Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 



Spiel den Idioten!

Byung-Chul Han über Psychopolitik,
Neoliberalismus und die neuen Machttechniken

Von Jürgen Nielsen-Sikora




 

Einmal mehr legt Byung-Chul Han den Finger in die Wunde der modernen Gesellschaft, die bloß noch aus einer Masse vereinzelter Subjekte besteht, von denen jedes einzelne glaubt, sich von äußeren Zwängen befreit zu haben. Han zeigt, dass dies ein folgenschwerer Trugschluss ist. Denn an die Stelle von Fremdzwängen sind inzwischen die inneren Zwänge getreten, die uns dazu auffordern, unser Ich als fortlaufendes, unabgeschlossenes Projekt zu begreifen. Die neue Freiheit des Könnens aber ruft nur andere Zwänge hervor. Das scheinbar grenzenlose Können hat die alten Gebote und Verbote abgelöst. Der Imperativ der Selbstverwirklichung ist jedoch viel gnadenloser als das Sittengesetz. Denn dessen Ideal ist das sich selbst ausbeutende Leistungssubjekt, das sich eigens Gebote zur Optimierung seines selbst auferlegt ohne zu verstehen, dass am Ende nur seine totale Vereinzelung und Unfreiheit übrig bleibt. Gemeinsames Handeln in dieser Gesellschaft wird nahezu unmöglich. Jeder kleine Rückschlag im Projekt der Selbstoptimierung wird als Katastrophe wahrgenommen und führt zur Aggression gegen sich selbst.

Versagen in der Leistungsgesellschaft produziert Schuldgefühle, die die Freiheit und letztlich auch die Verantwortungsfähigkeit des Einzelnen zerstören. Im System der Leistungsimperative, der Effizienzsteigerung und der unbegrenzten Möglichkeiten ist keine Entschuldung mehr möglich. Dieses unerbittliche System produziert nur noch politisch interesselose Subjekte, die in ihrer Passivität verharren, während die Industrie die Psyche als letzte Produktivkraft entdeckt.

Die neue Psychopolitik fokussiert die Kommunikation und den Konsum der Individuen. Jede Kommunikation wird kontrolliert, jeder überwacht sich - freiwillig - jederzeit selbst. Han sagt in Anlehnung an Bentham treffend: »Jeder ist das Panoptikum seiner selbst.«

Wahres Glück hingegen sei nur im Überschüssigen und Überflüssigen zu finden, meint Han. Das Problem ist, dass heute selbst der Überschuss, das heißt Freizeit und Spiel kapitalisiert sind. Alle sind Unternehmer und Überwacher ihrer selbst. Die Menschen machen aus sich selbst reine Datenpakete. Big Data aber kennt keinen Schluss und keinen Abschluss. Big Data kennt nur ein Ideal, und das ist die Addition. Das Augenschließen gelingt dem Einzelnen allenfalls im Zustand der Erschöpfung. Es ist aber längst kein kontemplativer Akt mehr. Wir werden zusehends zukunftsblind, so Han. Gibt es einen Ausweg?

Mit Gilles Deleuze empfiehlt uns Han: »Faire l'idiot«, spielt den Idioten. Das ist die erste und letzte Funktion der Philosophie und die einzige Möglichkeit, sich von den inneren Zwängen wieder zu befreien. Der Idiot ist für Han (wie zuvor schon für Spinoza, Deleuze und Botho Strauss) der unverbundene, nicht vernetzte, nicht informierte Mensch, eine Art moderner Häretiker, also einer, der über eine freie Wahl verfügt und vom Zwang zur Konformität befreit ist. Wir müssen, so Han, wieder mehr unser häretisches Bewusstsein schärfen, so dass am Ende der idiot savant, der wissende Idiot hervortritt, der mit einer einfachen »Öffnung zum Licht« (Botho Strauss) den neuen Machttechniken etwas zutiefst Humanes entgegensetzt.

Han greift in der »Psychopolitik« insofern auf seine Analysen der »Müdigkeitsgesellschaft« und der »Agonie des Eros« zurück, bietet aber, anders als in den vorangegangenen Essays, eine erfrischende Lösung für die von ihm beschriebenen Probleme an. Sie erinnert ein wenig an Bartlebys mehr als sympathisches Diktum »I would prefer not to.« Es lohnt sich ganz ohne Zweifel, hin und wieder aus der Schusslinie zu treten und sich den inneren Zwängen, die denen der äußeren so erschreckend gleich geworden sind, zu entsagen: »Heute spiele ich den Idioten!«

Artikel online seit 22.12.14

Byung-Chul Han
Psychopolitik
Neoliberalismus und die neuen Machttechniken
S. Fischer
€ (D) 19,99
| € (A) 20,60 | SFR 28,90
978-3-10-002203-5

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste