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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Vom Privatnationalsozialismus zur Privatopposition

2. Teil - Heidegger und die Nazis, Russen und Juden – Die falsche Debatte

von Timotheus Schneidegger





















Heideggers Enttäuschung vom Nationalsozialismus

Heideggers Disposition zum Nationalsozialismus schürt zugleich von Anfang an die Entfremdung vom Regime. Dessen rhetorische Gleichmacherei zugunsten der Volksgemeinschaft stößt dem Einzigen übel auf. (GA94 181, 192) Seine rechtskonservative Verachtung von Pöbel und Massenmenschen (GA94 245, 337-339, GA95, 187, 195, 202-204) ist nur konsequent angesichts seines (gleichfalls dem Zarathustra abgeguckten) Elitarismus (GA94 396f., 443) und betrifft nach 1934 die NS-Folklore in Gänze. (GA94, 40, 58f., 94, 101, 221, 223; GA95 363) Heidegger verachtet den »Vulgärnationalsozialismus« als biedermeierlichen Materialismus, biologistisch und spießbürgerlich (GA94 142-144), als hohlen Jesuitismus (GA96 228), worin sich die besondere Enttäuschung des Christenfressers über die guten Beziehungen zwischen Berlin und Rom ausdrückt.
Zwar verfolgt und kommentiert er in den Schwarzen Heften weiterhin politische Ereignisse und später den Kriegsverlauf (GA96 198, 261f.). Heidegger kehrt nach dem Rücktritt aber zu seinem Thema zurück bzw. rückt wieder möchtegern-soldatisch ein »in die innerste Not« und zur »innersten Berufung des Volkes« (GA94 163).
Die »Not« versteht er als Zu-mutung, Ruck, Anstoß oder Drängen zur Besinnung und zum Aufbruch: Die wirtschaftliche (1929) und die historische (Versailles) Not hätten Deutschland »erwachen« lassen. Aber an die Daseinsnot mache sich trotz des Volksauftrags niemand. (GA94 148f., vgl. GA95, 22, 244f., 251-253) Größe und Ehre des Volks lägen in seiner Grundstimmung auf »das Seyn im Ur-sprung«, darin, die vom Seyn gebrauchte Stätte eines Schicksals zu werden. Aber die Deutschen trauen sich nicht (GA94 225, 261, 278, 285, 317f., 502; GA96 48, 50f., 55f.) und die Nazis kapieren es nicht, stattdessen machen sie das Volk zum Tummelplatz von Machenschaft (GA94 521f.; GA95 411f.).
Denn auch die Nazis entpuppen sich als »besinnungslos« in Machenschaft verstrickt (GA94 297, 472). Nicht zuletzt mit ihrem biologischen Volksbegriff (GA95 298-301) beweisen sie, Politik aus dem Wesen der Technik zu machen: Ihr »Volk« ist bloß ein zur Persönlichkeit erhobenes Massenwesen (GA95 32, 205f.), »das ins Riesenhafte des Volksleibes verrechnete cogito ergo sum des Descartes« (GA95 300), wie auch die dazugehörige Rassen- und Volkskunde Ausfluß historisch-technischer Machenschaft ist (GA95 429f.; GA96 47f., 55).
Anders als vor 1933 (GA94 98) lehnt Heidegger nach 34 die »Volksgemeinschaft« vollends ab (vgl. GA94 174, 189, 465f.; GA95 396), als er einsieht, dass das Volk in der machenschaftlichen Weltanschauung der Nazis bloß das Ziel ist, statt Aufbruch zur Weltgründung im Seyn (GA94 446f.; GA96 190): »All dieses ist von Grund aus undeutsch.« (GA94, 233, vgl. GA95 22f.) Das gilt auch für Sensation und Propaganda. (GA95 278f., 362, GA96 95, 229, 230) Volk, Blut und Rasse seien nur Gerede, wenn sie nicht seynsgeschichtlich gemeint sind (vgl. GA95 380), und dass sie das nicht sind, liest Heidegger unter anderem an der von Blut-und-Boden-Slogans begleiteten Urbanisierung seiner geliebten Provinz ab (GA95 361; GA96 220).

Nein, mit den Nazis ist kein neues Seynsverhältnis zu erobern, stattdessen versinkt alles »in die völkisch frisierte Plattheit des ödesten amerikanischen Pragmatismus«. (GA94 190f., vgl. GA95 339). Der Nationalsozialismus sei nur ein »Rational-Sozialismus« (GA96 195). Die Erfolge gäben seiner Besinnungslosigkeit zwar praktisch Recht (GA94 508; GA95 233, 275). Sie allein könnten politisches Handeln jedoch nicht rechtfertigen, notiert Heidegger, um gleich klarzustellen, dem NS nicht moralisch kommen zu wollen. Vielmehr müsste die seynsgeschichtliche Berufung des Volks Maßstab allen Handelns sein. (GA95 232f.)
Die Erfolge der Besinnungslosigkeit löschen rückwirkend alle Alternativen aus (GA95 316-318) und Heidegger hatte seine Chance. Wahre Wissenschaft wäre ohnehin politisch (wie es die NS-Ideologie – aber nicht in seinem Verständnis – fordert), schreibt Heidegger nach dem frustrierten Rücktritt (GA94 191) und lässt erahnen, dass er seinen Volksbegriff wie so viele seiner Begriffe aus der Antike und nicht etwa aus »Mein Kampf« hat: Heidegger die griechische Polis im Sinn, die er sich als Einheit von Theorie und Praxis vorstellt. (vgl. GA96 43) Das wäre das Volk, das über bloße Kultur hinaus das Da erobern kann. (GA94 195f.) Umso verärgerter muss er mitansehen, wie ab Mitte der 30er das als »politische Wissenschaft« etabliert ist, was für ihn Volksverblödung, alles verhunzende Kulturpolitik und machenschaftliche Weltanschauung ohne Welt ist (vgl. GA94, 340f., GA95 340-342; GA96 209-211).
Derart »kümmerliche Nachbilder der Scholastik« (GA94 401) taugen bloß noch als Erziehung zur Machenschaft (GA95 430-432). Politik ist dann »die eigentliche Vollstreckerin der Machenschaft des Seienden; sie ist nur metaphysisch zu begreifen« (GA96 43). Wochenschau und motorisierte Infanterie sind in Heideggers metaphysischer Kulturkritik das gleiche, weil sie auf gleiche Weise eingesetzt werden (GA96 184, 253f.), um der Machenschaft alle Köpfe und die letzten Winkel zu erschließen. »Der Betrieb der Geisteswissenschaften wird sich so umgestalten, daß eines Tages ‚Zeitungswissenschaft‘ und ‚Rundfunkwissenschaft‘ keine Anhängsel mehr sind, sondern die Grundwissenschaften. Solches aber ist nicht Verfall – sondern Vollendung des neuzeitlichen Zeitalters.« (GA95 441)
Von den Hoffnungen auf ein neues Geschlecht ist bei Heidegger nichts mehr übrig. »Was geschieht mit einer ohnehin denkschwachen und faulen Jugend, die in einer solchen Atmosphäre aufwächst?« (GA95 425; vgl. GA96 175f., 208f., 230, 234) Nun ja, sie gibt später mal die ersten Bände der Heidegger-Gesamtausgabe heraus.

Vom Privatnationalsozialismus zur Privatopposition

Heideggers Privatopposition (GA95 33f., 190) ist nichts als Gemecker gegen die Gemeinplätze von »Volk« und »Lebensraum« (GA95 242). In seinen Notizen pflegt er Skepsis bis Verachtung gegenüber den Helden der Reichskulturkammer: Wagner (»Unterleibsmusik«, GA95 109) und Chamberlain (GA94 446, 507), George, Klages, Spengler (GA95 137, GA96 18, 269f.) und auch Ernst Jüngers »heroischer Realismus«, wie er etwa den zunächst von Heidegger gewürdigten »Arbeiter« prägt, flieht bloß wortreich vor der Fragwürdigkeit des Seyns. (GA95 258f.; GA96 171, 180, 191, 202f., 211f., 223f., 275) Heidegger wird zum umso kritischeren Kritiker, als sich das Gerede des NS-Kulturbetriebs dem seinen nähert und er es entschieden als genauso oberflächlich wie das des Christentums abwatschen muss. (GA95, 338-340, 424f.; GA96 158)
Er verabscheut Antiintellektualismus und Gewalt – aber nur als Zeichen der Machenschaft. (GA96 12-14, 176) Denn auch über das Recht des historisch Stärkeren mokiert sich Heidegger ausschließlich seynsgeschichtlich, nie moralisch (GA96 15-18), etwa wenn er befürchtet, dass der Deutsche »zu einem gleichgültigen, alles berechnenden und jeder Schnelligkeit habhaften Einrichtungstier der bestgeordneten Herdenhaftigkeit sich entwickle, aus welcher Herde zuweilen noch Rudel der Verwüstungsvollstrecker sich zusammenrotten.« (GA96 22) Auf gleiche Weise kritisiert er den Soldatenkult als bloß historisch d.h. seynsabgewandt (GA96 29-32). Mit wachsender Verbitterung wird er auch schon mal sarkastisch wie in seiner Notiz Anfang der 40er zur propagandistischen Entrüstung über Städtebombardierungen: Da hätten die Nazis das Konzept vom totalen Krieg wohl nicht verstanden. (GA96 184f.)

