Home

Termine   Autoren   Literatur   Krimis   Biographie   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Sachbuch   Bilderbuch   Filme   Preisrätsel  





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Die Zeitschrift kommt als
großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage
von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 

Bücher & Themen

Furien im Schlachthaus der Projekte

Über
Byung-Chul Hans postimmunologisches
Panoptikum der
Müdigkeitsgesellschaft

Von Jürgen Nielsen-Sikora



 

Eigentlich war immer schon klar, dass nur mittelmäßige Menschen stets in Hochform sein können. Doch die gegenwärtige Gesellschaft interessiert das wenig. Sie produziert mit ihrem Yes we can-Wahn eine autistische Leistungsmaschine nach der anderen. Eine inhumane Arbeitswelt, die bloß noch Erschöpfte und Kranke ausspuckt, ist die Folge. Every generation got its own disease sang einst die Hannoveraner Band Fury in the Slaughterhouse. In der Tat sind wir Furien in einem Schlachthaus der Projekte, in dem Initiativen, Motivationstrainings und die permanente Aufopferung für den Arbeitgeber auf der Tagesordnung stehen. Parallel hierzu arbeiten die Menschen am eigenen Image und erliegen über kurz oder lang einem Kollaps der Seele. Trotz der Zunahme an Depressionen und Burn-outs propagieren Politiker wie Kurt Beck und Guido Westerwelle oder Unternehmer wie Hans-Olaf Henkel gerne den Slogan: Leistung muss sich wieder lohnen. Ist es da nicht seltsam, dass alle mitziehen beim Wettbewerb der Ego-Unternehmungen? Angefangen von den Chinesischkursen für Kita-Kinder über die Anthropotechnikträumereien eines badischen Übungsleiters bis hin zu den Gentrifizierungsmaßnahmen heruntergekommener Stadtviertel: Brand yourself oder Mach es zu Deinem Projekt lautet die Losung einer ausschließlich von der Ökonomie beherrschten Welt. Die gesamte Arbeitswelt richtet sich am Prinzip Meisterschaft aus und hat folglich mit einem Heer der Ausgebrannten und Frustrierten zu kämpfen. Nur die Politik bildet hier eine Ausnahme. Sie gewährt den Konzernen Kapital für blindes Machwerk.

Warum immer nur Üben, Kämpfen und Gewinnen-Müssen? Mit dieser Frage setzt auch Hans faszinierende Analyse über eine müde gewordene Menschheit ein. Er begreift die Zivilisationskrankheit Erschöpfung als Symptom eines verinnerlichten Leistungsdrucks, der in den Wallfahrtsstätten der neuen, ausnahmslos leistungsorientierten Arbeiterspezies, in Fitnessstudios, Bürotürmen, Banken, Flughäfen, Megastores und Genlabors ausgelebt wird. Die kapitalistische Welt läuft auf Hochtouren. Ihre Botschaft lautet: Jeder kann zum Millionär, zum Superstar für zwei Wochen werden oder wenigstens den Raab schlagen.

An die Stelle der einstigen Disziplinar- und Kontrollgesellschaften, wie sie Foucault und Deleuze skizziert haben, tritt eine völlig enthemmte, hemmungslose Leistungsgesellschaft: Morgens Hamburg, mittags München, nachmittags Rom. Alles ist perfekt im Universum der Dreiwetter-Taft-Ideologien. Alles? Nicht ganz. Denn die Depressiven und Versager haben die Rolle der Verrückten und Verbrecher eingenommen. Anders formuliert: Robert Enke als tragische Figur der Gegenwart tritt die Nachfolge von Johanna der Wahnsinnigen an.

In dieser Welt haben die Menschen einer Gemeinschaft der Lauschenden längst Valet gesagt; sie besitzen keine Toleranz mehr für den Ennui und leiden an einem Mangel an Ruhe, so der Philosoph. Die Klage der Zeitgenossen, nichts sei mehr möglich, sei aus diesem Grunde nur möglich in einer Welt, in der nichts mehr unmöglich zu sein scheint. Nennen wir dies das negative Toyota-Prinzip. Es basiert auf dem Paradigma des störungsfreien Funktionierens und steht paradigmatisch für die Tatsache, dass die Menschen mit sich selbst im Krieg liegen. Es ist eben nicht alles in Ordnung, was offiziell in Ordnung sein sollte.

