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Überwältigendes Portrait einer Epoche

Jens Malte Fischers grandiose Biographie
»
Karl Kraus - Der Widersprecher«

Von Jürgen Nielsen-Sikora

»Ich bin nur einer von den Epigonen,
die in dem alten Haus der Sprache wohnen.
«

(Karl Kraus, Bekenntnis)

Es ist mehr als beeindruckend zu sehen, was Jens Malte Fischer zu Karl Kraus in unzähligen Arbeiten des letzten halben Jahrhunderts – in Monografien, Sammelbänden, Rezensionen, Zeitschriften- und Zeitungsartikeln seit den frühen 1970er Jahren – zu Papier gebracht hat. Die stolze 1100 Seiten umfassende Biografie mit der schönen Apostrophierung »Der Widersprecher« lässt sich insofern als die Summe seiner Kraus-Forschungen lesen. Sie nimmt alte Arbeiten auf, führt diese fort, denkt sie weiter und bettet das Leben des Herausgebers der Fackel auf äußerst elegante Weise in zeithistorische Kontexte ein.

Fischers Wissen über die Epoche des Fin de Siècle und darüber hinaus (bis zum Tode von Kraus im Jahre 1936) ist beispiellos. Das Buch wird getragen von scharfsinnigen Beobachtungen, geistreichen Querverweisen, originell eingestreuten Zitaten; die Exkurse zu kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Konstellationen sind gelehrt und doch allgemein verständlich. Einschübe zu geschichtlichen Hintergründen, persönlichen Beziehungen und bemerkenswerten Begleiterscheinungen fließen geschickt und lebhaft ineinander. Hin und wieder taucht Kraus im Text unter und bleibt dennoch stets präsent, um an entscheidender Stelle wieder ins Zentrum der Diskussion zu treten. Wie im Theater bereitet Fischer für diese Auftritte den Boden: Er führt in die Themen und Kulissen der Zeit ein, schildert die sozialen Umstände und setzt die Protagonisten meisterhaft in Szene – erst dann schickt er Kraus in die Schlacht.

Fischer verteidigt ihn gegen falsche und zweifelhafte Kritik, die er nicht nur zu Lebzeiten einstecken musste. So meldeten sich anlässlich seines 100. Geburtstages 1974 auch namhafte Kritiker wie Raddatz und Reich-Ranicki, oder Schriftsteller wie Hermann Kesten zu Wort, die Kraus entweder falsch zitierten oder ihm Positionen unterstellten, die eine saubere Quellenkunde rasch als unzutreffend ausgewiesen hätte. Dass Fischer selbst einen Vers aus dem lyrischen Rechenschaftsbericht Nach zwanzig Jahren ebenso wie die Fahrt ins Fextal gleich doppelt zitiert, ist angesichts des Umfangs der Biografie vertretbar, spannt der Text doch einen Bogen bis hinein in unsere Gegenwart und schafft eine ganze Reihe an wundervollen Höhepunkten, indem er immer wieder über den Tellerrand einer Einzeldisziplin hinausblickt und Literatur aus Philosophie, Geschichte, Kunst und Soziologie rezipiert.

Jeder Versuch, die Themenvielfalt des Buches mit seinen 37 Kapiteln auch nur annähernd rekonstruieren zu wollen, muss scheitern – viel zu komplex ist der Stoff, den Fischer ausbreitet, beginnend bei Kraus' Jugendjahren und der Wunderstadt Wien am Ende des 19. Jahrhunderts, über die Gründung der Fackel bis hin zu den Freunden, Feinden und Frauen im Leben des widerspenstigen Kritikers. Judentum und Antisemitismus, »jüdischer Selbsthass« und Zionismus, Presse und Satire, Erster Weltkrieg und Psychoanalyse, Sidonie Nádernhý von Borutin, das Theater und Berlin, die Zwischenkriegszeit und die Sozialdemokratie, Hitler und Dollfuß, Shakespeare und Nestroy, die Sprache und Kraus' Nachleben sind nur einige Aspekte, die Fischer kunstvoll miteinander verwebt und so ein immer wieder verblüffendes Panorama von Kultur und Gesellschaft vergangener Zeiten (re-)konstruiert.

Fischer geht selbstverständlich auch auf »Die letzten Tage der Menschheit« ein, widmet dem Werk ein eigenes Kapitel und kommt in der Biografie mehrmals auf das Stück zu sprechen, das Kraus selbst als »monströses Drama« bezeichnete. Es verletzte seine Zeit zutiefst durch Provokation, Parodie und Polemik, die sich unaufhörlich abwechseln. Die von Moriz Benedikt herausgegebene Neue Freie Presse wird – wie in der Fackel bereits zuvor – mehrfach scharf attackiert, ehe die Stimme Gottes angesichts der Kriegsgeschehnisse sodann im Epilog verkündet: »Ich habe es nicht gewollt.«

An Kraus ist die glanzvolle Kulturepoche der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts abzulesen. Kraus selbst war ein Sprachvirtuose. Fischer schreibt: »Die Sprache ist für Kraus eine so gewaltige Kraft, dass sie in der Lage ist, einerseits Beziehungen herzustellen, auf die man nur kommt, wenn man sich dieser Kraft der Sprache überlässt, andererseits ist sie fähig, scheinbar Abgebrauchtes, Entehrtes wieder frisch wie am ersten Tag, eben am Ursprung, zu regenerieren.«

Die Lektüre von Kraus' Texten zeigt aber auch, wie sehr man es damals noch verstand, sich auf hohem Niveau zu beschimpfen, politisch unkorrekt, manchmal recht bissig und derbe, und Gesellschaftskritik übte, die experimentierfreudig, bitterböse und tiefschürfend war.

Mit einer solchen Kritik kann ich nicht dienen: Fischer hat Kraus' Lebenszeit in seiner monumentalen und neue Maßstäbe setzenden Biografie schlichtweg grandios eingefangen. Dafür gebührt ihm vorzügliche Hochachtung, großer Dank und Respekt. Wäre das Buch ein Theaterstück, so risse es das Publikum aus seinen Sitzen und würde von tosendem Applaus getragen.

Artikel online seit 03.04.20
 





Jens Malte Fischer
Karl Kraus
Der Widersprecher
Eine Biographie Zsolnay
1104 Seiten
45,00 €
978-3-552-05952-8

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