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Drei Daten – drei Welten

Berlin 1943, Berlin 1948 und Berlin 1963. Der belgische Comiczeichner Marvano hat nach jahrelangem Stillstand seine Berlin-Trilogie beendet und scheitert auf hohem Niveau an dem eigenen Anspruch zur historischen Akkuratesse.

Die gezeichnete Literatur in Form der grafischen Novelle boomt. Art Spiegelmans »Maus« hat sie berühmt gemacht. Zwei Jahre nach der Verleihung des Pulitzerpreises an Spiegelman (1992) veröffentlichte der Zeichner Mark van Oppen (Marvano) einen Comic mit dem Titel »Berlin. Die sieben Zwerge« eine ebenso historisch verankerte Erzählung. Ende der 90er nimmt sein Verlag Dupuis den Titel aus dem Programm. Dennoch entschied sich der belgische Zeichner, seine Geschichte fortzusetzen. Der Dargaud-Verlag hat die Fortsetzung Geschichte nun in sein Programm aufgenommen. Seit 2005 haben Zeichner und Verlag die Neuauflage und Fortsetzung der Berlin-Geschichte geplant. Im vergangenen Sommer kamen die ersten beiden Bände (Die sieben Zwerge; Reinhard, der Fuchs) in den französischen Buchhandel, nun ist der abschließende dritte Band (Zwei Königskinder) erschienen.

Der erste Teil der Marvano-Trilogie erschien 1995 auch in deutscher Übersetzung in der Reihe Speed-Comics im Tilsner-Verlag. Dieser erste Teil der Berlin-Trilogie erzählt gnadenlos offen die Geschichte des 19-jährigen britischen Luftwaffepiloten David Auberson im Kampf gegen die Deutschen 1943. Die siebenköpfige Besatzung des Fliegers »Schneewittchen« besteht aus blutjungen Besatzungsmitgliedern (»Zwerge«), die todesmutig die Flakgeschütze in Norddeutschland überfliegen müssen, um die Hauptstadt des Dritten Reiches anzugreifen. Marvano schildert auf eindrucksvolle Weise die tägliche Todesangst der noch so jungen Piloten, die patriotisch ihren Dienst – oft der erste und letzte zugleich – tun. Er gibt Einblick in das Leben als Pilot im Kriegseinsatz und legt dabei die Intensität dieses Daseins zwischen Leben und Tod offen. Die Witze vor dem Abflug gleichen sich (»Wenn der Fallschirm nicht funktioniert, bring ich ihn dir zurück, Schätzchen.«), die unendliche Sehnsucht nach einem Mädchen in der Heimat oder auf dem Stützpunkt, das immer gleiche Chaos im Kampf, der permanente Abschied von umgekommenen Freunden und Kameraden – und dabei immer die Furcht im Nacken, als Nächster erwischt zu werden. Die wirkungsvollen und abwechslungsreichen Seitenkonstruktionen unterstützen die vermittelten Fakten glanzvoll.

Doch dies ist kein Klagelied eines Piloten, sondern vielmehr Plädoyer gegen den Krieg als solchen, in dem Existenzen ausgelöscht werden und die Barbarei die Oberhand über die Menschlichkeit gewinnt. Leidtragender, auch das macht Marvano deutlich, ist immer der Mensch. »Berlin oder London, was macht das schon für einen Unterschied für diejenigen, auf die die Bomben niedergehen?« Und was treibt einen Piloten wie David Auberson, 19 Jahre jung, unerfahrenen und voller Lebenslust, an, den Tod vor Augen jede Nacht in die Luft zu steigen und in den Kampf zu fliegen? »Wir treffen uns nach dem Krieg. Im ‚Grey House’ um acht Uhr!«, schreibt er an seine Geliebten in einem Brief. Allein dieser Brief, den dieser Comic bildhaft rezitiert, kann dem Leser die Geschichte des Piloten Auberson übermitteln. David Auberson, der in der Nacht vom 17. zum 18. August abgeschossen und später in Holland von der Gestapo verhaftet wurde, bleibt nach dem Krieg verschwunden. Auch keiner der anderen Besatzungsmitglieder der »Schneewittchen« hat den Krieg überlebt. Alle wurden sie der Möglichkeit beraubt, alt zu werden, und teilen so ihr Schicksal mit so vielen jungen Männern, die der Krieg verschlungen hat.

Der zweite Teil der Trilogie spielt zu Beginn des Kalten Krieges in den Trümmern Berlins. Zwischen den einstig alliierten Mächten hat sich ein Kampf um Macht und Einfluss entwickelt, der dort 1948 in der Notwendigkeit der Luftbrücke gipfelt. Hier nimmt der zweite Band die vorangehende Geschichte auf. Zwar sind alle Besatzungsmitglieder im Krieg umgekommen, die sich an dem Abend des Abschusses in der Maschine befanden, aber einer ist noch am Leben, da er in der folgenschweren Nacht krank auf dem Stützpunkt zurückblieb. Leroy Spencer Stuart ist nun zur Versorgung der Westsektoren für die britische Luftwaffe im Einsatz und verkörpert den als »Schokoladenbomber“ berühmt gewordenen Flieger Gail Halvorsen.

Marvano entspinnt hier eine Geschichte um den Wettlauf der Siegermächte nach wertvollen Dokumenten und Unterlagen deutscher Wissenschaftler und führender Nazis. Dabei strickt er das mysteriöse Verschwinden des Generals der Waffen-SS Hans Kammler ein, der im Dritten Reich für die Raketenprogramme verantwortlich zeichnete. Kammlers Verschwinden in der Nachkriegszeit sorgte immer wieder für Spekulationen, die in Verbindung mit dem Schmuggel von Konstruktionsunterlagen für Atom- und Waffenanlagen standen. In Marvanos Geschichte ist es der Sohn Hans Kammlers, Reinhard, der im Besitz wichtiger Dokumente ist und diese vor den Sowjets in Sicherheit bringen will. Stuart ist in diesem Wettlauf um Informationen nur ein kleines Fähnchen im Wind, der sich davon seinen persönlichen Vorteil verspricht. Reinhard überredet ihn, eine Kiste, die angeblich mit Gold gefüllt ist, nach Westdeutschland auszufliegen. In der Hoffnung, den Jungen überlisten zu können, sagt er zu. Doch es kommt alles ganz anders. Ganz nebenbei verdreht noch Reinhards Halbschwester Helena, deren Mutter eine Jüdin mit dem Namen Esther König war, Stuart den Kopf.

Marvano gelingt hier fast ein Thriller. Er strickt dabei viele Details ein, die das individuelle Elend dieser Zeit deutlich machen. So beschreibt er die ihr Leben lang nationalsozialistisch indoktrinierten Kriegswaisen, die sozial vernachlässigt zu extremer Gewaltbereitschaft neigen. Reinhard steht für diese scheinbar verloren gegangene Generation. Er scharrt eine Gang gewaltbereiter und höriger Jugendlicher um sich, mit der er sein Umfeld terrorisiert und die einst vermittelten nationalsozialistischen Werte hochhält. Gnadenlos macht Marvano auch deutlich, dass in einer Zeit des Übergangs jeder sich selbst am nächsten steht. Loyalität, Ehre und Verpflichtung wiegen in solchen Zeiten gering. Marvano sieht hier auch nicht den Krieg beendet, sondern allenfalls im Übergang zum nächsten Kampf. »Ein Krieg ist nicht beendet, wenn die Kanonen schweigen. Dann gibt es weniger, als während des Krieges. Weniger Nahrungsmittel, weniger Kohle, weniger Kleidung, Weniger von allem. Weniger Glaube, Hoffnung und Liebe.«

So großartig Marvano die Erzählung nach Jahren fortsetzt, so eindeutig verändert sich die Erzählweise des Belgiers. Die historischen Einschübe auf abgesetzten Ebenen werden immer umfangreicher und lassen der eigentlichen comicalen Erzählung immer weniger Raum. Zwar machen die in allen drei Bänden präsentierten historischen und biografischen Hintergründe eine geschichtliche Einordnung der Erzählung und damit ein tieferes Verständnis möglich, allerdings tritt so die ausgeglichene Erzählung in Bild-Text-Kombination von Band zu Band zunehmend in den Hintergrund. Es entsteht mit dem die Trilogie abschließenden Band »Zwei Königskinder« jedoch vielmehr ein bebildertes Geschichtsessay, das seinen Sinn eher in der korrekten Reproduktion von deutsch-deutscher Historie, als in dem Erzählen eines historisch verankerten guten Plots findet. Dies kann jedoch nicht Anliegen eines Bildergeschichtenerzählers sein. Insofern stolpert Marvano als Comiczeichner über seine Detailverliebtheit.

Der dritte Band handelt von Murphy junior, dem Sohn von General Edward Ronald Murphy, dem ehemaligen Vorgesetzten des Schokobombers Leroy Stuart. Der Senior, von dem Murphy jr. kaum etwas weiß, hat nur einige Aufnahmebänder mit persönlichen Erinnerungen hinterlassen. Darin erfährt sein Sohn, dass der alte Murphy vor Jahren einer jungen Dame namens Helena König (Siehe: »Reinhard, der Fuchs«) half, ihre nach Auschwitz deportierte Mutter zu finden. Der dritte Teil der Berlin-Trilogie versucht, diese Geschichte in einzelnen Schritten zu rekonstruieren. Murphy junior fügt die Ergebnisse seiner Nachforschungen zu einer zusammenhängenden und Sinn gebenden Vergangenheit zusammen, die ihn und den Leser in das geteilte Berlin entführt.

Marvano entwirft hier ein historisches Puzzle, das sowohl Stuarts als auch Helenas Geschichte aus der Perspektive des allwissenden Generals Murphy erzählt. Ganz nebenbei werden die historischen Umstände des Jahres 1963 in Berlin, sprich der Mauerbau, seine Hintergründe und seine Auswirkungen auf die Menschen in Berlin und Umgebung, erläutert. »Die Hoffnungslosigkeit machte sich in Berlin breit, im Osten genauso wie im Westen. Aufgrund des Schließens der Grenzen wurden die Menschen voneinander getrennt, von ihren Freunden, von ihrem Partner, von ihren Eltern. Selbst Kinder, die bei Freunden oder ihren Großeltern im Osten der Stadt übernachtet haben, konnten nicht mehr zu ihren Eltern im Westen zurückkehren.« In diese Umstände pflanzt Marvano die Handlung eines Detektivromans um das Verschwinden von Helena König, das Verbleiben ihres Halbbruders Reinhard und den Piloten Stuart. Dieses triadische Beziehungsgeflecht voller Geheimnisse und Obskuritäten wird noch gefüllt mit den Ränkespielen der alliierten Geheim- und Militärdienste im geteilten Deutschland und den bekannten historischen Spannungen. Insgesamt lässt sich für den dritten Teil sagen: Grundsätzlich tolle Geschichte, jedoch weniger Comic als illustrierte historische Erzählung.

Marvanos Stil steht mit seinen klaren Linien und dezenten Farben eindeutig in der Tradition der belgischen Schule. Seine Zeichnungen lassen zuweilen an E.P.Jacobs Welterfolg »Blake and Mortimer« denken – bedauernswerter Weise aber eben viel zu selten. Marvano verliert sich mit seinen später geschriebenen Bänden in historischen Abhandlungen und Rückblicken, die die Bände miteinander in einen logischen Zusammenhang bringen sollen. Die Querverbindungen zwischen den einzelnen Bänden sind oft leider nur mit Kenntnis der vorangegangen Bände nachzuvollziehen, eine isolierte Lektüre der einzelnen Geschichten ist kaum möglich. Besser noch wäre es, die drei Bände in einem Zug zu lesen – erst dann treten die tiefgründigen und zuweilen auch verborgenen Brückenschläge (vor allem zwischen Band 2 und 3) deutlich zutage.

Die Berlin-Trilogie von Marvano ist ein komplexes Werk auf einer beachtenswerten historischen Grundlage. Es eignet sich hervorragend als alternative Unterrichtseinheit für den deutsch-französischen Geschichtsunterricht, als Comic zum darin herumblättern, sich den Bilderwelten hingeben und schmökern ist Marvanos Berlin-Trilogie bedauernswerter Weise eher ungeeignet. Thomas Hummitzsch
 

Marvano
Berlin 1. Les sept nains
(Die sieben Zwerge)

Éditions Dargaud. Paris 2007.
56 S.; 14,00 €
ISBN 2505000034
Leseprobe

Marvano
Berlin 2. Reinhard le goupil (Reinhard, der Fuchs)
Éditions Dargaud. Paris 2007.
64 S.; 14,00 €
ISBN 2505000042
Leseprobe

Marvano
Berlin 3. Deux enfants de roi
(Zwei Königskinder)

Éditions Dargaud. Paris 2008.
48 S.; 13,00 €
ISBN 2505002347
Leseprobe

 

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