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Das Böse - ein wildes Konzert der Gefühle

Peter-André Alts »Ästhetik des Bösen«

Von Peter V. Brinkemper

In den 1980er Jahren wurde die Frage nach der Ästhetik des Bösen gestellt.  Nicht ohne Grund, zunächst relativ ungeschichtlich, fast prinzipiell, auch als Provokation. Mitten in der satten postmodernen Phase der späten Bundesrepublik, der musealisierten und kulturprunkenden, überreifen Ära Kohl, - bevor dann die Schleusen und Dämme brachen und der globale Wind of Change Ost- und Westeuropa erwischte und den ästhetizistischen Vorsprungs-Lack vom Kurfürstendamm abkratzte. 

Besonders vehement betrieb Karl Heinz Bohrer im »Merkur« die ästhetische Rehabilitation des Bösen. Er opponierte gegen die nach seiner Sicht immer noch dominante Linie eines moralisch-ethisch domestizierten (West-) Deutschen Idealismus, dem das Gute, Wahre und Schöne als eine einträchtige Befriedungs-Trias galten, als Urbild der bald von Ulrich Greiner gescholtenen west- und ostdeutschen »Gesinnungsliteratur« und des gutmenschlichen sozialliberalen Feuilletons, das endlich abzudanken hätte.
 

Karl Heinz Bohrer: Schirmherr einer Ästhetik des Bösen
Bohrers Argumente gehen dahin, das Ästhetische, Künstlerische und insbesondere Literarische des Bösen im europäischen Maßstab von Romantik, Realismus und Naturalismus und Symbolismus gerade in der wachsenden Autonomie von ethischen Maßstäben des Guten und in der Abkopplung von den Geschichten des moralischen Gelingens zu verstehen. Der Terminus »Böses« hat hier mehrere Bedeutungen:

die stärker in den Blick kommende Ontologie des verdorbenen, korrupten und antihuman ausrastenden menschlichen Seins in Ergänzung oder Gegenbewegung zur Moderne und ihrer Vernunft- und Fortschrittsgläubigkeit,

die radikale un-/politische Emanzipation der Dichtung als Praxis von bürgerlich akzeptierten gesellschaftlichen Maßstäben der konsensuellen Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Mitte und Vermittlung,

schließlich die zunehmend extremistische Zerlegung und Transformation von Inhalten, Figuren, Charakteren, Handlungsbögen und Formelementen in Richtung auf eine dunkle, rigide in Wiederholungstaten durchstrukturierte und vom Zufall geschüttelte Literatur, also im bürokratischen Geiste de Sades oder der écriture automatique ab Lautréamont.

Im sozialliberalen Konsens der Wohlstandsgesellschaft und einer westdeutschen Widerspiegelungs-, Therapie- und Bestätigungsliteratur wurden Bohrers Thesen als konservativ, mythologisch, antimodern eingeschätzt und gelegentlich auch reaktionär gescholten. Dialektische Köpfe, sogar Lebenswelt-System-Vermittler Jürgen Habermas, haben in Bohrers Thesen eine Fusion zwischen Nietzsche und der pessimistischen »Dialektik der Aufklärung« Adornos und Horkheimers gewürdigt. 
 

Vorsicht ist auch die Mutter des Springteufels
Peter-André Alts Untersuchungen zum Bösen in der Literatur erweisen sich als vielschichtig, vorsichtig: Alt spricht sich mit Bohrer für die genauere Untersuchung der wachsenden literarischen Autonomie der Darstellung des Bösen aus, ihrer Emanzipation von Religion und Moral, vor allem in Klassik, Romantik und Moderne. Er widerspricht jedoch Bohrers inhaltlich-ontologischen Tendenzen, das Böse, wie in Flauberts »Salambo« »an sich« einkreisen zu wollen.

Peter-André Alt interessiert sich zunächst für den literarischen Fortschritt und bleibt dabei in germanistisch-komparatistischen Bahnen, mit erheblichem Zusatz an philosophischem Reflexions-Instrumentarium. Der Autor skizziert die Entwicklung der Ästhetik des Bösen in sechs Kapiteln sowie einem Resümee. Er liefert eine vielstimmige, philosophie- und kulturhistorische Quellen-Geschichte und Auslegung, eine komplexe und doch verständlich angelegte Mythen- und Inhaltsanalyse, differenzierte Behandlung von Gattungsfragen, auch ausgefeilte Logik zum möglichen Verhältnis von meta-ethischer Argumentation und literarisch-rhetorischer Form. All dies wird im Text nachvollziehbar verhandelt und plastisch dargelegt. Fachkundige und erstmalig interessierte Leser ziehen gleichermaßen Gewinn aus diesem Werk, nicht zuletzt anhand der instruktiv dargelegten Beispiele und dem hohen Niveau ihrer kondensierten Interpretationen.

Das Böse: eine eigene oder sekundäre Ordnung?
Luzifers Sturz aus dem Himmel in die Hölle, in der bekannten Geschichte von »Stolz, Anmaßung, Rebellion und Vertreibung« führe eine Konfrontation vor aus dem Geist der mit dem Göttlichen rivalisierenden Steigerung und Überhebung. Diese Darstellung enthalte jedoch »keine erklärende Qualität«. Ebenso wenig überzeuge die poröse narrative Logik des Sündenfalls Adams und Evas im Paradies. Beide Male werde nur eine Abweichung von der vorgegebenen theologischen Ordnung umschrieben und ausgemalt. Die biblischen Mythen und ihre frühe Kommentierung changierten zwischen dramatischer Sprunghaftigkeit und der epischen Suggestion einer Kontinuität auf dem Weg vom Guten zum Bösen. Das Böse werde dabei nicht als gleichursprüngliche Gegenkraft eines ewigen bipolaren theatralischen Rituals (wie nach Ricœur in der sumerisch-babylonischen Kultur) sondern nur als nachträgliche, abgeleitete Größe angesehen. Auch Plotin und Augustin verträten in diesem Sinne  episierende bzw. normierende Defizit-Modelle, die das Gute als Erstes, als Prinzip annähmen und dann das Böse zuließen, entweder als eigenwilligen Abfall von der Ordnung oder als defizitäre Mangelstruktur der Conditio Humana.

Durch die abendländische Setzung einer aus dem Göttlichen heraus weiter fortschreitenden irdischen Geschichte, wie in Hegels Geistbegriff, werde das Böse notwendigerweise allein als Folgewirkung menschlichen Handelns und zugleich überwindbares Hindernis auf dem Weg zur objektiven Vervollkommnung gedacht. Insgesamt kreisten die Rivalitäts- und Defizitmodelle des Bösen und die Vervollkommnungsmuster verschiedener Jahrhunderte immer wieder in tautologischen Strukturen -  so Alts kritisches Standardargument an verschiedenen Stellen.
 

Vom Exorzismus zur Introspektion
Mit Kierkegaard und Schelling werde das Prinzip des Anfangs auch und gerade für das Böse individuell, eigensinnig und somit modern gedacht: Bei Schelling in einer extremen dialektischen Veräußerung und delikaten Balance zwischen dem Guten und Bösen, kontrolliert vom Absoluten; bei Kierkegaard in dem psychologischen Begriff der menschlichen Selbstverführung von der paradiesisch-naiven zur schuldhaft-reflektierten Freiheit als Erklärungsgrund für die Affinität zum Bösen, in der der Mensch gerade als autonom denkendes Lebewesen völlig allein und ohne Gottes Einfluss stehe. Bei Kierkegaard fusionierten paradiesische und nachparadiesische Muster im Modell seiner frühen und kühnen reflexionslogischen  und psychologischen Existenzphilosophie.

Aufklärung und Klassik in Deutschland exorzierten den Teufel als wissenschaftlich erklärbare Figur des Aberglaubens und schränkten seine überlieferte Darstellung stark ein, wie in Goethes komödiantisch aufgehelltem Faust-Begleiter Mephistopheles. Dagegen dringe in der Gothic Novel der Romantik (Lewis, Walpole und E.T.A. Hoffmann) das Diabolische wieder ein in die Struktur des Erzählens, diesmal als genuine Kraft des rational Unerklärbaren, in Form von eigenwillig-unberechenbaren Doppelgängern und zunehmenden Halluzinationen, als durchbrochene Spur zwischen Normalität und Wahnsinn, Ego und dämonischem Alter-Ego – einer Linie, die sich bis zu William Peter Blattys »The Exorcist«, Polanskis »Rosemary’s Baby« und David Lynchs »Lost Highway« verfolgen ließe.

Mit Freuds Psychoanalyse sei ein Wendepunkt markiert:  Die »exorzistische« Behandlung der Mensch-Teufels-Relation sei meist von Abwehr und Austreibung bestimmt und werde immer selbst als tabuisierte Ausnahme-Konfrontation behandelt. Nun aber werde sie durch Annäherung, psychologische Introspektion und analytische Vereinnahmung abgelöst.

Zentral sei von da an die innerpsychische Figur der Übertragung zwischen Bewusstem und Unbewußtem (Ricœur und Foucault). Das Böse werde zum Material einer noch jungen Wissenschaft, der metapsychologischen Überlegung zu den Äußerungen einer sprachbearbeitenden Seelenmechanik von Verdrängung und Verdichtung der eigenen Triebökonomie. Damit sei der Ausgangspunkt geschaffen für eine »Kultivierung des Bösen«. Die heroische Anstrengung des Pioniers und Analytikers Freud bestehe darin, Licht- und Schatten beim Patienten und in der Kultur aufeinander zu beziehen und widerstreitende Instanzen miteinander affektiv und rational zu versöhnen und gerade nicht Seelenzustände mythologisch (wie bei Jung) zu verbrämen.

In der romantischen und spätidealistischen Ästhetik des Erhabenen und im Ausgangspunkt von Burkes Definition des Bösen als »obskur« und »Schrecken erregend« entwickele Friedrich Schlegel die Möglichkeit eines satanischen Entwurfs einer Literatur, in der es um »Vernichten, Verwirren und Verführen« gehen könnte. Das diabolische Konzept der Darstellung menschlichen Verhaltens spekuliere mit der Abkopplung der religiös-metaphysischen Sehnsüchte von der konkreten Alltagsmoral (so Alts interessante Interpretation von Schlegels »132. Ideenfragment«). Die kommende dämonische Literatur widme sich der Beobachtung der daraus folgenden Konfusion (des ursprünglichen Diabellein), im Sinne eines »furchtbaren, grausamen, wütenden und unmenschlichen Prinzips«. Dies impliziere eine Art theologisch-poetologische Ästhetik des Bösen, der die idealistischen Theoretiker widersprächen: Hegel (gegen die gehaltlos-subjektive Schlechtigkeit dieses singularisierten Bösen), Heine (gegen den romantischen Mystizismus des katholischen-rheinischen Romantik), Rosenkranz (schon beachtlich fruchtbar differenzierend zwischen Darstellung von Verbrecherischem, Gespenstischem und Diabolischem) und Vischer (gegen die rein ästhetische Unlogik des Bösen angesichts des widerspruchsfrei gedachten Schönen).

Peter-André Alt hält sich glücklicherweise in seiner Untersuchung nicht an veraltete geschichtliche und ideologische Zuordnungen.  Dies belegt die Untersuchung zu Schillers Spät-Sturm-und-Drang-Drama »Die Räuber«: Attestiert wird eine massive Verkehrung von Gut und Böse, eine »Oszillation zwischen psychologischem Realismus und exzessivem Phantasma«, nicht nur bei Franz, sondern auch beim brüderlichen Gegenspieler Karl. Alt puzzelt Schillers komplexe Position aus Vorwort, Selbstrezension und Textvarianten zusammen: Er überwinde die Aufklärungspoetik der Züchtigung des Lasters und des Sieges des Guten (Gottsched), aber auch die immer noch allzu didaktische Konzentration auf die Darstellung mittlerer Charaktere zwischen Gut und Böse bei Lessing (gegen eine teuflisch-böse Figur wie »Richard III.«, hier nicht von Shakespeare sondern Christian Felix Weiße). Lessing halte sich noch an die Aristotelische Theorie, wonach Schrecken (Furcht) und Mitleid angesichts der Bühnenfiguren und Handlungskonstellationen immer in mäßigender Kombination auftreten müssten. Eine radikal ins Böse ausscherende Figur, die nur noch Schrecken verbreitete, hielt er für bühnenuntauglich. Schillers radikales idealistisches Spiel in »Die Räuber« steigere die Dramatik gerade durch die wachsende Gleichberechtigung und Eskalation der Anwendung und Verdrehung beider Prinzipien, Gut und Böse, auf allen Seiten, also in den antagonistischen Figuren und Lagern. Er strebe in möglichst genauen Porträts gleichsam dreidimensionale Charaktere an, die Vorder- und Rückseite besäßen. Nur in der dramaturgischen Präzision von dynamischen, immer neue Konfliktketten produzierende Individuen, statt flacher moralischer Typen, liege die Überzeugungskraft auch des Bösen als selbständigem Motivator der Handlung, in der Mensch und Teufel gleichermaßen »umarmt« würden. Vielleicht lässt sich in diesem Drama (wie auch in »Kabale und Liebe«) sogar von einer Gegenordnung des Bösen über das in die Tragik getriebene Gute sprechen. In der von kalter Logik beherrschten Franz-Figur werde noch das Potential der Aufklärung negativ wirksam. Die Vernunft pervertiere zur bloßen Intrige durch das Streben nach einsamer Macht und Herrschaft. Auch Bruder Karl folge in der solidarisch mit der Räuberbande ertragenen familialen Verstoßung einem ähnlichen Diskurs der Gefährdung, nur in emotional und sozial angewärmter Weise. Alt: »Die intellektuelle Kernzone des Bösen bildet in den >Räubern<  die vermeintlich teuflische Philosophie des Materialismus (im Sinne La Mettries und Helvétius’) , wie sie nicht nur Franz, sondern am Ende auch Karl vertritt.« 

Schillers »Archäologie der bösen Seele« werde in Jean Pauls »Titan« fortgesetzt, der englische und deutsche Strömungen der dunklen Charakter-Darstellung, vom Satanismus bis zum Libertinismus bündele. Kleists Gottes-ferne Theaterstücke reagierten einsichtsvoll auf Kants moralphilosophische Definition des Bösen als egoistischer Enthaltung des menschlichen Subjekts vom an sich gebotenen ethischen Handeln. Die fortschreitende Transformation des Bösen zwischen Romantik und Moderne ins Psychologische und Ästhetische verfolgt Alt anhand von Kierkegaard (Ästhetik und innerliche Phantasie der Verführung), Baudelaire (das Böse als sensueller Reiz der übermüdeten Seele), in dessen Gefolge Stefan George und schließlich Thomas Mann ständen (das entleerte Ich der radikal verinnerlichten ästhetischen Subjektivität des Komponisten Adrian Leverkühn). Während die ersten drei Namen und die Befunde durchaus erwartbar sind, ist die Verteidigung von Thomas Manns »Doktor Faustus« als einem Werk, das die Rhetorik des Bösen nicht nur zitiert, sondern reflektiert, neuartig: Die radikale ästhetisch-musikalische Existenz des Helden, seine lebensferne Kälte, sei nicht nur unerschütterlicher Beobachtungsposten für das Böse in sich selbst und in der faschistisierten Gesellschaft. Sie sei mit dem Opfer des eigenen Lebens für ein avanciertes Werk verbunden, das wiederum selbst durch und durch dämonischen Charakter und höllischen Klage-Ausdruck annehme. Alt: »In dieser Diagnose formuliert Thomas Manns Roman als zentrale Konsequenz der Ästhetisierung des Bösen die wechselseitige Determination von Sünde und Kunst, wie sie seit Kierkegaard und Baudelaire offensichtlich zu sein scheint.«
 