Die stille Privatopposition und Heideggers Besinnungsbegriff gehören zusammen. (vgl. GA95, 318) Beide entspringen seiner Gekränktheit. Er verachtet die Öffentlichkeit als äußersten Subjektivismus (GA96 61f.), wo »nur kluge Spürhunde für das Zeitgemäße das Überlieferte neu aufkochen.« (GA95 414) Das Wesentliche aber sei nicht öffentlich (GA96 178, 215, 220). Ab Mitte der 30er häufen sich die Notizen, die von Rückzug, Isolation und dem Wunsch zu verschwinden (GA96 196) künden. Als Existentialist missverstanden zu werden, nötigt dem Eremiten patzigen Dank dafür ab, seine Wahrheit als eine unerhörte noch lange Zeit für sich allein haben zu dürfen. (GA96 207)
Darüber hinaus zeigen Heideggers Notizen den wahren Grund seiner Enttäuschung von Hitler: »Die revolutionäre Dynamik der Nationalsozialisten war ihm nicht revolutionär und nicht radikal genug«, so der Herausgeber der Schwarzen Hefte, Peter Trawny gegenüber dem Deutschlandfunk.
Das wäre die kleine Neuigkeit in der Forschungsfrage, warum 1934 Heideggers Aufstieg zum Reichsseynsmeister endete. Bislang herrschte die von ihm nach dem Krieg selbst angelegte These vor, er habe 1933 an die Rettung vorm Kommunismus und an geistige Erneuerung geglaubt, aber schnell seine Naivität eingesehen. Das ist nicht falsch, aber übertrieben und im Übrigen auffällig bar seynsgeschichtlicher Wertungen, die Heidegger noch während des Zweiten Weltkriegs zum Maß politischen Handelns macht.
In den Schwarzen Heften gesteht sich Heidegger seine Irrtümer mit eben solchem Vorbehalt ein. Die neuzeitliche Universität konnte wesenhaft nicht zur Stätte seynsgeschichtlicher Besinnung werden, wie er es während seines Rektorats beabsichtigt hatte. (GA95 432-434) Den Nationalsozialismus habe er 1930-34 als Möglichkeit eines Übergangs in den anderen Anfang unterschätzt. Obwohl Heidegger das Wesen des NS als ebenfalls bloß historisch-technisch erkannt hat, müsse er doch »aus denkerischen Gründen« bejaht werden. (GA95 408f.) Damit deutet sich an, dass sich der Nazi-Rektor Heidegger und der Denker Heidegger nicht so einfach mit einer bloßen Konjunktion verbinden lassen.

Karl Löwith begegnete als Exilant in Rom 1936 seinem früheren Lehrer Heidegger. Das Parteiabzeichen am Revers des Todtnaubergers vor Augen, äußerte Löwith die Vermutung, dass dessen »Parteinahme für den Nationalsozialismus im Wesen seiner Philosophie läge. Heidegger stimmte mir ohne Vorbehalt zu und führte mir aus, dass sein Begriff von der ‚Geschichtlichkeit‘ die Grundlage für seinen politischen ‚?Einsatz‘ sei.«
Diese Episode notiert Löwith 1940 in Japan. Er berichtet weiter, Heidegger habe 1936 gegenüber dem vertriebenen Juden keinen Zweifel an seinem Glauben an Hitler gelassen. Dabei mag Heidegger bloß den Wandel seines Glaubens an Hitler verschwiegen und damit – wie es seinem Denken entspricht – eine große Wahrheit zum Ausdruck gebracht haben.

Heidegger und die Juden

Heidegger war ohne Zweifel ein Nationalsozialist, darin ist Jürgen Kaube (FAZ) zuzustimmen, sofern man unter »Nazi« jeden Pg. versteht, der nach 1933 mindestens weitermachen konnte wie bisher.
Aber war er auch Antisemit? Kaube ist überzeugt, doch das Urteil wirft die Frage auf, was das für ein Antisemitismus ist, den Heidegger in unmittelbarer und mitunter intimer Nähe jüdischer Denker_innen pflegt: sein Lehrer Edmund Husserl auf der einen, auf der anderen Seite die Heidegger-Schüler Herbert Marcuse, Hannah Arendt, Karl Löwith und Günther Stern (später Anders), von dem Elfride Heidegger (die anders als der Familienhund Mohrle (GA96 91) kein einziges Mal in den Schwarzen Heften vorkommt) gar nicht hatte glauben wollen, dieser stramme Kerl, der oben ohne vor der Hütte Holz hackt, sei Jude.

Husserl und Arendt werden in den Schwarzen Heften erwähnt, nie jedoch als Juden. Heidegger notiert einen ganzen Absatz aus Arendts Biographie von Rahel Varnhagen am Ende eines seiner Schwarzen Hefte von 1939. (GA95 265) Das belegt einmal mehr den anhaltend regen Austausch beider, da Arendt den Text zwar 1938 im Pariser Exil fertiggestellt hat, aber erst 1957 als Buch veröffentlichen konnte. Über Husserl notiert Heidegger, sein Denken reiche »nirgends in die Bezirke wesentlicher Entscheidungen« (GA96 46f.), was Micha Brumlik als Zeichen der Verachtung wertet. Urteilt an dieser Stelle der Schwarzen Hefte ein Antisemit über einen Juden – oder weist hier ein Denker einem anderen seine Versäumnisse nach? Wer nicht bloß kursorisch liest, weiß, wie oft Heidegger von den »Bezirken wesentlicher Entscheidungen« im Sinne einer großen Eigentlichkeit spricht, in die niemand vordringt, der wie Husserl (und alle anderen; vgl. GA94 345) in der Rationalität des ersten Anfangs verhaftet ist.

