Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 



Der Traumzerstörer

Richard Yates grandioser Roman »Cold Spring Habor«

Von
Jörn Birkholz
 

Richard Yates hat mit seinem in Amerika bereits 1986 erschienenen siebten und letzten Roman »Cold Spring Harbor« (herausgegeben von DVA) abermals ein gnadenlos ehrliches amerikanisches Zeitportrait geschaffen - angesiedelt Anfang der vierziger Jahre – in dem seine Helden aus ihren, oft durch klischeehafte Hollywoodfilme inspirierten Traumvorstellungen von einem glücklichen, erfolgreichen und aufregenden Leben schnell zurück in die bittere Realität katapultiert werden. Yates versteht es mit präziser und oft lakonischer Sprache die schlichten Lebensillusionen seiner Protagonisten immer wieder schonungslos in sich zusammenfallen zu lassen. »Der Arzt schrieb 'untauglich' auf einen Vordruck und biss gierig in das Brot.«

Da haben wir Charles Shepard, ambitionierter ehemaliger Armeeoffizier, dessen heldenhafte militärische Karriere, 1918 mit dem Waffenstillstand von Compiègne, beendet war, bevor sie überhaupt begonnen hatte, was ihn zwang, mangels Krieg zeitlebens Bürotätigkeiten zu verrichten. Ferner seine Gattin Grace Shepard, eine labile Frau, die zahlreiche Nervenzusammenbrüche inclusive Klinikaufenthalte zu verbuchen hat, und die rund um die Uhr von ihrem Mann um- und versorgt werden muss. Ihr einziger gemeinsamer Sohn ist Evan, aggressiv »…wie er einem kleinen Jungen mit einem Ziegelstein ein Loch in den Kopf geschlagen hatte» und stumpf wie ein Stück Holz, der außer mit seinem Wagen durch die Gegend zu donnern, mit seinem jungen Leben nichts wirklich anzufangen weiß und dessen einzige positive Merkmale sein attraktives Äußeres und seine gute Motorik sind. »Ach, es ist immer schon eine Freude zu beobachten, wie du gehst, wie du dich drehst und bewegst« hatte es Evans erste Freundin Mary zusammengefasst, die er in jungen Jahren (sie war noch auf der High School) schwängerte und dann heiratete, und von der er sich bereits achtzehn Monate später wieder scheiden ließ.

Der weitere Plot ist schnell erzählt: Auf einer gemeinsamen Fahrt nach New York haben Vater und Sohn eine Panne und stranden zufällig bei der alleinerziehenden, einsamen und trinkfesten Gloria Drake - eine Frau, die noch immer glaubt, dass ein gesellschaftlicher Aufstieg bald zu schaffen sei, während sie bereits fast ganz unten angekommen ist - und ihren zwei Kindern; dem verweichlichten Sohn Phil »Der Junge hatte die Katze auf dem Schoß, streichelte und kraulte sie … und war offenbar noch zu jung um zu wissen, wie schwuchtelhaft das aussah.« und der schüchternen aber hübschen Tochter Rachel. Evan verguckt sich sofort und auch um Rachel ist es geschehen.

Schon diese erste Begegnung in der Wohnung von Gloria Drake wird von Yates sehr treffend skizziert und zeigt im Grunde sämtliche Facetten ihres trostlosen Lebens, in das sich Vater und Sohn zufällig verirrt haben. »Sie trat einen Schritt zurück, um die beiden in ihrem düsteren Wohnzimmer willkommen zu heißen, wo es nach Katzenkot, Kosmetikcreme und Essen roch, und Charles begriff sofort, dass er einen netten, vom Pech verfolgten Menschen vor sich hatte. In New York wimmelte es von solch armseliger Vornehmheit (…) Falls sie früher mal gut ausgesehen hatte, war davon nichts mehr übrig (…) Ihre ganze Sitzhaltung deutete auf das bange Verlangen hin, gehört zu werden (…) Sie war bereit, ihr Herz an wildfremde Leute zu verschenken, die von der Straße hereingeschneit kamen.« 

Nach ein paar Rendezvous kommen Rachel und Evan zusammen, wenn auch Rachel anfangs aus Angst und Nervosität nicht ansatzweise fähig ist, sich ihrem ersten wirklichen Freund sexuell hinzugeben, aber dennoch, oder gerade deswegen wird geheiratet. »Zu dem Zeitpunkt habe ich mir einfach gedacht: Okay, was soll`s? Warum nicht sofort heiraten, das mit dem Sex wird sich dann irgendwann von allein einspielen.« Was auch nicht ganz falsch gedacht war, denn schon kurz nach ihrem Einzug in ein eigenes Heim wird auch Rachel schwanger. Beide ziehen zusammen in ein von Gloria Drake ausgewähltes Häuschen im idyllischen Örtchen Cold Spring Harbor auf Long Island. Aufgrund des begrenzten Budgets der Familie nistet sich die Mutter gleich mit ein, die außerdem noch ein Auge auf Evans Vater Charles geworfen hat. Unzufriedenheit und erste handfeste Konflikte lassen nicht lange auf sich warten. Der junge Phil kehrt über den Sommer aus der ungeliebten Privatschule zurück. Die beiderseitige Verachtung zwischen ihm und Evan heizt die bedrückende Atmosphäre im Haus noch weiter auf. »Phil wusste, dieser dumme Mistkerl würde es nie auf´s College schaffen. Dieser ungebildete, wortungewandte Autofahrende Scheißkerl würde nicht mal auf eine halbwegs anständige Stelle befördert werden. Dieses Arschloch würde den Rest seines Lebens mit all den anderen Banausen in der Fabrikhalle verbringen, und es würde ihm recht geschehen.« Weitere Eskalationen sind vorprogrammiert …

Yates durchleuchtet nüchtern das Innenleben seiner, dem Schicksal ohnmächtig ausgelieferten Helden, in all ihrer Derbheit, Traurigkeit und Abgestumpftheit. Das stetige unerbittliche Scheitern, die zerplatzenden Träume, das existenzielle Vakuum, das krampfhafte Klammern seiner Figuren an den Aufstiegsglauben sind die Kernthemen dieses sehr gut geschriebenen Mehr-Generationen-Romans, dessen einziger Schwachpunkt es ist, dass man ungefähr ab Seite siebzig bereits erahnen kann, worauf das Ganze hinauslaufen wird. Was hier aber natürlich nicht verraten wird. Aber Yates-Kenner werden wissen, dass er dem »Bitter End«, nicht erst seit »Zeiten des Aufruhrs« (der bisher einzigen Yates-Verfilmung; Regie Sam Mendes, mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio), schon immer näher gestanden hatte, als dem Happy End, und das ist wahrscheinlich auch ganz in Ordnung so.

Artikel online seit 23.12.15
 

Richard Yates
Cold Spring Harbor
Roman
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
DVA
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 240 Seiten
€ 19,99
978-3-421-04610-9

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten