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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 29.09.13

Nicht Fisch, nicht Fleisch

Orlando Figes' Werk »Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne«
schlingert zwischen wissenschaftlichem und literarischem Anspruch –
und scheitert in beiden Bereichen

Von Christiane Pöhlmann



 

Vor nunmehr zwanzig Jahren, im Herbst 1993, wurde im Sowremennik-Theater in Moskau der erste Teil von Jewgenia Ginsburgs Autobiographie auf die Bühne gebracht, im Programmheft ausdrücklich den Opfern der Stalin'schen Repression gewidmet. In dem Stück geht es darum, wie die junge Historikerin verhaftet wird, ins Butyrki-Gefängnis kommt, von wo aus sie dann die Reise in ein Lager antritt. Bereits im Gefängnis trifft sie auf die unterschiedlichsten Frauen, so eine alte Bäuerin, die fest davon überzeugt ist, eingesperrt worden zu sein, weil sie "Traktoristin" ist. Dabei hatte sie doch nie im Leben einen Traktor gefahren! Der eigentliche Anklagepunkt, nämlich "Trotzkistin" zu sein, sagte der Frau rein gar nichts.

Am Ende der Aufführung gab es keinen Applaus. Stattdessen stand der Saal auf und schwieg. Einige brachten große Blumensträuße, ein Luxusgut in jenen wirtschaftlich desaströsen Jahren, auf die Bühne, viele der Zuschauerinnen und Zuschauer, aber auch der Schauspielerinnen und die Regisseurin weinten. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich eine Theateraufführung von solch beklemmender Wucht erlebt. Aber auch von solch einer Dankbarkeit, dass dieses schwierige Thema behandelt wurde. Das Interesse, sich der eigenen Geschichte zu stellen, war mit Händen greifbar. Die Organisation Memorial war damals eine bekannte Institution, durch Moskau waren nach dem zweiten Putsch die Panzer gerollt, das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit dem Gestern und dem Heute war stark wie selten.

Mittlerweile hat sich die Situation bekanntlich gewandelt. Memorial ist in Russland weitgehend in Vergessenheit geraten, wird unterdrückt, das politische Klima ist Diskussionen, na ja, nicht gerade aufgeschlossen.

Im Jahr 2012 erschien nun sowohl im englischen Original wie auch in der deutschen Übersetzung das neueste Werk von Orlando Figes, "Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne", in dem er die Korrespondenz zwischen dem Gulag-Häftling Lew und der Moskauerin Sweta auswertet. Wie fast alle Werke Figes' wurde auch dieses von der deutschen Kritik wohlwollend aufgenommen. Doch zu Recht?

Der Autor als fragwürdiger Kommentator

Dem Band liegen 1246 Briefe zugrunde, die sich Lew und Sweta während seiner Zeit im Lager Petschora gegenseitig geschrieben haben. Sie werden in Auszügen zitiert oder zusammengefasst sowie kommentiert. Und schon beginnen die Probleme: Figes macht nicht immer deutlich, wann er die Briefe zusammenfasst und wann er sich erklärend einschaltet. Ganz und gar verwirrend wird es dann, wenn er im Abspann einem Übersetzer dankt, der ihm "wertvolle Einblicke in die Briefe verschaffte". Einblicke also. Wie ist das zu verstehen? Hat der Übersetzer Figes Verständnislücken erschlossen, weil dessen Russisch nicht ausreichte? Oder hat er eine Vorauswahl für ihn getroffen?

Doch weiter: Das Briefkonvolut wird durch Interviews, die Figes mit den beiden führte, und die Autobiographie Lews ergänzt. Meist ergreift indes Figes selbst das Wort. Damit konterkariert er freilich seine eigene, im Vorwort formulierte Einschätzung, diese Briefe seien von außerordentlichem Wert, weil sie die "einzige große, in Echtzeit entstandene Aufzeichnung des Alltagslebens" seien.

Diese Einschätzung gilt es im Übrigen ohnehin kritisch zu betrachten, denn Lew und Sweta chiffrierten ihre Briefe teilweise, da sie die Zensur fürchteten. Andere Darstellungen mögen also im Nachhinein entstanden sein – dafür aber frei von Selbstzensur.

Erkenntniswert und literarische Qualität

Lassen sich die bisherigen Vorbehalte vielleicht noch als wissenschaftliche Korinthenkackerei abtun, wird es schon schwieriger, Kritik beiseite zu fegen, sieht man sich den Text genauer an. Figes hätte den Briefwechsel ja durchaus im klassischen Sinne herausgeben können, also ungekürzt oder in Auswahl, jedoch versehen mit einem Anmerkungsapparat. Davon hat er bewusst abgesehen, um einer paraphrasierenden Präsentation den Vorzug zu geben. Zugleich legt er selbst eine literarische Latte auf, indem er für den Titel eine Zeile aus einem Gedicht Anna Achmatowas wählt. Folglich ist nicht nur nach der Klarheit, sondern auch nach der sprachlichen Qualität zu fragen. In beiden Fällen sind ihm gravierende Vorwürfe zu machen: mangelnde Klarheit und fehlende Plastizität. Zwei Beispiele sollen sie illustrieren.

Im Zusammenhang mit den Jahren 1937/1938 hält Figes fest: "Der Terror durchdrang die gesamte Gesellschaft. Jede Lebenssphäre war betroffen. Nachbarn, Kollegen, Freunde und Verwandte konnten über Nacht als 'Spione' oder 'Faschisten' angeschwärzt werden." Diese Darstellung fügt sich durchaus zu dem Bild, das er in "Die Flüsterer" gezeichnet hat, ist auch ansonsten keine neue Erkenntnis. Noch etwas stärker aus dem Mustopf kommt er allerdings, wenn er meint: "Der Gulag bildete einen gigantischen Archipel aus Arbeitslagern und Bauplätzen, Bergwerken und Eisenbahnbaustellen – eine Sklavenhaltergesellschaft, die einen Schatten über die gesamte Sowjetunion warf" – dann jedoch dem Ganzen die Krone aufsetzt, indem er endet: "obwohl tatsächlich nur wenige etwas von ihrer Existenz mitten im Land ahnten." Gab es nun die langen Schlangen von Verwandten vor Gefängnissen, die verzweifelt nach ihren abtransportierten Verwandten forschten, oder gab es sie nicht?

Über diesen Allgemeinplätzen bleiben auch die meisten Figuren blass, letzten Endes sogar Lew und Sweta. Der einzige Moment, in denen das Tragische ihrer Situation wirklich nachvollziehbar und anrührend zutage tritt, ist mit der Situation nach Lews Entlassung aus dem Lager gegeben. Da Lew als ehemaliger Häftling nicht wieder nach Moskau ziehen durfte, Sweta aber in der Stadt bleiben wollte und musste, um ihre kranken Eltern zu pflegen, können die beiden zunächst gar nicht, später nur illegal zusammenleben. (Dies ändert sich erst nach einer Amnestie, 1955, sodass die beiden schließlich heiraten und zwei Kinder bekommen.) Typisch ist jedoch eine Situation wie folgende, als sich ein Milizionär in Swetas Wohnung nach Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung erkundigte. Zu diesem Zeitpunkt lebte Lew illegal bei ihr und befürchtete selbstverständlich Schlimmstes. "Doch der Mann war nur an der Haushälterin interessiert, die sich tatsächlich nicht bei der Polizei angemeldet hatte. Die Situation wurde geklärt, und Lew konnte aufatmen." Schön – aber wie sah diese Klärung aus?

Literarische Gegenbeispiele

In der Kritik und auch im Buch selbst (vom Autor und einer Memorial-Mitarbeiterin) wurde immer wieder betont, der unschätzbare Vorteil dieser auf Briefen fußenden Darstellung liege in der detailgenauen Schilderung "beider Seiten", also des Lebens im und außerhalb des Lagers. Beide Aspekte sind jedoch bereits durch originäre literarische Werke abgedeckt. Zugegeben, sie beleuchten jeweils nur eine Seite der Medaille, dafür aber mit weitaus mehr Detailreichtum, Atmosphäre und sprachlicher Qualität.

Zum einen ist dies die bereits erwähnte Autobiographie Jewgenia Ginsburgs. Lew berichtet immer mal wieder beiläufig vom Wetter, hauptsächlich von den niedrigen Temperaturen, ohne diese Beobachtungen jedoch in einen Zusammenhang mit seinem Lageralltag zu stellen. Wie anders da Ginsburg! Sie beschreibt höchst eindrücklich, wie die Häftlinge zum Appell antreten mussten und voller Hoffnung auf das Thermometer starrten: Zeigte dies unter minus 50° an, wurden sie von der Arbeit entbunden.

Als Beispiel für eine plastische Schilderung des Lebens "außerhalb" – der Situation einer Frau, deren Sohn, ein überzeugter Kommunist, ins Lager kommt – sei zudem der schmale Band "Sofja Petrowna" von Lydia Tschukowskaja genannt (im Deutschen zunächst unter dem Titel "Das leere Haus" erschienen).

Beide Werke sind heute vergriffen, doch sei ihre Lektüre wärmstens empfohlen.
 

Der 1959 geborene Figes steht mittlerweile nicht mehr in ganz so strahlendem Licht da wie noch vor einigen Jahren, als sein Stern als Russlandexperte aufging. Neben unter Pseudonym von ihm verfassten Verrissen von Arbeiten anderer Historiker und Historikerinnen und entsprechenden Lobeshymnen auf die eigenen Produkte ist ihm sein Umgang mit Quellen für das Werk "Die Flüsterer" als unlauter vorgeworfen worden, auch von Memorial selbst.

Die Literaturkritik hat ihm die Gunst bisher jedoch nicht entzogen, selbst bei diesem Werk nicht, bei dem man am Ende nicht mehr weiß, was er eigentlich damit beabsichtigte, außer vielleicht der Liste seiner Publikationen einen weiteren Titel hinzuzufügen. "Schick mir einen Gruß, zuweilen durch die Sterne" erweckt den Eindruck, mit heißer Nadel gestrickt worden zu sein, ist wissenschaftlich ebenso unbefriedigend wie sprachlich/literarisch. Was ein interessanter Ansatz hätte sein können, eine Art Briefprosa, verliert sich in Konzeptlosigkeit. Von der Kraft und Eindringlichkeit, mit der beispielsweise Swetlana Alexijewitsch – dieses Jahr endlich mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gewürdigt! – in ihrer dokumentarischen Prosa besticht, ist Figes Meilen entfernt. Ausdrücklich bleibt hier freilich festzuhalten, dass einzig der Autor kritisiert wird: Das Schicksal von Lew und Sweta ringt tiefen Respekt ab. Dessen Darstellung dagegen umso weniger. Und man soll doch bitte nicht so tun, als sei hier ein Meilenstein in der Lagerliteratur vorgelegt worden. Es sind und bleiben des Kaisers neue Kleider. Noch dazu schlecht genähte.
 

Orlando Figes
Schick einen Gruß,
zuweilen durch die Sterne.

Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors.
Aus dem Englischen und Russischen von Bernd Rullkötter.
Hanser Berlin 2012
384 Seiten
24,90 €

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