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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Auf dem Weg – wohin?

Nach dem 66. Mannheim-Heidelberger Filmfestival.

Von Wolfram Schütte

 

Im Verlauf der 66 Jahre, in denen das Internationale Filmfestival stattfindet – zuerst als Mannheimer Filmwoche in einem Kino, das längst zu einem Kaufhaus geworden ist – haben sich sein Charakter, seine Form & sein Gebrauchswert mehrfach geändert. Michael Kötz, der es nach 26 Jahren nun nur noch zweimal leitet, hat es durch Enthusiasmus, Phantasie & Energie zu einem jährlichen, zehntägigen Metropolenereignis in den Universitätsstädten Mannheim mit drei & Heidelberg mit zwei Spielstätten entwickelt. Dennoch hält sich der Anteil der Studenten im überwiegend älteren Publikum in Grenzen; eher ist bei türkischen Filmen, die immer zu den interessantesten des mit dem Slogan »Weltkino« werbenden Festivals gehören, der Zustrom aus der jungen, das Straßenbild prägenden türkischstämmigen Community bemerkenswert. Offenbar ist das Filmfestival ein kinematographischer Ahnendienst der schon in Deutschland geborenen & aufgewachsenen Enkel, die neben dem Türkischen (oder Kurdischen?) sich in dem einzigartigen Singsang des ortsüblichen Dialekts über die Stuhlreihen  hinweg lautstark verständigen.

Insofern besitzt das Mannheim/Heidelberger Film-Festival eine ganz eigene Präsenz. Man nennt das heute im Ökonomie-Slang wohl sein »Alleinstellungsmerkmal«. Es gleicht keinem anderen unter den vielen, die es in Deutschlands Provinzen heute gibt. Wie lange noch? So mag sich mancher der älteren Besucher fragen, die zahlreich zur jährlichen Verleihung des Titels »Master of Cinema« gekommen waren. Diesmal wurde der 1938 geborene Ungar Istvan Szabo geehrt. Als Michael Kötz in seiner Laudatio auf Leben & Werk des großen europäischen Cinéasten zu sprechen kam, dürften dem Publikum die Reminiszenzen des Festivalleiters wie antike Nachrichten aus einer völlig abgeschlossenen Vergangenheit der Filmgeschichte geklungen haben. Es passt zum desaströsen Zustand unserer Verleihsituation, dass für Szabos weltbekanntestes, mit dem Oscar bekränztes Werk »Mephisto« kein Rechteinhaber mehr feststellbar ist.

Und was wird nach den 10 Tagen in der Metropolenregion von Rhein & Neckar mit alle den 45 Filmen aus 30 Ländern geschehen – aus denen noch bis in die Neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts deutsche Verleiher und Redakteure von ARD & ZDF sich die besten für ihre Kundschaft herausgepickt haben? Allenfalls werden einige, die womöglich hier einen Preis gewonnen haben, mit dieser Trophäe im Vorspann ihre Reise zu anderen Festivals weltweit fortsetzen. Eines unserer Kinos werden sie nie erreichen & in den öffentlich-rechtlichen Sendern werden sie auch nicht zu sehen sein.

Wenn eine postkinematographische Zeit kommt, in der diese & andere Filme über Streamingdienste in aller Welt ansehbar sein werden: wird man dann Filmfestivals wie dieses noch benötigen, bzw. besuchen? Nachdem die aktualisierte Kanonbildung – also das, was man jährlich »sehen müsste«- selbst von den großen Festivals in Berlin, Cannes & Venedig nicht mehr geleistet oder erwünscht ist & auch die Filmkritik keine selektierende, artikulierende Rolle mehr in der deutschen kulturellen Öffentlichkeit spielt, bleibt wohl als Ersatzorientierung für das (falls noch vorhanden) »interessierte Publikum« der Cinephilen nur noch, auf das »Ranking« durch erfahrene, als »seriös« erscheinende Kuratoren zu setzen.

Die aktuelle, alltägliche Lebensweise wird bestimmt von dem allseitigen Gebrauch jener Smartphones, die magisch auf ihnen herumwischende Personen hinter sich herzuziehen scheinen. Wer das augenblickliche Straßengeschehen z.B. in Mannheim mit einem eher ver- als befremdeten Blick betrachtet, könnte mutmaßen, dass die Zahl der Blinden, die den tastenden Stock durch die Leuchtfläche ihres Smartphones ersetzt haben, sprunghaft zugenommen hat. (Würde man die Bewegungen & die Bewegungs-Geschwindigkeit der Menschen auf der Straße sub specie statistisch erfassen, fielen die Smartphone-Blinden schnell durch ihre taumelnde Bewegung im Raum auf, den alle anderen zielorientiert durcheilen.)

Zu der quasi existentiellen Bindung an dieses ubiquitär vor- & zuhandene elektronische Objekt gehört die permanente Erwartung des auf ihm erscheinenden Neuen, bzw. die gleichzeitige laufende Entfernung von Vergangenem. Zeit gilt nur noch als Zukunft, die permanent erwartet wird, während Gegenwart  qua lokales Sein & lokale Zeit als lästige Akzidenz der empirischen Existenz verdrängt wird. Nie war die Metaphysik des Attentismus als Lebenselexier materialistischer präsent & allgemeiner verbreitet als in unserer gegenwärtigen Gesellschaft der von Aufmerksamkeitsdrogen Abhängigen.

Gegenüber einer solchen alltäglichen Lebensweise hat das Kino-Erlebnis schlechte Karten, es sei denn, wenn es sich zum momentanen Event verdichtet. Festivalleiter Kötz, den sein journalistisches Herkommen & seine Kritikerliebe für den Internationalen Autorenfilm jährlich dazu animieren, seinem Publikum intellektuell ins Gewissen zu reden & emotional auf die Sprünge ins Befremdliche der unterschiedlichen ästhetischen Ausprägungen des »Weltkinos« zu helfen, möchte seinen Besuchern ein »Erfahrungsfeld« auch zur »Selbsterfahrung« eröffnen. So möchte er im Blickkontakt mit jüngsten europäisch-deutschen Gesellschaftserfahrungen (Katalonien, Flüchtlinge) die Herausforderungen seiner Filme u.a. aus Argentinien, Bulgarien, Estland, Israel, Philippinen, Indien oder USA in der Dialektik von Fremde & Heimat verortet sehen. Man könne »das Fremde nur dann ertragen«, meinte er zum Schluss seiner Eröffnungsrede, »wenn man das Eigene behalten darf«. Ein Plädoyer für ein empfindliches Gleichgewicht, zu dem das Spektrum der Filme auffordert.

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Wer professionell mit dem Kino-Film seit Jahrzehnten zu tun hat, braucht offenbar die Akkumulation eines Festivals, um allgemeine Trends, Tendenzen oder Veränderungen schlagartig wahrzunehmen – selbst wenn sie sich schon einige Zeit subversiv in der Praxis ausgebreitet hatten. So begegneten einem in vielen Filmen, wie die technischen Fortschritte in den Produktionsmitteln die Darstellbarkeit & Ästhetik verändern. Und zwar sowohl in der Tiefe als auch der Höhe. Offenbar sind Kameras entwickelt worden, die unter Wasser problemlos verwendet werden können – wie & ja auch Kameras in Drohnen eine bislang unmögliche Beweglichkeit in der Höhe erlauben & Perspektivwechsel, Totalen & schwerelose Raumdurchmessungen ermöglichen, wie sie der Film bis dato, wenn überhaupt nur durch die Entwicklung komplexer Tricks erzielen konnte.

Mehr als die Hälfte der in Mannheim gezeigten Autorenfilme waren internationale Koproduktionen. Das ergibt naheliegende Kombinationen wie Argentinien – Uruguay, merkwürdige wie Estland-Island, Bulgarien-Belgien. Türkei-USA oder eine solche denkwürdig- postjugoslawische wie Slowenien – Kroatien – Italien – Serbien. Es bildet sich darin ab eine Produktionssphäre der niederen, kleinen Globalisierung. Auf eine andere Art können sich die einzelnen nationalen Kinematographien – unterhalb des Mainstreams – gar nicht artikulieren, weil sich die Produktionskosten allein in einem Land nicht amortisieren lassen.

Das führt jedoch dazu, dass narrativ die ganze Welt als Dorf behandelt wird, weil jeder Geldgeber (ob durch staatliche Förderung oder TV-Beteiligung) gewissermaßen seine anwesende Beteiligung durch Drehort oder Schauspieler beglaubigt sehen will. So sucht in »Une vie ailleures« von dem Franzosen Olivier Peyon eine französische Mutter das von ihrem geschiedenen Mann in dessen Heimat mitgenommen gemeinsame Kind, nachdem sie erfahren hat, dass der Vater gestorben ist; oder ein polnischer Kleinkrimineller fliegt von Danzig nach Sao Paulo, um dabei zu sein, wenn die unerwartete Frucht eines One-Night-Stands bei der studierenden Mutter zur Welt kommt. (Sehr stilbewußt: Daniel Leo: »Der Mensch denkt, Gott lenkt«)

Der für mich ästhetisch reichhaltigste, komplexeste Film war »Zer« von Kasim Öz. Dessen zwischen den USA & Anatolien ausgespannte Erzählung entfaltete sich ebenso triftig wie poetisch als ein faszinierendes Reise-Epos. Der 1973 geborene Autor hatte schon 2009 mit einem grandiosen Dokumentarfilm über kurdische Schafzüchter den Spezialpreis der Jury in Mannheim gewonnen. Diesmal lässt er einen jungen Musiker, der als Sohn eines reichen Bankers in Chicago lebt, auf der Suche nach dem Ursprung seiner Familie bis ins hinterste Anatolien reisen. Er will wissen, woher das kleine Lied stammt, das ihm seine sterbende türkische Großmutter in einer ihm fremden Sprache vorgesungen hatte.

Auf dem ereignisreichen Weg in großartigen, einsamen Landschaften, in ein Dorf der irren Männer & zu einer dörflichen Hochzeit gelangt der junge Mann immer tiefer in die Gegenwart einer verdrängten Vergangenheit:  zur von seinen Eltern & Verwandten verschwiegenen alevitischen Herkunft in Kurdistan. Das Liebeslied, das seine Großmutter gesungen hatte, ist sowohl das letzte Zeugnis eines türkischen Kollektivverbrechens an der Kurden zu Atatürks Zeiten, wie auch das Leitfossil zur versunkenen Vergangenheit. Buchstäblich: versenkt in einem Stausee ist das Dorf, aus dem seine großelterlichen Vorfahren stammten. »Zer« endet mit einer ebenso überraschenden wie hochpoetischen Metapher: nachdem er gewissermaßen das »Rosebud« seiner Suche nach der überspülten Vergangenheit gefunden hat, springt der amerikanische Musiker in den Stausee & bewegt sich so selbstverständlich unter Wasser zwischen den versunkenen Dorfruinen wie  Stanley Kubriks Astronauten auf der Raumstation in »2001«. Die FIPRESCI-Jury hat ihren Preis an »Zer« gegeben & das Publikum hat ihn gleichfalls nominiert. Eine seltene Eintracht: auf dem 66. Mannheim-Heidelberger Filmfestival, das am 19. November zu Ende ging.  

Artikel online seit 20.11.17
 

 


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