Doch die Selbstausbeutung geht einstweilen mit dem Gefühl der Freiheit einher. Zumindest solange bis alles zusammenbricht. Denn bereits der Beihilfeantrag auf Zahnersatz oder das Beibringen der Unterlagen für die Gewährung der Sozialhilfe können zur Hölle werden. Die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten gebiert ein Ungeheuer der Bürokratie. Es ist ein wenig so wie auf B. Travens Totenschiff: Papiere sind wichtiger als der Mensch. Wer sie nicht beibringt, der treibt einsam auf dem endlosen Meer des Verwaltungsirrsinns umher. Wer hier nicht Amok läuft, ist nicht normal.

Paradox wird es jedoch erst dann, wenn, wie Han zeigt, Ausbeutende und Ausgebeutete identisch sind. Ihre unbewältigten Konflikte sind zugleich das Antriebsmoment der heutigen Leistungsgesellschaft, die mit ihrer freiwillig-zwanghaften, das ist pathologischen Aufopferungsbereitschaft nur ein Ziel verfolgen: Sich in einem uniformen, monotonen Vollzug immer gleicher Riten irgendwie Anerkennung und Status zu verschaffen.

Han hat diese Situation, in die wir uns gesamtgesellschaftlich hineinmanövriert haben, auf brillante Weise zugespitzt. Sein Buch ist der Entwurf eines Zeitalters der Postimmunologie, in dem nicht länger im Bild der Infektionen, sondern in dem der Infarkte gedacht werden müsse. Nicht das Virus, sondern der Kollaps ist ausschlaggebend für die Störung des Systems. Ein Zeitalter, das, so Han, sowohl durch ein Übermaß an Positivität als auch durch das Verschwinden der Andersheit gekennzeichnet sei. Das panoptisch nachweisbare Auftreten dieser Phänomene falle zudem mit dem Ende des Kalten Krieges zusammen und habe sich seither manifestiert. So versteht er beispielsweise Migranten nicht als immunologisch Andere. Sie sind keine Fremden im emphatischen Sinne, von denen eine wirkliche Gefahr ausginge oder vor denen man Angst hätte: „Einwanderer oder Flüchtlinge werden eher als Belastung denn als Bedrohung empfunden.“ Prophylaxe und Impfung sind in diesem Sinne zwecklos.

Mit diesem psycho-politischen Zugriff versucht er, sich insbesondere von Alain Ehrenberg abzugrenzen, der in seinem Buch über das erschöpfte Selbst eine medizin- und sozialgeschichtliche Rekonstruktion der Depression verfasst hat. Ehrenberg diagnostiziert darin zunächst einen Niedergang der Neurose, die die pathologische Signatur eines repressiven Kapitalismus gewesen sei, und entwirft dann das Porträt des depressiven, unzulänglichen Individuums, das von der Angst besetzt sei, ein Selbst werden zu müssen. Diese Angst, so Ehrenberg, gehe mit der zunehmenden Lockerung gesellschaftlicher Zwänge einher.

Hans Versuch, diese Diagnose zu radikalisieren, hat seine Tücken. Denn insbesondere die Umschreibung „neuronale Erkrankung“ bleibt vage, wenn nicht gar reduktionistisch, bildet sie bei Han doch das Sammelbecken so verschiedenartiger Erkrankungen wie Burn-out, ADHS und Borderline-Störung. Für die klinische Psychologie aber liegen Welten zwischen diesen Erkrankungen und ihren verschiedensten Ursachen, weshalb Hans Ätiologie an dieser Stelle ein wenig zu kurz greift. Auch sein Lösungsansatz, eine Revitalisierung der vita contemplativa und der Gelassenheit überzeugen nicht ganz, teilt man seine eigene Einschätzung, dass Prophylaxemaßnahmen nichts nützen. Hans Buch bleibt Nichtsdestotrotz eines der Highlights des Jahres 2010 und trägt hoffentlich mit dazu bei, dass die herausragenden Publikationen von Matthes & Seitz in Berlin bald die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen.
 

Byung-Chul Han
Müdigkeitsgesellschaft

Matthes & Seitz, Berlin
72 Seiten, Klappenbroschur
ISBN 978-3-88221-616-5
€ 10,00 / CHF 15,90

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste