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Artikel online seit 26.11.12

Gefährtenlese

Maurice Blanchots Essaysammlung »Die Freundschaft«
 

Von Peter V. Brinkemper



 

Mit Maurice Blanchots (1907-2003) »Die Freundschaft« ist nun erstmals die Georges Bataille gewidmete Sammlung von 29 Essays im kompletten Original-Umfang, von einem Übersetzerteam ins Deutsche übertragen, bei Matthes & Seitz in Berlin erschienen. Blanchots Werk, in der deutschsprachigen Publikationspolitik oft bis zur Unkenntlichkeit zerstreut und ausgedünnt, nimmt hier die Gestalt eines wuchtigen, zugleich historischen wie zeitlos erratischen Kompendiums des französischen Geisteslebens an.

Die Texte wurden ursprünglich aus konkretem Anlass geschrieben: Kommentare, Rezensionen, Porträts, Monographien, Kritiken, Skizzen und Studien, im Zeitraum zwischen 1950 bis 1970. Laut Gerhard Poppenberg wurden sie in der von Blanchot autorisierten 1970er Fassung für die Édition Gallimard bewusst nicht mehr mit Abfassungs- und Publikations-Daten gekennzeichnet sowie stark überarbeitet, im Sinne eines durchgehenden literarisch-diskursiven Duktus der heterogenen Rätselhaftigkeit und der polyperspektivisch vertiefenden Thematisierung. Auf diese Weise stellen sie die etwas apokryphe Luxusausgabe eines intellektuellen Mosaiks dar, das die Kontinuität, Fragmentarisierung, Divergenz und den Widerspruch eines verschlungenen, solistischen und kollektiven Denkens über zwei Jahrzehnte in den Insiderkreisen der hohen, philosophisch-politisch aufgeladenen französischen Literatur und Publizistik spannungsvoll vereint.

Mit dem 9. Juli 1962 fiel der Todestag des Freundes Bataille ziemlich genau ins Zentrum der nun nicht mehr sichtbaren Chronologie der Texte. Weitere Autoren, Künstler, Redakteure und Multiplikatoren wie Camus, Vittorini, Buber und Giacometti, Paulhan verstärkten mit ihrem Ableben in den 1960ern ebenfalls die imaginäre Zone einer postmortalen Transgression auf dem Höhepunkt einer lebendigen und doch sich selbst unwirklich werdenden späten Moderne, wie sie bereits im Verhältnis von Kafka und Max Brod zwischen selbstkritischer Zerstörung und ungehorsamem Bewahren präfiguriert ist.

»Über die Freundschaft« ist insofern Symposion und Trauerrede, philosophischer Nekrolog einer von Vergänglichkeit und Diskontinuität erschütterten fröhlichen Zeitgenossenschaft gegenüber der Möglichkeit von Treue und Untreue, Rettung und Verrat, im Moment des Gelingens und des bitteren Verlustes. Im Zeichen von Phänomenologie, Surrealismus, Neorealismus, Existentialismus, Strukturaler Anthropologie, Nouveau Roman, der Erfahrung des Absurden und der definitiven Politisierung im Mai 1968, dem »Nous sommes tous des juifs allemands« (Wir sind alle deutsche Juden), fühlte sich Blanchot, nicht zuletzt als Lesender und Schreibender, mit der Präsenz bestimmter Personen, ihrem Einfluss und ihrem Werk glücklich verbunden. Im Verlust empfindet sich diese Zeitgenossenschaft selbst tödlich verwundet und nur noch wie auf Widerruf im weiteren Leben und Denken existent.

Die Freundschaft über den Tod und den Abbruch der Kommunikation hinaus fordert die Figur der Diskretion heraus, die Diskretion aus der erlebten und gelebten Nähe und Ferne (nicht nur zum anderen, auch zu sich selbst). Sie wächst im Abhandenkommen zur vollen Distanz heran, die das Denken, das Leben, das Werk und den Diskurs noch in der Existenz nach der Existenz ermöglicht, statt sie in der Trivialität der angeblich alles ausplaudernden und den erstorbenen Willen des Auteurs Manuskript für Manuskript total unterwerfenden Literaturgeschichte (für Blanchot »der schlimmsten aller Geschichten«) abzuwürgen. Der Tod wird zur antipositivistischen Figur einer subtilen Metahermeneutik und kryptischen Poetik: »Solange der, der uns nahesteht, existiert, und mit ihm das Denken, in dem er sich behauptet, öffnet sich uns sein Denken, aber geschützt durch eben diese Beziehung, und das, was es schützt, ist nicht nur die Beweglichkeit des Lebens (das wäre wenig), sondern das was die Fremdheit des Endes an Unvorhersehbarem in das Denken hineinträgt.« Die Gedanken und die Dinge verwandeln sich «in reine Gegenwart«, »die Gegenwart des Anderen in seiner Fremdheit, das heißt in seiner radikalen Nicht-Gegenwart«, in der Oberfläche und Tiefe, Leblosigkeit und Unendlichkeit in einem drohend-freundlichen Gast-Spiel des Absoluten aufeinander treffen, in einer archäologischen Schichtung oft unauffälliger, aber weitreichender Erfahrungen des Lebens, unterhalb der gewohnten Klischees, Methoden und Techniken der vorschnell klassifizierenden Analyse.

Modell für diese Tiefensedimente von Erfahrung sind die Höhlenmalereien in Lascaux und Altamira und die in ihnen aufbewahrte vorzivilisatorische Verzweigung der zugleich leidenschaftlichen und rationalistischen Jägerkillermenschenaffen auf dem Weg zum Homo Sapiens gegenüber dem allzu friedlichen und vielleicht sogar unkünstlerischen und nichttransgressiven Neanderthaler. Maurice Blauchots Freundschafts-Buch ist ein Plädoyer für den nicht-verfügenden, mit allen Sinnen, Herz und Hirn nachspürenden Modus der Fährtenlese im Umgang mit dem tieferen Gehalt von Leben, Kunst und Literatur, die sich der Krankheit von musealer Historisierung und medialer Beschleunigung in die Brunnen und Katakomben der längst nicht vergangenen Vergangenheit zwischen Barbarei und Zivilisation entzieht. Was seit dem Akademiebetrieb ab den 1980er Jahren im poststrukturalem Denkgestus gelegentlich allzu manieriert oder schematisch daherkommt, erscheint hier noch als vitale Intuition. Unerhört klingt die Überlegung, dass die barbarische Grausamkeit der Museen, Meisterwerke an einem Ausstellungsort spektakulär zusammenzuräubern, an dem ihre Wahrnehmung unmöglich werde, die Bibliotheken noch nicht erreicht habe: Noch zwinge man uns nicht, »all die Bücher zugleich zu lesen«.

Die Suchmaschinen haben diesen Traum eines vollkonzentrierten, tastenden Lesens in Klausur mittlerweile fast ausgehöhlt, in der Plünderung der Bände und in der Entropie des Geschwätzes. »Geschwätz zerstört das Schweigen und verhindert gleichzeitig das Sprechen.« Blanchot möge uns helfen, wieder lesen zu lernen. Für ihn ist der Übersetzer »der heimliche Meister der Sprachendifferenz, nicht um sie aufzuheben, sondern um sie zu nutzen, um in seiner Sprache, durch das Zufügen gewaltsamer oder subtiler Veränderungen, eine Präsenz dessen zu wecken, was an ursprünglich Differentem im Original vorhanden ist.« Dann wäre aber der »gebührende Abstand«, den ernstzunehmende Autoren von ihren Lesern auch in der Originalsprache verlangten, bereits jener Raum des überschauenden Wahrnehmens, Übersetzens und Verstehens, die über die heutige kurzschlüssige und augenblicksverliebte Selbstbestätigungs- und Konsumliteratur weit hinaus gehen.
 

Maurice Blanchot
Die Freundschaft

428 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
Aus dem Französischen von Uli Menke, Ulrich Kunzmann u.a.
Mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg
Matthes & Seitz Berlin
ISBN: 978-3-88221-543-4
Preis: 39,90 € / 53,90 CHF

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