Aufschlussreiche Revue bekannter Werke
Von der Tragweite von Peter-André Alts Ausführungen kann sich der Leser am besten  bei geläufigeren Werken der Weltliteratur überzeugen: Sartres Drama »Huis Clos« (Geschlossene Gesellschaft), de Sades »Justine«-Roman und Süßkinds »Das Parfüm«, Huysmans »Làs-bas« (Schilderung einer schwarzen Messe), dem pervertierten Dandyismus bei Sacher-Masoch und in Oscar Wildes Drama »Salome« (leider gerade nicht ausführlich den hier relevanten »Dorian Gray«), den Androiden und Vampiren von Mary Shelleys »Frankenstein« (ein prometheischer Künstler und ein sensibles Monster, für die Leserschaft erhaben zwischen Einfühlung und Ekel) bis Bram Stokers »Dracula« (mit der eindrucksvollen Poetik des Gespenstischen, eines sich entziehenden Vampirismus, importiert von Transsylvanien nach London, in die Hauptstadt des Viktorianismus), Edgar Allan Poes Erzählung »The Black Cat«, Stevensons Novelle »Dr. Jekyll and Mr. Hyde«,  Stanislaw Przybyszewskis Roman »Satans Kinder« (der Wahn und das Böse), Georg Heyms Erzählung »Der Irre«, Gottfried Benns Einakter »Ithaka«, Wedekinds Tragödien-Zweiteiler »Lulu« (als naturalistisch-animalische Mythologie einer unberechenbaren Femme Fatale, nach Wedekinds eigener Aussage eine geschlechtliche Projektionsfigur männlichen Spießertums um die Jahrhundertwende), Nietzsches angeblich »rhetorische« Tötung Gottes im Sog des Nihilismus, Batailles und Genets Meta-Resakralisierung der Orgie und blasphemischen Überschreitung und schließlich der exzessive Grenzfall des Kafkaschen Schreibens in einem haltlos hypothetischen Raum. Dem folgt Kriegsliteratur: Jüngers individualistische, abenteuerlich-heroische und rauschhafte Ästhetisierung des Ersten Weltkrieges, der zur federführenden Instanz seiner Schlacht-Texte wird; sowie Malapartes Zurückgewinnung des Erzählens in der pikaresk-bösartigen Darstellung der Fronterlebnisse mit subversiv-ironischer Schilderung der nationalsozialistischen Bündnispartner im Medium eines politisch gewendeten Surrealismus, der auch Jüngers Monomanien im Sekundentakt einer Polystilistik zu zitieren weis:

»die Räder seines Storchs würden bei der Berührung des Grases auf eine Mine stoßen, und er werde im roten Blumenstrauß der plötzlichen Explosion verschwinden«.

Im Vergleich dieser beiden Autoren stellt sich die Frage nach der impliziten Meta-Moral der Erzählung: Wie verarbeitet die jeweilige konkrete literarische Struktur das bellizistische Paradigma der Moderne? Jünger inszeniert sich selbst als poetische, kugelsichere Aufzeichnungsmaschine, als den ersten nationalen Ur-Flugschreiber, der auch noch »Kniebolo« (Jüngers Tagebücher-Umschreibung für den Führer) überleben wird. Dagegen scheint Malapartes urbanerer Diskurs komplexer angelegt zu sein, auch in Hinsicht auf die kommende Kalte-Kriegs-Literatur. Ich denke hier besonders an Michael Herr Vietnam-Roman »Dispatches« und den neu-journalistischen Zynismus in der Darstellung der bekifften und blutigen Simulation beliebig austauschbarer Kriegsvorstellungen im Südostasien, bei der es auch US-amerikanische Tote geben musste, neben namenlosen Leichenbergen von nordvietnamesischen Feinden. An dieser Stelle wünschte man sich mehr ästhetische Beispiele. Aber die vielen argumentativen Fäden des Autors schüren immer weitere Erwartungen und laufen zumindest im Kopf des Lesers gelegentlich lose nebeneinander.


Probe aufs Exempel? Auschwitz und Adorno
Die Bündelung im Schlusskapitel: »Moralische Implikationen unmoralischer Literatur« könnte die Probe aufs Exempel liefern. In der Überschrift deuten sich manche Irrungen und Wirrungen an, durchaus themenbedingt. Denn was bedeuten Ästhetik, Moral, Unmoral oder Böses nach dem Ende der zunächst gesellschaftlich unbegriffenen Schreckensherrschaft des Dritten Reichs? Sind dies restaurative oder einmal für allemal erledigte oder gar neu zu rekonstruierende Begriffe? Müsste man daher nicht eher von postästhetischen, postmoralischen, zumindest postkonventionellen und posttraditionalen Neuansätzen reden?
Adornos Argumentation der 50er und der 60er Jahre dringt darauf, dass nach Auschwitz, nach der wissenschaftlich und bürokratisch geplanten Vernichtung von Menschen durch KZ, Krieg und die Bombe im planetaren Maßstab, die Ästhetik des Klassischen, aber auch die schwarze Literatur des Bösen und Satanischen nicht mehr voraussetzungslos glaubwürdig erschienen. Ihr universalistisches und imperialistisches »Erbe«, wie es in der DDR hieß, droht unter der Last der großen Liquidation und dem entropischen Tosen der Medien heute provinziell zu werden und zu verschwinden.

Wahrhaft moderne Kunst begründe, so Adorno, ein »Pathos der Objektivität« - ohne den Schein der Versöhnung oder die Suggestion dämonischen Schicksals. Moderne Kunst produziere insofern »Hässliches«: »In den Formen wird Grausamkeit zur Imagination: aus einem Lebendigen, dem Leib der Spache, den Tönen, der sichtbaren Erfahrung etwas herausschneiden.« (Adorno, »Ästhetische Theorie«). Seltsamerweise interpretiert Peter-André Alt dies nicht als:

Arbeit am (außer-) ästhetischen Material,
noch weiter gehenden Fortschritt ästhetischer Autonomie in einem
nun werk-transzendenten Geltungsanspruch (siehe Albrecht Wellmer),
prozessuale Öffnung aus bisher geschlossenen Werkstrukturen und eingefahrenen Traditionen
hin zu offenen Verfahren, im Geiste von Büchner bis Beckett.

Alt behauptet, bei Adorno sei die Kunst auch noch in der Nachkriegszeit »durch die Werte der Moral festgelegt, denen die poetische Rede über die NS-Verbrechen verpflichtet bleiben muss«. Weder der faktisch klingende Ausdruck »Festlegung durch Werte der Moral«, noch der ideologisch getönte Terminus »poetische Rede über NS-Verbrechen« treffen das Anliegen Adornos zur nachästhetischen und nachmoralischen Nüchternheit und Offenheit jenseits der diskreditierten Werte, ästhetischen Formen und Konventionen, die von Propagandisten und Verbrechern missbraucht wurden. Paul Celan wurde bei einem Nachkriegstreffen der Gruppe 47 kritisiert, seine beklemmende »Todesfuge« wie Goebbels zu rezitieren, so erinnerte Walter Jens. Diesen Tonfall kann man in etwa nachempfinden, wenn man den zwischen sachlichem Protokoll und heimtückischem Expressionismus schwankenden deutschen Kommentar, verfasst von Celan, zu Alain Resnais’ Lagerfilm »Nacht und Nebel« anhört. Alt referiert,  dass für Adorno die an den Verbrechen des Faschismus geschulte Re-Lektüre eines Baudelaire oder Nietzsche deren Ästhetik durchaus in neues Licht, vielleicht sogar in Frage stelle: Die symbolische Imagination des Bösen als mehr oder weniger verschlüsselte Kritik am 19. Jahrhundert als Epoche der Triebunterdrückung stehe zur Disposition eines epochenübergreifenden Vergleichs mit der offenen Entgleisung der massenhaft durchorganisierten kalten Boshaftigkeit der Weltkriege und Vernichtungslager des 20. Jahrhunderts. Baudelaire und Nietzsche lassen sich doppelt lesen: als teils naive, teils kritische Hellseher, als zwischen Imagination und Experiment agierende Propheten kommender Barbarei, Nietzsche aber auch als von vereinnehmbarer Apologet, wogegen jedoch die Distinktion und artifizielle Distanz seiner Werke spricht.

Alt: »Historisch und systematisch scheitert die Ästhetik des Bösen bei Adorno an den  Vorgaben einer Theorie, die letzthin die Autonomie der Literatur im Namen einer Eigentlichkeit ihrer moralischen Aufgaben beschränkt.«  Damit unterstellt er Adorno die geschichtsblinde metaphysische Ordnungs-Moralität Hegels. Im Gegenzug unterschiebt er der Ästhetik des Bösen einen dunklen und doch allzu greifbar normativen Kern, der aber gerade durch die antikryptische Luzidität von Alts historischer Beispiel-Aufschlüsselung nicht wirklich erhärtet wird. Die Ästhetik und das von ihr inszenierte Böse sind selbst historisch wirksame, aber auch wandelbare Kultur-Phänomene und Paradigmen, wie sie Luhmann auch in den literarisch-sozialen Codes der Liebe festgestellt hat.

Gerade Bertolt Brechts respektlos-epische Historienfarce »Arturo Ui« zum Aufstieg Hitlers nach dem Modell eines Gangsterfilms wäre Quentin Tarantinos reißerischen, selbst faschismusverdächtigen Vergeltungs-Maßstäben von »Inglourious Basterds« zufolge ein gar nicht so übles Werk. Für Adorno streife Brecht aber damit die schreckliche, kafkaeske Möglichkeit: Das NS-Regime missbraucht und verbraucht, ja verdampft die Ästhetik des Bösen ganz nebenbei im scheinbar banalen Programm der rassischen und politischen Ausgrenzung und Gewalt, bis hin zur alles vernichtenden und nivellierenden Deckung von Gedanke und Ausführung in den Lagern und im totalen Krieg. Brecht erfasse das Regime und sein System mit einem flotten Gangsterstück nur oberflächlich und ahme die Verharmlosung des Bösen im Rahmen einer funktionslos gewordenen Unterhaltungskunst nach.
Stimmiger nimmt sich Alts Kritik aus an Adornos Schmälerung der Leistung der ästhetischen Form älterer und neuerer Werke zugunsten seines »kunstphilosophischen Moralismus mit existentialistischen Zügen«. Alt verfehlt aber gelegentlich den Sondierungscharakter von Adornos späten Begriffen wie Kunst, Auschwitz, Moral, Wahrheit, Scheinlosigkeit etc. Kunst nach der alten bürgerlichen Kunst, oft hinfällig durch Auschwitz und Hiroshima, muss das Böse vor allem als eine sich entziehende Leerstelle der systematischen Vergewaltigung von Wahrheit, Gesellschaft und Individuum im totalitären Staat und im globalen Kapitalismus begreifen.
Man muss nicht gegen Adorno argumentieren, wenn man mit Alt in Imre Kertész »Roman eines Schicksallosen« die Odyssee eines jungen Auschwitz-und Buchenwald-Insassen als protokollartig erfasste einsame »Immanenz des Grauens«, »kunstvoll eingesetzte Gefühlskälte« und metaphysikfreie »leise Sehnsucht« nach Menschlichkeit aufspürt und würdigt.  Das Risiko, dass sich die Begriffe (auch der Ästhetik und des Bösen wie der Moral und des Guten) im Angesicht der totalen ideologie- und technikgesteuerten Vernichtung des 20. Jahrhunderts verflüchtigen, haftet allen, auch den überzeugendsten Versuchen an, die Voraussetzungen und Folgen der Menschheitsverbrechen dieser Epoche künstlerisch, ob moralisch, antimoralisch oder so gut wie moralfrei zu bewältigen.

Alts letzte Zeugen für diese Art eines neuen Jenseits-von-Gut-und-Böse sind endgültig angekommen im Diesseits der medialen Gegenwart: Baudrillards postorgiastische Simulationsästhetik, Brat Easton Ellis »American Psycho« mit dem Konsumterror der Marken und den blutigen Massakern halluzinativer Parallelwelten. Und Jonathan Littel und sein Roman, »Die Wohlgesinnten«, die »unlesbar« titulierte Fiktion der Kriegsautobiographie eines gebildeten SS-Mannes. Der Autor breite ein Panorama des Grauens in den genau recherchierten und minutiös gehaltenen Beschreibungen des Vernichtungskrieges und der Massentötungen an der Ostfront aus. Der Charakter der Hauptfigur sei mit dem Mythos des Orest unterfuttert (des von den Erinnyen verfolgten Mutter- und Stiefvater-Mörders, dem von seiner Schwester Elektra angestifteten Rächer seines Vaters Agamemnon, welcher die Griechen im Feldzug gegen Troja anführte). Littel, so auch die wohlwollende Kritik, habe ein Werk voll von »naiver« »Monotonie« geschaffen, einen ungenießbaren »historischen Realismus«, der auf dem Feld des angeblich bisher Unausgesprochenen, im Geiste de Sades, Célines und Genets, seine rhetorische Orgie feiert. Die Frage ist, ob das funktioniert, oder ob das doku-fiktiv Realistische, die rigide Transposition der Sachliteratur zum Thema Holocaust, hier nicht in der endlosen, anschaulich-beobachtenden Wiederholung eine völlig abgeschliffene Form produziert, die der affektiven Rezeption der Thematik das Profil raubt.


