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Ein großer Gesang

»Welch' ein Glaube an das Schriftliche! Vielleicht der letzte
Glaube überhaupt?«
Mathias Énards epischer Roman »Zone«
beschreibt das Leben & Sterben in den Kriegen rund um das
Mittelmeer von Homer bis heute.

Von Lothar Struck
 

Fast 600 Seiten eine Suada ohne Punkt in 21 Kapiteln (plus drei Kapitel "Zitate" aus einem fiktiven Buch aus dem libanesischen Bürgerkrieg). Kapitel, die über 40, 50 und mehr Seiten gehen – bestehend nur aus einem einzigen Satz; eine Bleiwüste, in der sich der Leser zuweilen verirrt, verirren soll, ganz schnell taucht er dort hinein, geht gelegentlich unter, behauptet sich dann doch, in dem er Stellen nochmals liest (und nicht weiß, wo er beginnen soll). Und er kann nicht ablassen von diesem inneren Monolog, den wilden Assoziationen, historiographischen Einschüben, Gedankenketten, (Liebes-)Beichten, Götterbeschwörungen, Schimpf-, Hass-, Ekel- und Schmähtiraden auf der Zugfahrt von Mailand nach Rom am 8. Dezember 2004, als die Fahrt noch sechseinhalb, sieben Stunden dauerte (und der "Euro Star", der es in drei schafft, noch nicht fuhr).

© Georges Seguin, GNU Free Doc License
Dabei wird der Leser zum Suchenden, Forschenden, fast zum Detektiv, längst bevor er erfährt, dass hier ein Söldner und späterer internationaler Spitzel sinniert. Jemand, der Mitte der 1990er Jahre nach vier, fünf Jahren kroatisch-serbisch-bosnischen Kriegen und einer kurzen Zeit im Verbannungs-, Zuflucht- und Folterort Venedig in einen Nachrichtendienst wechseln konnte, beginnend in der Hölle Algeriens als drittrangiger Aktenführer, in einer Welt von lächelnden Schlächtern und Mördern, die Kindern die Kehle durchschnitten, mit Namen, die ich nicht unterscheiden konnte. Da hatte er die Kalaschnikow gegen weit subtilere, aber ebenso wirksame Tötungsmaschinen eingetauscht, Treibjagden, Verstecke, Verhöre, Denunziationen, Deportationen, Erpressungen, Kuhhandel, Manipulationen, Lügen, die mit Morden endeten, mit zerstörten Leben, in den Schmutz gezogenen Menschen, gebrochenen Lebensläufen, ans Licht gezerrten Geheimnissen. Von Agentenromantik keine Spur; wer hier die gängigen Klischeebildchen erwartet, soll lieber die Lektüre mit den üblichen Lesezirkel-Verdächtigen weiterführen.

Krieg ist Handwerk

Auch als Kofferträger bleibt der Krieg präsent. Dabei vermischen sich eigene Erlebnisse mit den Ergebnissen des Agentendaseins, all diese Gesichter schieben sich jetzt übereinander, die Entsetzten Enthaupteten Verbrannten von Kugeln Durchsiebten von Hunden oder Füchsen Angefressenen Amputierten Verrenkten Stillen Gefolterten Gehängten Vergasten, die meinen und die der anderen, die Fotos und die Erinnerungen Köpfe ohne Körper Arme ohne Körper leere Augenhöhlen ihre Gesichtszüge sind immer dieselben, es ist eine ganze Menschheit. So geschieht es einem ehemaligen Kämpfer für den unabhängigen Staat Kroatien; seiner Mutter gefallend, der geborenen Kroatin, die in ihrer Wohnung stets ein Foto von Ante Pavelić aufgestellt hatte und für die Tudjman der neue Befreier aus dem Joch Titos war. Zuweilen bekommt dieser Dr. Caligari des 21. Jahrhunderts etwas vom Stahlgewitter-Jünger, bezeichnet sich selber mehrfach als Insektenforscher (eine zynische Anspielung auf die Agentenexistenz und natürlich auch auf Jünger) und im Gegensatz zu seinem viril-wahnsinnigen Kumpel Andrija, der in einer skurrilen Situation erschossen wird und dem jungen Vlaho, dessen abgeschossener Arm nicht wieder angenäht werden kann, handelt hier kein Überzeugungstäter. Krieg ist Handwerk, nein: Sport; eine sportliche Auseinandersetzung, mit Regeln – und sei es die Regellosigkeit - in der jeder für sich das Recht beansprucht (und niemand so genau vermag zu sagen, wer denn nun wirklich Recht hat). 

Irgendwie faszinieren ihn diese Gesinnungs- und Überzeugungstäter, diese Kriegsversessenen, aber ohne die schnöselig-kühle Attitüde des Maximillian Aue bzw. dessen Schöpfers (die Parallelen, die der Verlag zu den "Wohlgesinnten" ziehen möchte, weisen in die falsche Richtung). Ständig wird zwischen Anekdotischem, Fiktivem und Historischem changiert. So verlegt er das wenige Tage vor dem Zusammenbruch 1945 tatsächlich auf dem Schloss der Gräfin Batthyány in Rechnitz stattgefundene Gefangenenerschiessen als perversen Höhepunkt eines Festes (wie ist es, einen Menschen zu töten?) auf das Anwesen einer Herzogin in die Nähe von Triest; der Eindruck der sich im Todeskampf krümmenden Sterbenden, der vor Angst und Vergnügen zitternden Frauen bleibt haften – auch bei den Mördern.

Er weiß alles über sie und lässt ein Panoptikum der Barbaren Revue passieren: Eduardo Róza-Flores, Robert Brasillach, Maurice Bardèche, Le Pen-Vorbild Millán Astray (der Soldaten-Goebbels, der so gerne Berber enthaupten ließ); Hafez al-Assad; "Oberst" Ghaddafi; Yassir Arafat; Maks Luburić (Maks der Metzger, Leiter des Lagers Jasenovac); Tihomir Blaškić (kroatischer Kriegsverbrecher, dessen Berufung vor dem Internationalen Gerichtshof Erfolg hatte und der nun statt zu 45 Jahren nur noch zu auf neun Jahren Haft verurteilt und schon wenige Tage später freigelassen wurde); Franz Stangl; Alois Brunner (und sein Leben in Syrien); Hess (das Geburtshaus in Alexandria!) und viele andere mehr. Waffenfetischisten, Faschisten, Nationalisten, Diktatoren, Massenmörder; ja, auch Nazis, aber spätestens hier kommt dann doch so etwas wie Abscheu dazu. Nur wenige Figuren bestehen, wie etwa Alexander I. von Jugoslawien, der in Marseille ermordet wird und vielleicht dadurch in milderem Licht erscheint.

Die Dichotomie Opfer versus Täter existiert nicht weil die Rollen je nach Schicksalslauf austauschbar sind; jeder nimmt zumeist beide Rollen ein (wie man schon beim großartigen Aleksandar Tišma nachlesen kann). Énards Figuren erzeugen daher selten eine Form von Opferempathie wie etwa bei jenem Francesc Boix (Paco), dem KZ-Fotografen, der in Prozessen als Zeuge der Anklage auftrat und auf die Schinder mit dem Finger zeigte und früh, 1951 mit 30, verstarb, obwohl er schon Jahre vorher in Mauthausen "gestorben" war. Aber auch Boix wird "schuldig", weil er die Lagerprostitution, die sonst nur den Aufsehern und Kapos zuteil wird, in Anspruch nimmt (und sich gleichzeitig davor ekelt). Eine bewegende Szene und zugleich Beispiel, dass eine implizit moralisierende Sicht Phänomene und deren Dimension nicht zu erfassen vermag.

Und auch die sogenannten Intellektuellen kommen natürlich nicht gut weg: Genet im Libanon; William Burroughs, Waffennarr und Mörder seiner Frau; natürlich Ezra Pound, der faschistische Prediger von Radio Roma, ein geistesgestörte[r] Dichter; Joyce in Triest, der ein Nachtstück schreiben wollte, sechshundert Seiten eines Traums von allen Träumen, allen Sprachen allen Bedeutungsverschiebungen allen Texten allen Gespenstern allen Lüsten, das Buch wurde lebendig flackernd schillernd wie ein Stern, dessen Licht uns lange Zeit nach seinem Tod erreicht, und dieser Stoff zerfiel in den Händen des Lesers zu unverständlichem Staub; Lowry, der Säufer. "Harmlose" Protagonisten wie Paul Bowles oder Italo Svevo sind nur Randfiguren. Man ahnt jetzt, warum.

Geschichte mit dem Gewehr in der Hand

Nach 39 Seiten erfährt der Leser, dass der Reisende unter der falschen Identität des in Frankreich in einer Irrenanstalt einsitzenden Yvan Desroy lebt, fährt, manchmal sogar denkt. Zweihundert Seiten später folgt der richtige Name: Francis Servain Mirković; französischer Staatsbürger. Die Mutter einst hoffnungsvolles Wunderkind am Konzertflügel (sie spielt 1951 als Zwölfjährige und vollkommen unwissend vor einem auserlesenen Kreis von Falangisten und Ustaschi in Madrid; welch ein Parkett und welch eine Stelle im Buch, die er, der damals Ungeborene, da imaginiert), der Vater Naturwissenschaftler und in den 50er Jahren versiert im Perfektionieren von Elektrofoltermethoden, die der französische Staat in Algerien praktizierte; ein Mann, der im Alter zum großen Schweiger mutierte, hilflos seiner Frau ausgeliefert, die ihn ins Reich des Infantilen zurückschickte und dann, als er starb, zur professionellen Witwe wurde.    

Nachträglich ist es fast zwangsläufig, wenn Mirković entwickelt wie mich alles zum Krieg drängte, war es doch für einen zur Gewalt erzogenen Jungen, der in seiner Kindheit durch Schule und Comichefte die Scheu vor Waffen verloren hatte, der aufgewachsen war mit der Jeremiaden seiner Mutter, die ihn den Glauben an Gott und eine unterdrückte Nation lehrten, ganz selbstverständlich, dass er von den Tränen seiner Erzeugerin getrieben und von Franjo Tudjman dem Retter gerufen eines Tages mit einem Sturmgewehr in der Hand vor Osijek stehen würde, später (oder vorher?) Vukovar, Tuzla und vor dem schönen mörderischen Travnik. Mittendrin, mal gegen die verhassten Serben und auch gegen Muslime; je nach Lage. Aber selten erfolgreich (die "reguläre" Armee kämpfte an der "richtigen" Front): die vorherrschende Bewegung ist die des Rückzugs und während man rannte, war man immer auf die Kugel gefasst, die einen stoppen würde, oder auf die Granate, die einen kopfüber durch die Luft schleudern würde, die deine Gliedmaßen, deine Ausrüstung, deine Gedärme in die Wolken schießen, dich wie einen Propheten aufschlitzen oder auf die aufgewühlte Erde schmettern würde, aber wir hatten alle den rechten Glauben, wir schrieben alle Geschichte mit dem Gewehr in der Hand und den Füßen in schmuddeligen Socken, mit schwerem Atem und stolzem Blick für Gott und Vaterland, um unsere Toten zu rächen…und schließlich für unsere Kameraden und zum Vergnügen. Menschen, die wild mordeten, noch nicht einmal auf Befehl oder Anweisung, sondern aus freiem Willen, selbständig. Die gleichen Menschen, die nach dem Tod eines Pferdes, das zufällig von einer Maschinengewehrsalve niedergemäht worden war, stundenlang ununterbrochen heulte[n]. Menschen mit Verwundungen der seltsamsten Art wie bei einem, in dessen Körper acht fremde Zähne und siebzehn Knochensplitter steckten; Überreste [eines] armen Kerls, der vor ihm von der Explosion zerrissen worden war und sich in eine menschliche Granate verwandelt hatte. Menschen mit Filzläusen von den Vergewaltigungen. Und da gab es noch eine "Sache" im Lašva-Tal und der Mord an einem grinsenden Bosnier, einem Muslimen, dem Mirković eigenhändig die Kehle durchgeschnitten hatte und zwar so, dass der Kopf abgetrennt wurde (keine Ahnung, ob das mit einem Hieb möglich ist). Und die sich beim spritzenden Blut einstellende Befriedigung.

Erzählt wird dies alles mit wuchtigen, expressionistischen Bildern. Und immer wieder gibt es Rückfälle, in denen Mirković der Faszination des ewigen Kreislaufs von Hass und Rache erliegt: Hass, die Triebkraft in diesem Universum des Leidens und Rache, wenn Andrija drei Serben lange mit Kugeln durchsiebt, auf der Stelle, ohne zu zögern, und ihnen dabei in die Augen [sieht], fünfzehn Magazine in die Brust eines jeden. Hass und Rache konstituieren diese Welt, diese Zone, denn unser Land ist dort, wo unsere Gräber sind, unsere Mörder, die Mörder von der anderen Seite des Spiegels, warten auf ihre Stunde, und sie werden kommen, sie werden kommen, weil sie schon gekommen sind, wie wir schon unterwegs waren, um ihnen die Ohren zu kupieren, unsere Pflöcke in den Bauch ihrer Frauen zu rammen und ihnen die Augen auszureißen, eine Welle brüllender Blinder wird aufbranden und nach Rache schreien, sie werden kommen und ihre Gräber und die Gebeine ihrer Toten verteidigen.

Ein Lauf, den niemand durchbrechen kann, dem alle ausgeliefert sind, ein Lauf, der die Frage nach einer Verantwortung des Individuums nicht stellt, weil alles unausweichlich vorgegeben ist und daher (aber nicht nur) die zuweilen penetranten Rekurse auf die griechische Götterwelt, die unaufhörlich aufmarschieren. Es wimmelt von Beschwörungen von Athene (der Mutmacherin), Hades, den Moiren, natürlich die Pythia, Hektor und Äneas. Apollon schickte Mirkovićs Vater den Krebs, natürlich ohne dass Machaons Skalpell etwas dagegen tun konnte. Und Thetis die Liebevolle tröstet Achilles, ihr Kind, indem sie ihm die Mittel zur Rache gibt. Man schläft nicht, sondern versucht Morpheus zu überzeugen und das verfluchte SCHICKSAL liegt natürlich bei Zeus. Überall entdeckt dieser Kerl Mythen, Zeichen, Unausweichliches; im Krieg bei Serben und Kroaten, die ihre ganze Wut zu entfesseln und ihren ganzen Durst nach mythischer Menschlichkeit, Gewalt und Begierde zu stillen wussten.

"Die Massaker der anderen sind immer weniger lästig"

Die ganze Zone, das Mittelmeer, wird so wieder zum mythischer Raum. Von Tanger, der Wächterin an der Unterlippe der Zone bis Gaza, dem einzigen Ort im Mittelmeerraum, wo man keinen einzigen Touristen auf den riesigen Stränden antrifft, dieser Hauptstadt der Trostlosigkeit, aber es geht weiter, der Libanon und dieser unaufbereitete Bürgerkrieg der 80er Jahre bis zum dreifach-heilige[n] Jerusalem. Und alles was von oder nach der Zone kommt und das, was sich in "ihr" abspielt saugt der Amateurhistoriker obsessiv auf, setzt es in Verbindung mit anderen Ereignissen, findet Geschichtslinien, Zwangsläufigkeiten und Korrelationen von 218 vor Christus über die Seeschlacht von Lepanto (Cervantes!) bis zu den Judenverfolgungen in Griechenland (eine ergreifende Person entdeckt er da, die sich am Ende des Krieges, zurückkehrend, vor lauter Einsamkeit nicht einmal mehr selbst umzubringen vermag), den Genozid an den Armeniern, die wohlfeile Entrüstung der Franzosen, die, so Mirković, sich besser um ihre 500.000 bis 1 Million Toten in Algerien kümmern sollten (in Frankreich liegen genug Leichen) und eine der seltenen Zynismen in diesem Buch: die Massaker der anderen sind immer weniger lästig, das Gedenken ist immer selektiv und die Geschichte immer offiziell. Plötzlich verliert sich der Erzählstrom zurück zu Napoleon, dann das Explodieren des Balkans 1991, wieder zurück zu den aus Kroatien fliehenden, im franquistischen Spanien Rettung suchenden (und findenden) Balkanmörder des Zweiten Weltkriegs, die Verstrickungen der Nazis in Italien und Slowenien, die Geschichte ist eine Erzählung von reißenden Tieren, ein Buch, in dem auf jeder Seite Wölfe vorkommen. Und überall tönt in Variationen dieses Lied wie eine Hymne: "My Way".

Oder er imaginiert die Eltern des ihm vollkommen unbekannten Speisewagenkellners und deren Lebensläufe. Immer weiter geht dieses spiralförmige Erzählen, von der Betrachtung der Flasche Bier die er im Zug trinkt mit dem fast programmatischen Namen "Sans Souci", kommt er auf die Stadt Udine, wo das Bier gebraut wird oder der Firmensitz ist, von Udine zu Franz Stangl, der dort gegen Kriegsende Quartier bezogen hatte, von dort auf die Lager Bełżec, Sobibór und Treblinka, dann zu Globocnik, diesem Techniker der Vernichtung, schließlich Triest, Globocniks Geburtsstadt und dann wieder zu seinen Kumpels Andi und Vlaho, mit denen er dort 1992 auf Kneipentour war, diese "trois jeunes tambours". Es gibt nichts, was nicht erwähnenswert wäre; jedes Mosaiksteinchen wird gedreht und gewendet. Dabei geht es nur selten chronologisch zu; die Sprünge sind enorm, die Verschachtelungen durch die eigenwillige Satztechnik und suggestive Interpunktion (beispielsweise werden Aufzählungen nicht durch Kommata getrennt) sehr anspruchsvoll. Wobei festzustellen bleibt: Es hakt nirgendwo; das ist wunderbar virtuos und wunderbar schrecklich zugleich (dabei ein Hoch auf die Übersetzer Holger Fock und Sabine Müller).

Da sitzt er nun in der ersten Klasse im Zug und über meinem Sitzplatz ist ein kleiner Koffer an der Gepäckablage angekettet, was enthält er wirklich, warum wollte ich die Zone dokumentieren beginnend mit Harmen Gerbens, dem Säufer von Kairo, alle diese Bilder, diese Namen, einschließlich meinem, die Erinnerungen an Jasenovac, die zahllosen Massakrierten von Mauthausen, die Dokumente über Globocnik und Stangl in Triest, die Abzüge von den Folterungen meines Vaters, die chiffrierten osmanischen Telegramme an Talât Pascha, die spanischen Listen der Massengräber von Valencia, die Massakrierten von Schatila, das Gelächter von Alois Brunner dem Senilen in Damaskus, bis zum dem schrecklichen Foto aus Bosnien, mögen sie ihre Ruhe finden, möge ich meine Ruhe finden, da bald alles zu Ende sein wird, möge die Apokalypse näher rücken. Die Apokalypse, die ihm ein seltsamer Mann auf dem Bahnsteig von Mailand vorhersagt. Soll dieser Koffer, der an den Vatikan verkauft werden soll, die Apokalypse aufhalten? Mirković will dies dem Kaiser geben, der Ewigkeit geben und das Lösegeld für meine Feigheit kassieren. Eine große Beichte in Form von unzähligen Dokumenten - und dieses Buch, diese Suada vielleicht ihre Vorrede? Welch' ein Glaube an das Schriftliche! Vielleicht der letzte Glaube überhaupt?

Bericht über Gewalt und Sehnsucht

Und natürlich blickt er auf die Frauen zurück, "seine" Frauen; es sind zwei, mit denen ein anderes Leben möglich gewesen wäre: Marianne und die Kollegin Stéphanie. Aber es gibt keine Erlösung für ihn; Marianne weckt ihn beim Verlassen zwar recht unsanft mit einem Tritt aus seinem Selbstmitleid (fast die einzige Stelle, die arg machismo-kitschig ankommt). Und Stéphanie kann mit ihrem ungebildeten Neofaschisten dauerhaft nichts anfangen; sie, die nur zwei Bücher gelten lässt (die Reise von Céline und die Suche von Proust; ausgerechnet Céline), kann ihren moralischen Monitor nicht auch noch im Privatleben ausschalten. Niemand bleibt mehr, denn Saschka, die Malerin der Seele, der blonde Engel von Jerusalem, Saschka ist nicht von dieser Welt; er entsagt sich ihr, um sie nicht mit sich zu beschmutzen. Ein Liebesbeweis, den sie niemals bemerken wird.

So fährt denn der Zug im Schritttempo über Millionen Leichen die eine neben der anderen liegen, das Holz der Bahnschwellen, die Leichen sind ein Stück Holz, wie Stangl in Treblinka sagte, dasselbe sagte mein Vater in Algerien, der Frondienst des Holzmachers, des Schwellenlegens, vom noblen Holz, aus dem man Ikonen fertigt, zu den Rundstämmen der Scheiterhaufen, die Erinnerungen in einem Graben aneinanderreihen. Und Mirković, dieses abscheuliche, paranoide, morbide, nekrophile, narzisstische, larmoyante, geldgierige und schwermütige Scheusal, der sich selber als Odysseus sieht der sich vor dem Frieden fürchtet irrlichtert vom Faschismus zum Zynismus zum Widerstand zum Kommunismus…bevor er am warmen Busen der apostolisch- und römisch-katholischen Kirche in einem Grab…Ruhe finden möchte. Da ist sie, diese Symbolik; vielleicht manchmal ein wenig dick aufgetragen: Die Zugreise von Mailand, der Hauptstadt des italienischen Faschismus, nach Rom, in den Vatikan.

Und es zeigt sich: In den Mäandern der Moderne ist der Mensch nackt und im Grunde erzählen wir alle dieselbe Geschichte, einen Bericht über Gewalt und Sehnsucht. "Zone" ist dieser Bericht; einer der Berichte. Ein bewegendes, ergreifendes, gleichzeitig fürchterliches Buch, getränkt mit Motiven aus Homers "Ilias" (nicht nur wegen der 24 Kapitel), Thukydides' "Geschichte des Peloponnesischen Krieges", Tišmas "Gebrauch des Menschen", vor allem Pounds "Cantos" und vielleicht Joyces' ungeschriebenes "Nachtstück". Im unerbittlichen Aufzeigen der Ausweglosigkeit eines friedvollen menschlichen Zusammenlebens ist "Zone" einer der furiosesten Romane der letzten Jahre. Ein buchstäblich gnadenloses, ein verstörendes Buch. Joyce-Adepten begehen am 16. Juni jeden Jahres den Bloomsday. Man sollte zukünftig auch einen "Jour de Zone" begehen - an jedem 8. Dezember. Mindestens. Lothar Struck

Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Mathias Énard
Zone
Roman
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Berlin Verlag
608 Seiten, Gebunden
ISBN 9783827008862


Leseprobe

 


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