Politik, Ästhetik und
Geschichte
Der Dramatiker Heiner Müller war als ein schneller Dichter bekannt.
Während der Pause auf der Probebühne schrieb er neue tagesaktuelle
Theaterstücke, die von seinen Schauspielern sogleich umgesetzt wurden.
Das brachte ihm den Respekt der Bühnenarbeiter ein. Müller warnte in
diesem Zusammenhang aber zugleich auch vor den Illusionen, die
Zeitgeschichte vorschnell in ein Drama zu verwandeln und beharrte immer
auch auf einer ästhetischen Distanz zum Tagesgeschehen. Etwas Ähnliches
gilt gegenüber der Phantasmagorie, die bereits Arthur Schopenhauer
benannte, nämlich die Lektüre der Morgenzeitung mit Herodots
Historien zu verwechseln. Im Strom der Fakten wie der Dialoge kommt
die Geschichte selbst zu kurz. Eine Illusion droht ebenso den Büchern,
die sich mit dem Gazakrieg beschäftigen. Auch hier geht es um einen
Übergang von Ästhetik und Tagespresse hin zu einer historischen
Einschätzung.
Es dauerte einige Monate, bis Bücher zum Gazakrieg in Deutschland
erscheinen konnten, ohne bloß Ephemeres zu liefern. Mit Wolfgang
Kraushaars Israel: Hamas, Gaza, Palästina. Über einen scheinbar
unlösbaren Konflikt liegt eines nun vor. Kraushaar hat Philosophie,
Soziologie, Geschichte und Politik an der Universität Frankfurt
studiert, und arbeitete bis 2014 in Reemtsmas Hamburger Institut für
Sozialforschung. Sein Themenspektrum, zu dem er eine Reihe von
Publikationen vorgelegt hat, reicht vom linken Terrorismus und
Rechtsradikalismus bis zu außenpolitischen Fragen. Das gilt insbesondere
dann, wenn sie wie das Verhältnis von Israel und Palästina in den
deutschen innenpolitischen Zusammenhang gehören. Kraushaar geht der
Illusion Schopenhauers nicht auf den Leim und verwechselt keinesfalls
Geschichte und Politik; er wehrt sich aber auch gegen die Vorstellung,
beide hätten nichts miteinander zu tun. Er hatte, als am 7. Oktober 2023
der Angriff der Hamas auf die israelischen Frauen, Männer und Kinder
losbrach, eine größere Arbeit über den Rechtsradikalismus in Deutschland
und die Verpflichtung des Grundgesetzes zu seiner Bekämpfung
geschrieben.
Getriggert durch die Debatten über den deutschen Antisemitismus von
rechts, von links und auch den sogenannten importierten aufgrund der
Moslems in Deutschland, setze er sich an ein Manuskript über die
Hintergründe des Gazakrieges, das den Blick auf die Politik und
Geschichte in einer produktiven Weise engführt.
Ein Handbuch des
Konflikts
Das
vorliegende Buch, wieder in der Europäischen Verlagsanstalt erschienen,
liest sich wie ein Kompendium über die Bedingung des
Israel-Palästina-Konflikts und der Attacke der Hamas. Solche Art von
Aufklärung ist insbesondere dort nötig, wo die Reaktion in Deutschland
in hilflosen Betroffenenheitsdiskursen versinkt oder die Lage in Israel,
in verfassungsrechtlicher Absicht, als eine „deutsche Staatsräson“
imaginiert wird. Sie ist aber auch bei einseitigen pro-israelischen wie
pro-palästinensischen Zuordnungen gefragt: Wo Leib und Leben und
das Überleben einer ethnischen Gruppe den einzigen Maßstab abgeben; also
das, was man seit einiger Zeit die nationale oder ethnische Identität
nennt und damit bereits an völkische Begrifflichkeit rührt. Dagegen
schreibt und argumentiert Kraushaar klar und distinkt.
Das Buch gliedert sich in fünf Teile. Im ersten erläutert er die
Vorgänge vom 7. Oktober 2023 und die Reaktion Israels auf
diese Razzia der Hamas – Razzia im Wortsinne eines arabischen
Ausfalls in das Gebiet des Gegners, um diesen auf größtmögliche Weise zu
reizen. Die folgenden Abschnitte widmen sich den historischen und
politischen Hintergründen, die den Konflikt im 19. und 20.