Die Idee des Konzerts

Wie wirklich und wie wirksam ist also das Böse noch in Verbindung mit der Kunst gegen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts, das uns mit multimedialen Schocks bombardiert und moralisch überfordert? Alt entscheidet sich für eine kluge rezeptionsästhetische Lösung im Sinne Wolfgang Isers: Das Böse und seine Ästhetik hielten im Medium der Literatur eine Zwischenstellung zwischen der realen Welt und dem Imaginären inne. Sie seien unbestimmter als die jeweilige Wirklichkeit und doch in ihrer semiotischen Faktur und Inszenierung bestimmter als das bloß Imaginäre. Damit entgeht Alt dem ontologischen Begriff des kontextlosen Bösen an sich, wie ihn Bohrer für seine Position postuliert hat. Gerade in der Rezeption bleibt das literarisch gestaltete Böse für Alt die kunstvoll kontrollierte Imagination von ästhetischen und ethisch-emotionalen Grenzüberschreitungen, in denen gemischte und unsaubere, niedere und hohe Affekte, Gefühle, Haltungen und Wertungen eine wichtige Rolle spielen.

Nach meinem Verständnis geht es um ein Konzert mit vielen dissonanten Stimmen: Der Grundton der changierenden Ambivalenz, der scheinbaren Einstimmigkeit und der plötzlich einbrechenden Abweichung, der anhaltenden Monotonie, ihres sanften Entgleitens und Einbrechens und einer wie zufällig und doch schlagartig aufbrausenden Polyphonie, der verengenden Linearität und der gewagten Ausdehnung, des Herankriechens und des Sprungs, der einlullenden Wiederholung und heimlichen und offenen Verkehrung, der horizontalen Serialität und der massiven vertikalen Akkumulation: das Charisma von Faszination und Abschreckung, von Einladung und Zurückweisung, das Verbot von Menschlichkeit und Liebe, der Einsatz niederer Instinkte, durch Einflüsterung, Neid, Missgunst, Verlockung und Verführung, den sadistischen oder masochistischen Ausdruck der Lust im Zeichen von Sehnsucht und Begierde, Potenz und Mangel, Macht und Ohnmacht, das Hineinfahren in Gewalt und Verbrechen, das pochende Bewusstsein der vollzogenen und der erlittenen Tat, die Bilanz von Opfer und Täter, der dramatische Umschlag in körperlichen Ekel, das Erwachen von existentieller Angst, das Aufkommen sozialer Furcht und humanen Mitleids, das Sich-Aufraffen zur rationalen Einsicht, die Einübung in zivilisierenden und zivilen Widerstand, der Übergang zur ethischen Distanznahme, der Ausdruck des moralischen Abscheus und der berechtigten Entrüstung, die solidarische Einfühlung, im Mitgefühl und in der Mäßigung, die Idee der Gerechtigkeit und das legal und wirksam zugesprochene, alle beschützende, aber auch vor sich selbst und vor anderen schützende Recht. Es bedarf nur kenntnis- und einfallsreicher Literaten und Regisseure, uns auch in Zukunft aus dem Meer der Einfälle und der realen Krisen in den wilden Resonanzraum elektrisierender Gefühlsakkorde und verblüffender Plots zu dirigieren.
 

Peter_André Alt
Ästhetik des Bösen
C.H.Beck
714 Seiten
978-3-406-60503-1


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