Heideggers Antisemitismus ist wie nahezu jede abergläubische »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« nie auf konkrete Personen bezogen. (»Nee, du bist einer von den Guten!«) Der Jaspers-Schüler Guido Schneeberger hatte in seiner »Nachlese zu Heidegger« 1961 versammelt, was Heidegger in den Jahren vor seinem NSDAP-Eintritt zu Universität, Politik und Führer geäußert hatte. »Es fiel schwer, das nicht als Gerede höchster Einstimmung in das, was man damals so sagte, zu bezeichnen«, so Jürgen Kaube in seiner Besprechung von Lutz Hachmeisters Buch, das wie gerufen die Umstände des SPIEGEL-Interviews mit Heidegger 1966 behandelt.
In seinem Antisemitismus war Heidegger weniger originell, als er dachte. War Heideggers Verachtung des Juden also, wie Kaube a.a.O. mit einer Spitze fragt, die jeden Heideggerianer ins Mark trifft, »ein seiner Philosophie äußerlicher Tribut an den Zeitgeist«? Konnte der einsame Großdenker dem antisemitischen Man seiner Zeit verfallen sein?

Dafür spricht, wie floskelhaft er 1916 in einer Karte an Ehefrau Elfride die »Verjudung« der Universität beklagt und dass es keine antisemitischen Äußerungen vor 1938/39 in den Schwarzen Heften gibt. Explizit taucht das Judentum zum ersten Mal in Band 95, S. 97 auf – in einer Notiz, die von 1939 stammen dürfte. Juden werden da mit der Machenschaft und Weltlosigkeit in Zusammenhang gebracht. Hier macht sich ein seynsgeschichtlicher Antisemitismus bemerkbar, der jenseits von Moral und Personen vor sich hin sintert. Denn Weltlosigkeit schreibt Heidegger auch den Tieren zu (GA95 282, vgl. GA29/30 261f.). Er spricht den Juden damit aber nicht ihre Menschlichkeit ab – das tut nämlich die Machenschaft, indem sie jeden aufs Tierhafte reduziert und auch damit die Weltlosigkeit fördert.

Geschichte, Grund und Boden sind dasjenige, worin das Denken Wurzeln schlägt und wachsen darf. Raum und Zeit des Denkens sind von »grundlegender« Bedeutung für Heidegger, der vorwiegend zwischen Feldern und Wäldern weilt. Die Machenschaft dagegen verrät sich auch in der modernen Reisetätigkeit, die immer mehr Menschen überall und nirgends zuhause sein lässt. Diese »Bodenlosigkeit« ist für Heidegger charakteristisch für das Judentum, das schon sehen wird, was es davon hat, sich so gut in der alles entwurzelnden Machenschaft einrichten zu können. Da die Notizen fast allesamt undatiert sind, kann nur spekuliert werden, ob Heidegger hier das perfide Motiv aus Hitlers Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 aufgreift, wonach das Judentum vernichtet würde, wenn es die Völker »noch einmal in einen Weltkrieg« stürze.

Die Machenschaft als Chiffre für das Judentum?

Danach zeigt sich Heideggers Antisemitismus eher in Form von Rülpsern als in der einer durchgehenden Rhetorik. Die philosophischen Feindbilder bleiben weiterhin Christentum und Machenschaft, die Juden kommen wie die Nazis nur am Rande vor. (GA95 168f., 325) Die Scheinüberlegenheit der NS-Kulturpolitik kommt ihm wie »jüdisches Gebahren« vor – eine Bemerkung, die Heidegger mit dem Hinweis auf die Gefahr verbindet, sich im Kampf dem Wesen des Gegners anzuverwandeln. (GA95 326; GA96 183 255) Dieses Motiv ist zentral für Heideggers Kulturgeschichte des Abendlands.

Die Machenschaft steht nicht stellvertretend für das Judentum und wird auch nicht als von Juden betrieben verstanden. Vielmehr habe sich in der neuzeitlichen Metaphysik der leere Rationalismus breitmachen können – und damit das Judentum eine »zeitweilige Machtsteigerung« erfahren. (GA96 46) Im Bestreben, alles berechenbar zu machen, bringe die Machenschaft den Rassebegriff hervor, der den Juden längst vertraut sei, »weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen« (GA96 56). Da der angloamerikanischer Liberalismus durch und durch machenschaftlich geprägt ist, fänden sich Juden dort auch am besten zurecht.

