber nicht nur der napoleonische Fahnenflüchtige oder der fiktive »Innere Emigrant« Heinrich Düring haben sich in der unwegsamen Heide versteckt – wie Schmidt in »Aus dem Leben eines Fauns« erzählt; auch der Exekutor der »Endlösung«, Adolf Eichmann, & sein oberster Dienstherr, Heinrich Himmler, hatten nach dem Ende des 2.Weltkriegs hier anonym eine erste Zuflucht gefunden. Wo auch immer die Zwei Gerhards zwischen Bargfeld & Nartum aufkreuzen, stoßen sie auf mörderische deutsche Geschichte - & erinnern daran, wider die zumeist am jeweiligen Ort verdrängte Vergangenheit, z.B. dem Stalag für sowjetische Kriegsgefangene, von denen mehr als 30.000  hier zu Tode kamen, ganz zu schweigen von jenem Todesmarsch, dessen Weg gesäumt war von den auf ihm Totgeschlagenen. Das von den Briten befreite KZ Bergen-Belsen liegt auch auf dem Weg der beiden Heide-Geher.

Das angesichts einer unspektakulären Landschaft erschütternde sozialpolitisch-historische Geschehen, das Henschel vielerorts an Menschen, Orten & Ereignissen aufleben lässt, ist jedoch nur eine der mehreren Facetten seiner Prosa. Schließlich wird er ja mit seinem mittlerweile sechsbändigen Zyklus autobiographisch-zeitsymptomatisch verdichteter Romane als Nachfolger & Fortsetzer von Kempowskis »Deutschen Chronik« geschätzt. Gerd Henschels umfängliches Erzählwerk, das von der Liebesgeschichte der eigenen Eltern bis zum Werden des Künstlers reicht, wäre ohne eine gehörige Portion Ironie & Humor beim Evozieren des Alltags der »kleinen Leute« nicht so weit & erfolgreich gediehen. Auch beim Gang durch die Heidelandschaften & deren heutige Denkwürdigkeiten kommt immer wieder Henschels trockener Humor zu Wort, z.B. als er bemerkt, dass in einem Gatter am Ortsausgang eines Dorfs »merkwürdigerweise ein Lama und ein Zebra umher trabt« - & er zu dem exotischen Anblick meint: »Die haben sich wohl im Kontinent geirrt«.

Kurz: auch diese unscheinbar-unspektakuläre Gegend steckt voller Merk-& Denkwürdigkeiten – die entdeckt & aufgedeckt werden von zwei hierher Gelaufenen, die die Augen aufgehalten haben & schmidt-fleißig archivalisch tätig geworden sind. Und ihre Expedition in die Lüneburger Heide zu einem ebenso unterhaltsamen wie eindringlichen Forschungsbericht verdichtet haben.  

Artikel online seit 03.10.16
 

Gerhard Henschel (Text) / Gerhard Kromschröder (Fotos)
Landvermessung
Durch die Lüneburger Heide von Arno Schmidt zu Walter Kempowski – Ein Wandertagebuch.
224 Seiten, ca. 250 farbige Abbildungen, Format 22,5 x 25 cm,
Edition Temmen, Bremen 2016
24.80 €

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