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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Die menschliche Komödie als work in progress

Ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Die Sehnsucht
nach der Revolte

Nur eine schöne Kunstfigur?

Ein »unsichtbares Komitee« prognostiziert den »kommenden Aufstand«

Von Wolfram Schütte
(Text als pdf-Datei)

Das »unsichtbare Komitee« begründet und beschreibt den »kommenden Aufstand« - das klingt nach »Fantomas« und verwandten verschwörerischen »Räuberpistolen». So könnte aber auch einer von Max Ernsts surrealistischen Collage-Romanen heißen. Oder: eine Kölner Karnevalssitzung, die über den etablierten Stunk der einst radikal-alternativen »Stonk«-Sitzung antiautoritär hinausgeht. 

Ist aber der Titel des sozialrevolutionären französischen Manifests einer unbekannt gebliebenen Gruppe - sagt uns das Buch. Warum aber sollte es nicht doch einen Autor haben, wie es sein durchgehaltener brillant zynisch-ironischer Stil nahe legt? Jedenfalls hat auch noch die deutschen Übersetzung von Elmar Schmeda (die sehr gelungen scheint), die poetische Anmutung einer viel versprechenden Verschwörung, die aufs Ganze geht. Das «unsichtbare Komitee« imaginiert verbal einen »Kommunismus«, der sich definiert als eine radikale Revolte des Neins zur Arbeit & allen anderen Zwängen - und imprägniert ist mit einem deutlichen romantisch-reaktionären Vorbehalt gegen das Metropolitan-Städtische und einer naheliegenden Utopie kleiner »kommunaler« Entitäten der lokalen Selbstverwaltung.

Zuvor aber ist erwünscht, was bei Herbert Marcuse & den Hippies »Die Große Weigerung« & in aggressiveren Teilen der 68iger »Macht kaputt, was Euch kaputt macht« hieß. Hier aber - offenbar unter kenntnisreichen Radikal-Anarchisten - heißen die Losungen etwa: »Organisieren, um nie wieder arbeiten zu müssen«, vulgo: »Es gibt vielerlei Tricks, (Geld heranzuschaffen): außer der Sozialhilfe gibt es Beihilfen, Krankmeldungen, kumulierte Stipendien, erschlichene Prämien für fiktive Geburten und alle möglichen Schiebereien.«

Diese offenen Aufforderungen zum »Plündern« sollen den verabscheuten »Sozialstaat« in Grund & Boden schädigen. Da man aber auf die »ewige« Existenz des Sozialstaats »nicht setzen« könne, wird z.B. allen Ernstes davon geschwärmt, dass »die Drehbänke, Fräsmaschinen und Fotokopierer, die bei der Schließung einer Fabrik verramscht werden, im Gegenzug dazu dienen sollten, eine Verschwörung gegen die Warenwelt zu unterstützen!» (Allerdings, frage ich: müsste man mit ihnen nicht doch wieder - arbeiten?)

Man kann jedenfalls bei den als abenteuerlicher Melange von jugendlichem »Indianerspiel«, »Graswurzelsammlung« und bewaffneter Stadtguerilla auf die Vermutung kommen, dass der hier avisierte Anarchismus als Gesellschaftsmodell (wie der Holzpflug) einer vollendeten Vergangenheit der Menschheitsgeschichte angehört und allenfalls als parasitäre Ausbeutung der vielfältigen Möglichkeiten hochdifferenzierter Wohlstandsgesellschaften sich momentweise (er)halten könnte. Ihn heute verwirklichen zu wollen, hieße sich zwangsweise in eine vorindustrielle Gesellschaft zurückzuversetzen, wodurch der Großteil allgemein genutzter zivilisatorischer (& politisch erkämpfter) Errungenschaften zerstört würde. Das käme den Wünschen des »Unsichtbaren Komitees« entgegen, das an an verschiedenen Stellen seines Manifests die »Zerstörung«, den »Kontrollverlust« und den »Zusammenbruch des Systems« propagiert, »um an Stärke zu gewinnen«.  

Ohne Zweifel hat, wer auch immer den »Kommenden Aufstand« verfasste, nicht nur selbstgenießerisches Vergnügen an seiner eloquenten Brillanz beim Beschwören des apokalyptischen Zustands (Frankreichs, Europas, des Kapitalismus), sondern er verfügt auch über ein - um mit dem schon wieder vergessenen Donald Rumsfeld zu sprechen - »alteuropäisches« Kulturbewusstsein.