Die Verlockung, sich ans vermeintlich sichere Ufer des Guten und Humanen zu retten, indem man Heidegger und seine Leserschaft endgültig verdammt, ist nach solchen Niederträchtigkeiten groß. Dabei wird aber übersehen, dass es für Heidegger nicht der angeblich »rechnende, weltlose Jude« ist, der den wackeren Germanen in Seynsvergessenheit hält. Die neuzeitliche Rationalität sei keine »willkürliche ‚Weltanschauung‘ von Wenigen hinreichend Gewalttätigen« (GA95 151f.) und die Besinnungslosigkeit wird auch nicht »gemacht« (GA96 146). Der seynsverlassene Vorrang der Berechenbarkeit und Subjektivität ist das »Wesen des Zeitalters«, das sich imperialistisch aller bemächtigt. (GA96 238) Es ist der machenschaftliche Zeitgeist, der den Deutschen (und allen anderen Völkern) ihre Wesensfremdheit aufdränge (GA95 181; GA96 187, 212, 269). Jeder Einzelne ist Betroffener und Betreiber der Machenschaft, selbst Diktatoren und kommunistische Oligarchen. (GA96 105f., 121, vgl. 113)

Das indes kommt einigen entgegen, wie Heidegger meint am machenschaftlichen Universitätsbetrieb beobachten zu können. Amerikanismus und Liberalismus sind in den Schwarzen Heften vor 1939 Chiffren für eine (im Wortsinn) theorielose Wissenschaft wie die »jüdische« Anthropologie und Psychologie (GA95 322; GA96 267). Auch Soziologie werde »mit Vorliebe von Juden und Katholiken betrieben« (GA95 161), weil denen der machenschaftliche Bezug auf Gesellschaften und Menschen am leichtesten fiele. Dieser ist aber keineswegs ihnen eigen, wie sich für Heidegger daran zeigt, dass man (also die Nazis) die Psychologie »des Juden ‚Freud‘« (GA96 218) anfeindet, obwohl man sich den Menschen gar nicht mehr anders als psychologisch und d.h. machenschaftlich denken kann.

Nationalisierung der Rationalitätskritik

Die fließenden Grenzen und gegenseitigen Bedingtheiten von Antiamerikanismus, Antikapitalismus und Antisemitismus sind Gegenstand anhaltender (linker) Selbstvergewisserung. Zuletzt stellte der Historiker Brendan Simms die These auf, Hitlers Judenhass resultiere vor allem aus seiner antimodernistisch-antikapitalistischen Verachtung der angloamerikanischen Kultur.
Bei Heidegger lässt sich ein derartiger, jedoch seynsgeschichtlich argumentierender Nationalsozialismus in den Schwarzen Heften kaum übersehen. Seine antimodernistische Rationalitätskritik ist von Anfang an nationalistisch belegt. Der machenschaftliche Pragmatismus sei typisch für Amerika (GA96 38-40, 268f.) – wie auch heute die Kritik an der technokratischen Durchdringung aller Lebensbereiche immer auch den »imperialen ökonomischen Anspruch« der USA mitmeint. Ebenso ist man sich an kontinentalphilosophischen Stammtischen anno 2014 einig darüber, dem angloamerikanischen Denken ginge es nur darum, was es gibt (Empirismus), wie man es formalisiert (Positivismus) und was man damit machen kann (Pragmatismus).
Die Machenschaft hat nach Heidegger zwei Gestalten: Erstens »jene mit Moral übermalte händlerische Rechenhaftigkeit der englisch-amerikanischen Welt« (GA96 114, vgl. 115f., 154f.). Zweitens die des Bolschewismus, der demgegenüber »in seiner Grobheit und Massenhaftigkeit eine harmlose Erscheinung« ist. Wesentlich sei nämlich nicht die Zahl der Hinrichtungen, sondern das Ausmaß der »Abwürgung jedes schöpferischen geschichtlichen Seins«. (ebd.; GA96 237) Darin sei der Amerikanismus schlimmer als der Antichrist (GA96 194), weshalb Heidegger die nur halbe politische Gegnerschaft der Nazis demgegenüber rügt (GA96 260).

Heidegger schreibt die Geschichte des Abendlands als Geschichte der ausufernden Machenschaft, die den Hintergrund bilde für Bellizismen und Pazifismen und das sich ihrer bedienende Judentum, die allesamt in die neuzeitliche Metaphysik verstrickt seien, ohne es zu merken. (GA96 131-133) Alle sind Betroffene und Betreiber der Machenschaft, die die auf das Verfolgen ihrer Interessen festgelegten Völker dazu bringt, diejenigen zu unterwerfen, deren machenschaftliche Herrschaft weniger weit entfaltet ist. (GA96 140f., 145-147, 152f.)

Seynsgeschichtlicher Generalplan Ost

Was wie politische Naivität wirkt, ist das kindische Beharren darauf, als einziger die wahren weltgeschichtlichen Verhältnisse jenseits von Gut und Böse zu durchschauen. Arier, Juden und Slawen, Kapitalismus gegen Bolschewismus, all das ist für Heidegger bloß Ablenkung und Flucht vor der Seynsfrage (GA96 152). Ende der 1930er herrscht die metaphysische Verwüstung: Unter der umfassenden Herrschaft der Machenschaft in ihren nationalen Erscheinungsformen wächst nichts mehr, dem seynsgeschichtlichen Denken ist der Boden zerstört. Die westlichen Demokratien seien ohnehin unfähig zur Entscheidung und wichen in lauen Humanismus aus (GA95 405f.).
Da richtet sich eine seltsame Hoffnung gen Osten: Etwa zur Zeit des Hitler-Stalin-Pakts notiert Heidegger, deutscher Ordnungssinn und russische Erde könnten für Untergang des Seins und Sieg des Seyns taugen. (GA95, 402-404) Mehr als Andeutungen zu diesem seynsgeschichtlichen Generalplan Ost macht Heidegger nicht. Zur Besinnung aufs Russentum habe er als Student durch die russische Sprache gefunden und distanziert sich ausdrücklich vom offiziellen Staatsverhältnis, das bloß historisch-technisch sei (GA96 148) – als hätte er das geheime Zusatzprotokoll gekannt.
Die Russen seien – wie die Deutschen – ein noch ungegründetes Volk. (GA96 124f. 134) Nach einigen Überlegungen zu Volk und Gott bei Dostojewski (GA96 123) kommt Heidegger zu dem Schluss, im Wesen des Russentums läge eine »Erwartung des Gottes« verborgen (GA96 128).
Immer wieder betont er fast wortgleich, der Bolschewismus sei den Russen nur metaphysisch-neuzeitlich aufgezwungen. (GA95 402; GA96 47, 124, 276) Als Produkt des grundverkehrten abendländischen Denkens könne der Bolschewismus das Russentum zerstören – oder auch dadurch retten.

Zwar sei der Bolschewismus als machenschaftliche Veranstaltung die »Motorisierung des Menschentums« (GA96 256f.), doch stehe er mit seiner Brutalität noch auf dieser ominösen russischen Erde, weshalb er eine »Anfangsmöglichkeit« besitze – im Gegensatz zum bloß zusammenraffenden Amerikanismus (GA96 257-259).
Heidegger ahnt aber auch, worauf das alles hinausläuft. England als Vorkämpfer der Technisierung müsse zum Feind der Sowjetunion werden, weil beide seynsgeschichtlich aufs Selbe hinauswollen. (GA96 173f.) Bolschewismus, Nationalsozialismus und Kapitalismus seien metaphysisch gleich (GA96 109-112, 126f.) als »unbedingte Entfaltung der Subjektivität in die reine Rationalität« (GA96 235). Deshalb werde der kommende Krieg einer innerhalb der Machenschaft sein, die sich im Völkischen und Nationalen versteckt (GA95 384) und die Völker um das Nichts kämpfen lässt (GA96 224f.). Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 notiert er abermals, ursprünglich habe England die Machenschaft entfesselt und spiele sie mittels Amerikanismus, Bolschewismus und des »Weltjudentums« zu Ende, das von »aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten« aufgestachelt werde. (GA96 242f., 262)
Die Deutschen müssten das Abendland retten (GA96 226, 256), indem sie gegen das Morgenland antreten, ohne dabei zum Westland zu werden (GA96 274). Heute, in Zeiten des Ukraine-Konflikts, aktualisiert eine kommentarfreudige Minderheit einen deutschen Exzeptionalismus, wonach »dieses plutokratische, restlos aufgeklärte und inzwischen von den Geheimdiensten total durchleuchtete amerikanische Imperium mindestens genauso schlimm und uns Deutschen im Grunde wesensfremder sei als der Brutalismus der Russen«, so Claudius Seidl neulich in der FAZ.

Kann Heidegger Antisemit und Philosoph sein?

Zu Beginn des ersten Teils dieser Nachlese wurde gewarnt, sie mute der Leserschaft einiges zu. Heideggers Auslassungen zeigen im Vergleich zu zeitgenössischen Äußerungen nicht gerade geifernden Rassenwahn, sind aber unappetitlich genug.

Diskreditiert der Antisemitismus nun also Heideggers Philosophie?, fragt nicht nur Wolfram Eilenberger, Chefredakteur des Philosophie Magazins. Als solcher hat er den Fundamentalontologen als »gefährlichen Denker« aufs Cover der Ausgabe 03/2014 gehoben, womit die Philosophie auf dem Hochglanzboulevard angekommen ist. Richard Wolin beschreibt darin, wie Marcuse und Arendt nach 1945 ihren Meister bis zur Selbstverleugnung verteidigten. Im Interview vermutet Peter Trawny, Herausgeber der Schwarzen Hefte, Heidegger habe in seine Rationalitätskritik Motive aus den »Protokollen der Weisen von Zion« einfließen lassen, freilich ohne belegen zu können, ob Heidegger diesen Grundtext des Antisemitismus gelesen hat. Das hätte er auch nicht müssen. Viel wahrscheinlicher und für das Selbstbild Heideggers vernichtender ist, dass der Todtnauberger die allgegenwärtige NS-Propaganda vom Weltjudentum einfach nachgeplappert hat und sich durch die seynsgeschichtliche Einordnung schlauer als die Nazi-Ideologen vorkam.

Die Frage ist damit aber nicht beantwortet. Noch dazu, wenn man sie dermaßen hochjazzt wie Eilenberger, demzufolge die Nähe von Heideggers Denken zum Antisemitismus nicht bloß seine Philosophie diskreditiere, sondern einen großen Teil aller Philosophie des 20. Jahrhunderts, die von ihm beeinflusst ist. Eine Unterströmung von konservativem Zynismus ließe sich bestimmt bei allen Heidegger-Epigonen nachweisen, von Lévinas, Derrida und Arendt bis hin zu Gadamer, Sloterdijk und Byung-Chul Han.

Analytisch korrekt wäre die Frage, ob Heideggers Philosophie des Antisemitismus bedarf oder sich seiner lediglich bedient hat. Das obige Zitat von Löwiths Begegnung mit Heidegger anno 1936 spricht dafür. »Die Judenfeindschaft in den Schwarzen Heften ist kein Beiwerk; sie bildet das Fundament der philosophischen Diagnose.« Assheuer von der ZEIT glaubt ebenso wie Uwe Justus Wenzel in der NZZ, seynsgeschichtliches Tieftauchen mache anfällig für Verschwörungstheorien, die wiederum das Denken anleiten. »Heideggers Antisemitismus lässt sich aus seinem Nationalsozialismus ableiten und dieser aus seiner Philosophie«, diagnostiziert Michael Jäger im Freitag und kritisiert im Übrigen recht klug Heideggers Haltung anhand des von ihm gepredigten Wegs des Fragens. Mit Micha Brumlik und Rainer Marten, der seit Jahrzehnten gegen seinen einstigen Lehrer andenkt, betrachten zwei weitere kluge Köpfe Heideggers Philosophie als unrettbar mit braunem Gedankengut durchwirkt.
Trawny dagegen glaubt, man könne »diesen antisemitischen Einfluss« – und es handelt sich um einen solchen, nicht um die Grundlage des Denkens – »sinnvoll begrenzen«. Auch Alain Badiou schafft es, Heidegger aufzuteilen in die zu Lehrverbot verurteilte historische Figur des 20. Jahrhunderts und den ungebrochen wirkmächtigen Fundamentalontologen. Der jeder Apologetik unverdächtige Walter van Rossum hat vorige Woche im Deutschlandradio Kultur ein gewohnt differenziertes Urteil jenseits der übliche Reflexe gefällt.

Heideggers Denken lässt sich nicht zivilisieren, weil es sich auf einer Höhe (oder Tiefe) bewegt, von der aus Einkaufszentren, Opernhäuser, Panzerhallen und Konzentrationslager gleich aussehen. Seine Technikphilosophie und Modernitätskritik ist aber nicht strukturell antisemitisch wie etwa die Unterscheidung zwischen raffendem und schaffendem Kapital. Seine Menschenverachtung ist zynisch und allgemein, sein Antisemitismus widerlich und Gerede. Man prüfe es selbst. Von den 1.240 Seiten der Schwarzen Heften enthalten 14 Seiten die Worte Juden oder Judentum, und zwar: GA95 97, 161, 322, 325, 326, 396; GA96 46, 56f., 133, 218, 242f., 262.

Halbherzige Entnazifizierung

Muss man Heidegger überhaupt verteidigen? Schon ganz andere Großdenker wurden nach 1945 mit dem Etikett des »Mitläufers« exkulpiert, das ihrem empfundenen Großtum einen dissimulierten Dämpfer versetzt und ihm doch seine Fortsetzung auf dem Boden der FDGO ermöglicht hat. Heidegger ist auch nur einer »dieser frischzelligen NS-Zombies«, »denen es nie an Fürsprechern in der Bundesrepublik mangelte«, wie Jens Hoffmann in Konkret 5/2014 schreibt, um überhaupt etwas anlässlich der Schwarzen Hefte schreiben zu können.
In der Tat haben sich alle deutschen Wissenschaften erfolgreich um die Aufarbeitung ihrer personellen und begrifflichen Kontinuitäten nach 1945 gedrückt. An den juristischen Fakultäten hatten junge Wissenschaftler wie Carl Schmitt mit der Machtübernahme Hitlers die Gelegenheit ergriffen, sich durch die Mitarbeit an der »völkischen Rechtserneuerung« zu profilieren. Gleich nach Kriegsende pilgerte man aus Frankreich zu eben jenem Rassegesetzkommentator, dessen »politische Romantik« in der terrorbedrohten, krisengeschüttelten Postdemokratie von 2014 als Tagungstitel taugt.
Auf ähnliche Weise hat es für Heideggers Denken nie eine Stunde Null gegeben. 1945 suchte Heidegger in Sartre einen Fürsprecher in der früheren Résistance. Jean Beaufret (dem der »Humanismus-Brief« gewidmet ist, in dem Heidegger bruchlos an seine Überlegungen aus den Schwarzen Heften anschließt) und andere lasen Heidegger noch während der Okkupation. Er hatte und hat links des Rheins eine Anhängerschaft, die von René Char bis Alain Finkielkraut reicht. Zu ihr zählt auch der Beaufret-Schüler François Fédier, der Heideggers Werke bei Gallimard betreut. Im Interview mit der ZEIT nimmt er Heidegger ausdrücklich auch nach Lektüre der Schwarzen Hefte in Schutz. Fédier vermutet sogar, der Herausgeber Trawny habe, um nicht selbst als antisemitisch zu gelten, die einschlägigen Zitate in der Öffentlichkeit so betont.
Paris pflegt einen Heidegger-Kult, der Ende 2013 als Erster in Wallung geriet ob der dräuenden Edition der Schwarzen Hefte. Doch nicht nur in Frankreich hängen ganze akademische Karrieren vom Verhältnis zu den Nachlassverwaltern – also der Familie Heidegger – ab.