Jahrhundert ermöglicht haben. Dabei geht es um den Zionismus und die
Gründung des Staates Israels, die Entstehung der Bezeichnung Palästina,
die auf die Römer und neuerlich auf die englische Verwaltungsmacht
zurückgeht, die Aufteilung der Regionen in die zionistischen Kernlande,
den Gazastreifen und das Westjordanland, sowie die Entstehung der
politischen Gruppierungen der Palästinenser, insbesondere der Hamas, und
ihres Antipoden Benjamin Netanjahu. Zur Sprache kommt auch die Rolle
Nachkriegsdeutschlands als Partner Israels. Im dritten Teil geht es um
die Parolen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen.
Kraushaar widmet sich vor allen der linken postkolonialen und „woken“
Debatte, die den Umgang Israels als imperialistische Macht gegenüber
Palästina als Apartheid und koloniales Verhältnis beschreiben will. Der
Streit, welcher weltgeschichtliche Vorgang schlimmer sei, der
Kolonialismus oder der Holocaust, ist eine der aporetischen Fragen, die
in diesem Zusammenhang seit Jahren eine Rolle spielen und zuletzt bei
der Documenta Fifteen in Kassel 2022 hochgekocht war. Hieran
zeigt sich die internationale Dimension der Razzia der Hamas in
besonderer Weise. Kraushaar erkennt genau, dass es um eine Art
Schachspiel geht, bei dem die Hamas mit ihrem brutalen Ausfall einen Zug
getan hat, auf den die israelische Armee und das Kriegskabinett mit
entsprechenden Gegenmaßnahmen antworten. Woraufhin wiederum die
moslemische Welt reagiert und darauf wieder der mit Israel verbündete
Westen. Die Gewaltspirale und der unsägliche body-count setzt
sich fort.
Inzwischen haben anscheinend über 30.000 Palästinenser bei diesem
Gegenschlag ihr Leben gelassen. 2/3 der rund 2.300.000 Bewohner des
Gazastreifens sind mittlerweile umgesiedelt und ein Großteil der Gebäude
und Tunnel in Nordgaza, die den Kämpfern der Hamas auch unter
Krankenhäusern und Schulen Unterschlupf gewährten, wurden zerstört. Das
ruft eine internationale Unterstützung der Palästinenser gegen Israel
und Deutschland auf den Plan, die von der UNO, über Südafrika und
Nicaragua bis zu den arabischstämmigen Studenten und Einwohnern der USA
reicht. Aktuell gibt es Protestcamps an den großen Universitäten wie der
Columbia in New York. Zugleich schließen die deutschen Zuwendungen an
Gaza anscheinend Heldenrenten für die Angehörigen der palästinensischen
Bombenattentäter mit ein.
Kraushaars Aufklärungswille gilt in seinem Kapitel Parolen und
Narrative der deutschen Position. Angela Merkel hatte die Lage in
Israel 2015 zur deutschen Staatsräson erklärt – was immer das heißen
mag. Der israelische Historiker Moshe Zimmermann hat diese Parole scharf
kritisiert.
Wie Zimmermann wendet auch Kraushaar sich gegen eine abstrakte
uneingeschränkte Solidarität Deutschlands mit Israel, die eine
Unterstützung der rechtsradikalen Regierung Netanjahu miteinschließt. Er
optiert für einen klugen Umgang mit dem Konflikt, der zugleich einen
Rückhalt in der israelischen Opposition besitzt. Das folgt dem Willen,
nicht den rechtsradikalen Siedlern auf israelischer Seite das Wort zu
reden, sondern für Verhandlungen einzutreten und insbesondere die
Geiseln freizubekommen. Der fünfte Abschnitt berührt völkerrechtliche
Fragen, wie sie sich bereits in Kraushaars Buch über die demokratische
Verpflichtung des Grundgesetzes, den Antisemitismus und den
Rechtsradikalismus zu bekämpfen, stellen.
Hier geht es um die Behauptung, dass an den Palästinensern ein
vorsätzlicher Völkermord verübt wird, um die Hintergründe des
Antisemitismus und Antizionismus in Deutschland und darum wie sich diese
Diskussionen zum islamischen Fundamentalismus verhalten.Ein
abschließendes Kapitel fasst die Ergebnisse der verschiedenen Diskurse
zusammen.