Wer seine Überlegungen in »sieben Kreisen« vorträgt, spielt unter Kennern,  die er damit ansprechen & gewinnen will, sowohl auf den vielfach konnotierten Bedeutungshof der berühmten Zahl 7 in der abendländischen Geschichte, Literatur & Religion an, wie auch auf die Höllenkreise von Dantes »Göttlicher Komödie«. Ich habe, die federnde Prosa des »Unsichtbaren Komitees« lesend und die lyrische Metaphorik des »kommenden Aufstands« bewundernd, manchmal sogar an Lautréamonts finster-glänzende »Gesänge des Maldoror« gedacht.

»Selber in Schuld«, könnte man zu solchen literarischen Assoziationen sagen. Sie sind der opaken Oberfläche dieses Manifests »geschuldet«. Gibt es Gründe für ein solches Lesemodell? Einer wäre, dass die Beschreibung der existenziell-aktuellen »Hölle« aus deren Mitte heraus nicht »himmlisch« gelungen sein kann. Sonst könnte die Hölle nicht sie sein - und »gelungen« im Sinne von harmonisch schon gar nicht. Es sei denn: das alles wäre, wie´s in Clemens Brentanos »Rheinmärchen« irgendwo heißt: »leider nur / eine schöne Kunstfigur». Also eine literarische Phantasmagorie.

Das bedeutet aber nicht, als poetische Imagination eines katastrophalen Weltzustands hätte das brillant formulierte Manifest der Gegenwarts- & Zivilisationsverwerfung keine Verbindungen, Gründe & Absichten, die auf die gesellschaftliche Realität zurückgehen, aus ihr hervorgegangen sind oder auf sie zielen. So gibt es zahlreiche fulminante, aphoristisch auf den Punkt gebrachte Ein- oder Ansichten der gesellschaftlichen Gegenwart wie z.B. » Es ist nicht die Ökonomie, die in der Krise ist, die Ökonomie ist  die Krise«; »Die Kinder dieser Epoche, wessen Kinder sind sie, die des Fernsehens oder die ihrer Eltern?» oder: »Der Zeitarbeiter ist das Sinnbild dieses Arbeiters, der keiner mehr ist, der keinen Beruf mehr hat, sondern Kompetenzen, die er im Lauf seiner Einsätze verkauft, und  dessen Verfügbarkeit auch noch eine Arbeit ist«. (Wenngleich man derlei Gesellschaftsbefunde ja auch schon andernorts gelesen hat & ihnen gerne als Vertraute hier wieder begegnet.)

Ohne Zweifel sind die Revolten in den französischen Vorstädten 2005, die dem damaligen Innenminister Nicholas Sarkozy 2007 auf den Präsidentenstuhl verholfen haben, der Zündfunke für die Euphorie des »kommenden Aufstands«, dessen karnevalistischen Vorschein das »unsichtbare Komitee« überall dort aufflammen sieht, wo spontan empörte lokale Gruppen mit partialen Interessen auf den Putz hauen: ob in Frankreich, Griechenland oder jetzt (nehme ich an) die britischen Studenten in London. Weltweit sei der »kommende Aufstand« schon im Gange, lautet die schimärische Wunsch-Ermutigung des »Unsichtbaren Komitees«, das mit verschwörerischer Permanenz-Aktivität seiner «Partisanen« einen anarchistischen Flächenbrand initiieren möchte und wortwörtlich ins «Befeuern« verliebt scheint.

Offenbar witterte das »unsichtbare Komitee« die anarchistische Morgenluft  des umstürzlerischen Möglichkeitsmoments nach den »ersten Freudenfeuern« durch die damalige Handy-Kommunikation & Koordination der aufrührerischen Straßen-Brände 2005 in weit von einander entfernten metropolitanen Großstädten Frankreichs. Es waren jedoch - so flächenhaft Anarchie dabei nächtlich aufflammte, aber auch wieder täglich erlosch - nur kurze, folgenlose Strohfeuer, denen aschgraue Zeiten folgten.

Wie Herbert Marcuses zur »Systemsprengung« gedachte Essays und Manifeste (»Zur Kritik der repressiven Toleranz« oder »Versuch über die Befreiung«) der späten Sechziger Jahre primär die usamerikanischen Studenten und Intellektuellen und Eldrige Clevers »Seele auf Eis«, das literarische Manifest des Gründungsmitglieds der »Black Panther«, die Avantgarde junger Schwarzer in den USA als Adressaten hatten, so sieht das »Unsichtbare Komitee« unverkennbar durch seine Anspielungen auf zeitnahe Ereignisse wie auch auf die Tage der Kommune 1871 junge französische Leser & Sympathisanten vor seinen Augen & nimmt sie zum Ziel seiner poetisch-politischen Agitation, indem die »Unsichtbaren« die finale Entscheidung gegen »eine Zivilisation im Zustand des klinischen Todes» sowohl von akademischen Kadern als auch von jungen proletarische Aussichtslosen verlangen, bei denen »das Gefühl, reingelegt worden zu sein, immer weiter wächst« und »die latente Wut begründet, die bei jeder Gelegenheit hochkommt«. 

Große Worte, große Rhetorik, große Emotionen im Konstrukt einer scheinbar weltweiten Revolte der »aktivistischen Jugend», die vom vollmundig agitierenden Komitee phantasierender Intellektueller ins Stammbuch ihrer »action directe« das »Alles oder Nichts« geschrieben bekommt: »Entweder sind wir in der Lage, ihre Herrschaft kurzfristig zu schlagen, oder sie ist es, die uns unverzüglich zerdrückt». Eher letzteres, befürchte ich.

Revolten, die Revolten bleiben, sind Konterrevolutionen, weil sie den Kenntnisstand der bestehenden Macht vergrößern und sichern helfen. Allenfalls sind sie, was der junge Marx der Religion zuschrieb: »der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt der herzlosen Welt, der Geist geistloser Zustände« - Leuchtzeichen des glücklosen Protestes, Erinnerungsrufe der Vergessenen.

Ich weiß: die hoffnungsvolle Erwartung & die leidenschaftliche Liebelei der Intellektuellen mit den eruptiven Anwesenheitsmeldungen »des Volks« (oder seiner besonders benachteiligten Parias) erneuert sich in jeder Generation. Jede aber muss ihre Enttäuschung mit ihrer Hoffnungs-Illusion selber machen. Da ist ihr nicht zu helfen. Man wird danach in der Regel skeptisch, aber man muss darob nicht zynisch werden.

»Der kommende Aufstand« ist ein besonders paradoxes und perplex machendes Beispiel dafür. Was für eine schöne Kunstfigur!

 

Unsichtbares Komitee
Der kommende Aufstand
Original: L’insurrection qui vient,
La fabrique éditions
Aus dem Französischen übersetzt von Elmar Schmeda
Edition Nautilus
Deutsche Erstausgabe
Broschur, 128 Seiten
€ (D) 9,90, € (A) 10,20 / sFr 17,50
ISBN 978-3-89401-732-3


Die Grenze des Nützlichen
»Jeder Mensch wird eines Tages einstehen müssen, dass nützliche Verhaltensweisen an sich überhaupt keinen Wert haben, dass einzig und allein das gloriose Verhalten dem Leben Licht verleiht, um die eigenen Umtriebe zu enfalten.«

Georges Bataille
Die Aufhebung der Ökonomie
Batterien 22
Aus dem Französischen von Traugott König, Heinz Abosch und Gerd Bergfleth
Matthes & Seitz Berlin
338 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-88221-225-9, € 29,00

Die Hölle sind immer die Anderen
Guido Rohm Über Georges Batailles »Es ist an der Zeit, Bataille neu und vollständig zu entdecken. Man verlässt seine Textkuren ein Stück weit nackter...«

Georges Bataille
Henker und Opfer
Vorwort von André Masson
Matthes & Seitz Berlin
96 Seiten, Klappenbroschur
ISBN 978-3-88221-726-1, € 10,00

Trotzdem - Pourtant
Während Jean-Paul Sartre eine gesellschaftliche Revolte, die im historischen Ziel des Kommunismus gipfeln sollte, präferierte, war für Camus die Revolte ein permanenter Prozeß, der nie zu einem letzlichen Ziel würde führen können. Im ewigen wieder & wieder Aufstehen bleibt dem absurden Menschen nur sein höhnisches »Trotzdem« als Schlachtruf. HD

Albert Camus - Der Mensch in der Revolte
rororo - Taschenbuch, 352 Seiten, 9,95 €
978-3-499-22193-4

Ein Buch wie eine Waffe
Kein anderer deutscher Autor hat seinen Zorn über die kaputten Verhältnisse in den Großstädten der frühen 70er Jahre so radikal artikuliert und damit ästhetisch wie inhaltlich einen zentralen Nerv seiner Zeit getroffen, wie R. D. Brinkmann. Man müßte »Rom, Blicke« und seine »Erkundungen« ins Französische übersetzten und den kids in den banlieues dort schenken, damit sie sehen, daß ihr Zorn eine Geschichte hat, die über ihren Horizont hinausreicht. HD

Rolf Dieter Brinkmann
Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand:
Träume. Aufstände. Gewalt. Morde
REISE - ZEIT - MAGAZIN. Die Story ist schnell erzählt
rororo
Taschenbuch, 416 S., 19,00 €
978-3-499-25169-6


 



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