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Das furiose Echo des Postrassismus

In eindrucksvoller Manier hält Man-Booker-Preisträger Paul Beatty
in seinem Roman »Der Verräter« der postrassistischen US-amerikanischen Gesellschaft den Spiegel vor. Ein literarischer Kristall, dessen
Strahlen die Finsternis ausleuchtet.

V
on Thomas Hummitzsch
 

»Menschen zu anderen zu machen, wird erlernt – aber nicht durch Lektüre oder Unterweisung, sondern durch das Beispiel«, schreibt Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison in ihrem Essay Die Herkunft der Anderen. Darin erklärt sie, wie Rassismus konstruiert wird und die amerikanische Gesellschaft wie ein »Echo der Sklaverei« prägt. Paul Beattys dritter Roman Der Verräter kommt wie ein Echo dieser Aussage daher. Das beginnt schon mit dem ersten Satz, mit dem der Ich-Erzähler provokant diese Erzählung eröffnet. »Aus dem Mund eines Schwarzen klingt das sicher unglaublich, aber ich habe nie geklaut.« Und dennoch sitze er nun hier, in den Katakomben des Obersten Gerichtshofs, und warte auf seinen Prozess mit dem Titel Heros gegen die Vereinigten Staaten von Amerika.

Dieses Warten bietet den Echoraum, in dem der Angeklagte von seinem Beispiel erzählen kann, dass ihn vor Gericht gebracht hat. Der Angeklagte ist der Sohn eines alleinerziehenden, farbigen und »nicht ganz unbedeutenden Sozialwissenschaftlers«, der zuhause unterrichtet und dabei für verschiedene Experimente benutzt wurde. Seine Kindheit ist eine Mischung aus behavioristischer Versuchsanordnung und Konfrontationstherapie, um am eigenen Leib zu erfahren, was Rassismus heißt. Und um aus dieser Erfahrung heraus eine Unempfindlichkeit für rassistische Muster zu entwickeln. So wurden an dem Erzähler etwa »Unterwürfigkeit und Gehorsam der Hip-Hop-Generation« getestet, indem er, elektronischen Schocks ausgeliefert, Fragen zur afroamerikanischen Geschichte beantworten muss. So absurd es anmuten mag, diese Strategie scheint zu funktionieren. Beattys Erzähler, der auf den Spitznamen »Bonbon« hört, wird aufgrund dieser und anderer prägender Kindheitserlebnisse eine ganz eigene Position zu Phänomenen wie Rassendiskriminierung und Segregation entwickeln.

Dass »Bonbons« wissenschaftsverliebtem Vater diese unbarmherzige Erziehung nicht auf die Füße fällt, ist einzig und allein seinem Ansehen in der schwarzen Gemeinschaft zu verdanken. Denn in dieser ist er als »Negerflüsterer« anerkannt, der farbigen Selbstmordkandidaten ins Gewissen und ihnen ihr Vorhaben ausredet. Doch ausgerechnet jener Flüsterer gewaltsam ums Leben. Beattys Erzähler startet daraufhin den Versuch, das von der Landkarte verschwundene Viertel seiner Kindheit am Rande von Los Angeles wiederzubeleben. Denn er sieht in der Auflösung des alten Viertels, in dem die Menschen noch entlang der ethnischen Zugehörigkeit ihrer Bewohner eine Ursache für das zunehmende Bedrohungsgefühl und daraus resultierend für den Tod seines Vaters.

Nach dem gewaltsamen Tod des Vaters wird der Erzähler den Versuch starten, das von der Landkarte verschwundene Viertel seiner Kindheit am Rande von Los Angeles wiederzubeleben. Denn er sieht in der Auflösung der entlang der ethnischen Zugehörigkeit ihrer Bewohner sortierten Wohngegenden eine Ursache für das zunehmende Bedrohungsgefühl und den Tod seines Vaters. Er zieht die alten Grenzen von Dickens – so Name des fiktiven Viertels – mit Kreidefarbe wieder nach und findet in einem gewissen Hominy Jenkins, einem erfundenen letzten Darsteller der rassistischen Fernsehserie Die kleinen Strolche, einen eilfertigen Unterstützer seines Traums von einem segregierten, aber sicheren Amerika. Ganz nach dem Motto: »Die Apartheid hatte das schwarze Südafrika zusammengeschweißt, warum also nicht auch Dickens?«

Infolge setzt »Bonbon« auf Rassentrennung und Segregation, um den Bewohnern seines gentrifizierten Viertels Identität und Würde zurückzugeben. Im Linienbus seiner Geliebten Marpessa, die er an einen ehemaligen Gangster-Rapper verloren hat, ändert er die Beschilderung, so dass man nun nicht mehr nur Senioren und Behinderten Platz machen muss, sondern auch Weißen. Für Hominys Vergnügen engagiert er eine Schauspielerin namens Laura Jane, die mit Marpessa darüber diskutiert, ob es Klasse- oder Rasseunterschiede sind, die der Chancengleichheit in Amerika im Weg stehen. Natürlich ist es beides, denn die Folgen des jahrhundertelangen Rassismus drücken farbige Amerikaner bis heute stärker in Situationen, in denen sie unfreiwillig Armuts- und Gewalterfahrungen machen.

In der öffentlichen Chaff Middle School, die seine Freundin Charisma Molina als stellvertretende Schulleiterin führt, setzt er erst auf rassengetrennten Unterricht und, als dies zu besseren Noten führt, sperrt er die Schule komplett für die letzten verbliebenen weißen Schüler. Am Ende bringt ihn all das, vor allem sein Sklavenhalterverhältnis zu Hominy Jenkins vor Gericht.

Der Verräter ist voller Ironie und Sarkasmus, dennoch ist der Roman mehr als nur eine Gesellschaftssatire, die dem rassistischen Amerika unter umgekehrten Vorzeichen den Spiegel vorhält. Es geht um so große Themen wie Hoffnung, Versagen und Verlust in der komplexen Gegenwart, die Beatty entlang des gurgelnden Gedankenstroms seines innerlich einsamen Protagonisten behandelt. Die Kritiker überschlugen sich des Lobes und Beatty erhielt 2016 als erster Amerikaner überhaupt den britischen Man Booker Prize. Ein Grund mehr, ihn nun zu entdecken. Denn wenngleich Beatty in den USA zu den sprachgewaltigsten Autoren gehört, ist sein Werk hierzulande – trotz renommierter Übersetzer – eher ein Geheimtipp geblieben. Zuletzt erschien 2009 Robin Detjes Übersetzung von Slumberland, einem furiosen Jazz-Roman, der den Erzähler, einen DJ mit phonografischem Gedächtnis, bis in Berlins Neonazi-Milieu der Post-Wendejahre führt. Zehn Jahre zuvor hatte Ulrich Blumenbach Beattys bahnbrechendes Debüt The White Boy Shuffle (dt. Der Sklavenmessias) übersetzt, das nun unter dem passenderen Titel Schlechter tanzen dankbarer Weise neu aufgelegt wird.

Wie in seinen anderen Romanen verarbeitet Vonnegut-Fan Beatty in Der Verräter die abgründige Geschichte des gespaltenen amerikanischen Verhältnisses zur rassistischen Tradition und dessen Folgen auf das Individuum. Aus der tiefen Überzeugung heraus, dass Rassismus in den USA eine fatale Konstante ist, schreibt er unwiderstehlich und mit unzähligen Referenzen gegen diese an. Der ehemalige Poetry-Slammer verwendet Slang und Jargon, greift historische Texte und politische Pamphlete der Gegenwart auf, verweist auf Werke der Weltliteratur und schreibt so geradeheraus, als wäre er immer noch der Lesebühnenstar aus den Neunzigern. Beattys popkulturhistorisch vollgestopfte Sprache hat musikalische Qualität, man meint, den trommelnden Takt eines wütenden Sprechgesangs zu vernehmen. Zugleich ist man aber immer wieder auch überfordert von Beattys spielerischem Umgang mit Sprache beziehungsweise dem, was die Übersetzung, die ohne Zweifel eine Herausforderung gewesen sein muss, in den ambitionierten deutschen Text retten konnte.

Beatty ist Herausgeber eine Studie über die Besonderheiten des afroamerikanischen Humors. Entsprechend weitreichend sind seine Kenntnisse und entsprechend tief verwoben ist die Idee des Humors in diesen abgründigen Roman. In seiner Studie schrieb er laut Paris Review of Books:»Afroamerikaner sind genauso wütend wie alle anderen Amerikaner, haben aber ein zerbrechliches Herz. Humor ist Rache. Manchmal lachst Du, um nicht zu weinen und manchmal lachst Du, um nicht zu schießen. Schwarze sind wütend auf alle, also duck Dich besser weg, denn du bist bestimmt in einer Schusslinie«, kommentiert er den auch in der deutschen Übersetzung nicht zu übersehenden Witz seines Textes. Diesen einfach nur als Gesellschaftssatire abtun sollte man dennoch nicht. »Ich verstehe schon, warum das geschieht, aber diese Kategorisierung ist doch auch nur ein Mittel, um über viele andere Dinge nicht zu sprechen«, erklärt er im Interview an selber Stelle. Natürlich gebe es Komik in seinem Buch, aber eben auch eine Menge anderer Dinge, so Beatty. Zu diesen anderen Dingen gehören Angst, Schmerz und Wut, aber auch Hoffnung, Leichtigkeit und eben Komik.

In einer Nebenerzählung des Romans geht es um den Zauber der Literatur und die Frage, welche Wirkung Sprache auf die Wirklichkeit hat. Bei Dum-Dum-Donuts diskutiert er darüber immer wieder mit dem Möchtegernintellektuellen Foy Cheshire, der Klassiker wie Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn umschreibt, indem er »das ekelhafte N-Wort durch Krieger ersetzt, das Wort Sklave durch dunkelhäutiger Freiwilliger.« In der Absurdität dieses Vorhabens stecken Witz und Ironie, aber auch die tiefe Verzweiflung angesichts der herrschenden Verhältnisse.

Man verrät kein Geheimnis, wenn man sagt, dass »Bonbon« das Amerika der Gegenwart repräsentiert. Als sein Privatsklave Hominy aber gegenüber der Staatsanwältin aussagt, dass er diesem »Master« seit 400 Jahren diene, bekommt der Roman noch einmal eine zugespitzte Deutung, die in der deutschen Übersetzung leider etwas verloren geht. Denn Beattys Erzähler heißt im Original Mister Me, der Prozess lautet »Me against The United States«. »Me«, das ist Beattys Erzähler, na klar, aber eben auch jeder Leser dieses Romans.

»Menschen zu anderen zu machen, wird erlernt – aber nicht durch Lektüre oder Unterweisung, sondern durch das Beispiel.« Toni Morrisons Erkenntnis klingt wie ein Satz aus dem Mund des Richters, der den Prozess gegen die Hauptfigur in Paul Beattys neuem Roman weise schließt. Der Versuch des Angeklagten, das Gemeinwesen durch einen Rückgriff auf Rassentrennung und Sklaverei zu erneuern, habe »ein zentrales Missverständnis in der amerikanischen Auffassung von Gleichheit enthüllt«, erklärt er in seinem Urteil. »Ist mir egal, ob du schwarz, weiß, braun, gelb, rot, grün oder lila bist. Das haben wir alle schon mal gesagt, um unsere Unvoreingenommenheit zu demonstrieren, aber würde man einen von uns grün oder lila anmalen, dann würden wir vor Wut toben. Und genau das macht er. Er malt jeden an, streicht seine Community in Lila und Grün, um zu schauen, wer noch an Gleichheit glaubt.«

»Die anderen«, von denen Morrison spricht, schaffen wir alle selbst. So lautet Paul Beattys These. Die Beispiele dafür werden jeden Tag geschaffen. In der Menge macht dies die postrassistisch-rassistische Gesellschaft der USA dieser Tage aus. Dieser brillante Roman führt das eindringlich vor Augen.

Artikel online seit 03.06.20

Der Artikel erschien zuerst bei
intellectures.de
Danke an Thomas Hummitzsch

 

Paul Beatty
Der Verräter
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens
Luchterhand Literaturverlag
352 Seiten
20,00 Euro

Leseprobe

 


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