Gegen Aporien und
Paralogismen
Kraushaars
Buch behandelt Aporien und Paralogismen, die sich aus der
Unübersichtlichkeit des Nahostkonflikts ergeben. Er erinnert an die
Geschichte des Zionismus und die Widersprüchlichkeiten der jüdischen
Siedler in Palästina und im Kampf mit der englischen Mandatsmacht. Er
erwähnt aber auch den Umgang der anderen arabischen Länder mit den
Palästinensern und die Interessenskonflikte in der Region, die sich aus
den orientalistischen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts mit den
Mandatsmächten Frankreich, England, USA und Deutschland ergeben. Was
Kraushaars Buch besonders auszeichnet, ist die Unbestechlichkeit seines
Blicks sowohl was rechte als auch linke Klischees und Parolen angeht.
Linker Antisemitismus kann zuweilen schlimmer sein als der traditionelle
von rechts. So hatten viele, der sich heute als grüne Bellizisten und
Israelfreunde gerierende Politiker, oft genug ihre Demonstration am Zaun
der jüdischen Gemeinde enden lassen. Kraushaar hat die grausige
Geschichte des nicht geglückten Bombenattentats in Berlin im November
1969 recherchiert.
In einer persönlichen Zwischenbemerkung schreibt er, dass er bereits im
Jahre 1967 einen Schulaufsatz zur Entwicklung des Nahostkrieges
geschrieben hatte. Seine Prognose war damals, dass ein zukünftiger
Nahostkrieg sich kaum vermeiden ließe. Er sollte recht behalten. Der
Nahe Osten ist und bleibt ein weltpolitisches Pulverfass. Das Buch vom
April 2024 bleibt fast sechzig Jahre später dieser Prognose treu.
Niemals Frieden?
Damit
stellt Kraushaar eine ähnliche Frage wie sie Moshe Zimmermann ein paar
Wochen zuvor in seinem Buchtitel ganz ähnlich genannt hatte: Niemals
Frieden? Israel am Scheideweg. Beide sind darin verwandt, dass sie
nach den inneren Verschlingungen der beteiligten politischen Mächte am
außenpolitischen Konflikt fragen. Sie folgen damit nicht nur Kants
Aufklärungsbegriff, sondern verstehen die Aufklärung auch als
Fortsetzung der griechischen Tragödientheorie, in nachmetaphysischen
Zeiten endlich die politische Verantwortung für das eigene Schicksal zu
übernehmen. Zimmermann sieht in der innenpolitischen Entwicklung Israels
von einer Demokratie hin zu einer religiös und rechtsradikal bestimmten
fundamentalistischen Regierung den Grund für die Unfähigkeit der
israelischen Politiker, den Konflikt lösen zu wollen (Boykott der
Zwei-Staaten-Lösung). Kraushaar legt den Akzent auf die politischen
Hintergründe als Bedingung der Möglichkeit, das Eigeninteresse
Deutschlands an diesem Konflikt zu erkennen. Er plädiert für eine kluge
Unterstützung der demokratischen Kräften in Israel und spricht sich
gegen eine blinde Identifikation der deutschen Seite mit diesem Staat
ebenso wie gegen eine doktrinäre Nichteinmischung aus. Das gilt auch für
die Position der Linken gegenüber der palästinensischen Seite.
Aufklärung
braucht das Land
Als übergreifendes Motto für sein Buch wählt Kraushaar ein Wort des
chinesischen Klassikers Konfuzius: “Zuerst verwirren sich die Worte,
dann verwirrt sich das Denken. Und wenn sich das Denken verwirrt, dann
gerät die Politik in Unordnung. Und wenn das passiert, stürzt der Himmel
ein.“ Das klingt exotisch, er meint es aber durchaus so, wie Immanuel
Kant seinen Universalismus in seiner politischen Schrift Vom ewigen
Frieden 1795 beschrieben hatte. Hinter die Aufklärung führt kein Weg
zurück, auch wenn deren Gang nach vorn steinig ist. Das ist das Credo
von Kraushaars Buch zum Gazakrieg.