Peter Trawny hat an der Wuppertaler Uni das Martin-Heidegger-Institut begründet und parallel zur Edition der Bände 94-96 das 104-seitige Buch »Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung« (Klostermann 2014) geschrieben. Daneben gibt es die Martin-Heidegger-Gesellschaft in Meßkirch, der seit 2003 Günter Figal (zugleich Inhaber des Heidegger-Lehrstuhls in Freiburg) vorsitzt. Über das Verhältnis dieser Organisationen zu einander und zur Familie Heidegger sowie über interne Querelen kann von außen munter spekuliert werden. Was hinter den Kulissen der deutsch-französischen Heideggeristik vor sich gehen mag, lässt sich zwischen den Zeilen des Beitrags erahnen, mit dem Trawny vor dem Jahreswechsel in der ZEIT Stellung nahm zur Pariser Aufregung über die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte: »Wie es in der akademischen Szene üblich ist, hatten Herausgeber der Gesamtausgabe Martin Heideggers Kollegen in Frankreich von ihrem Vorhandensein informiert.« Jürgen Kaube (FAZ) schreibt, Heideggers französische Gralshüter seien »auch aus Freiburg« informiert worden. Diese, so Trawny, »liefen sozusagen intellektuell Amok« und versuchten, »die Herausgabe meines Buches durch Feststellung meiner Inkompetenz zu verhindern«. Schützenhilfe bekam Trawny im Dezember 2013 von Figal, der im Deutschlandradio Kultur allerdings bloß dazu riet, die Veröffentlichung erstmal abzuwarten. In der Zwischenzeit ließ sich Figal als heller Kopf porträtieren, der Heidegger gar nicht verteidigen muss und will.

Das war es also? Nicht ganz. Es liegen Heideggers Notizen der Jahre 1931 bis 1941 vor. In der ZEIT erwähnt Trawny, dass sich die Aufzeichnungen aus den späteren Kriegsjahren in Privatbesitz – bei der Familie Heidegger? – befänden und ihm als Herausgeber der Einblick bisher verweigert werde. Knapp drei Monate später behauptet er im Interview mit der Badischen Zeitung, es gebe »zwischen 1941 und 1945 keine ‚Schwarzen Hefte‘«.
Die vorliegenden 1.240 schmerzensgeldwürdigen Seiten lassen erahnen, was Heidegger zu Stalingrad, Endlösung und Kapitulation notiert hat oder hätte.

Die grundverkehrte Debatte

Zog das Walserwort von der »Auschwitzkeule« 1998 noch eine Diskussion der Schuld- und Gedenkkultur mit Ignatz Bubis nach sich, so scheinen längst das Personal und die Bereitschaft sowieso zu fehlen, den Intellektuellen ernst zu nehmen, wenn er sich überraschend einmischt, wie es das Feuilleton sonst so gerne von ihm fordert. (Auch darüber hat Keuschning klug und richtig geschrieben.) Was das für den Intellektuellen (oder den, der als solcher gehandelt werden will) heißt, interessiert hier weniger als das, worum die Öffentlichkeit durch den Reflex des Skandalisierens gebracht wird. Nach Lewitscharoffs Dresdner Rede wurde nicht über Sorgen, Nöte, Ethik und Ökonomie der künstlichen Befruchtung debattiert, drum ist auch niemand irgendwie weiser geworden. Stattdessen hatten wir bloß einen Shitstorm, der selbst den darin Engagierten nichts brachte außer dem auf seine rasche Wiederbestätigung drängenden Wahn, auf der richtigen Seite zu stehen, und sei es auch nur die des Fäkalgebläses.

Im Fall von Heideggers Schwarzen Heften ist es weder mit dem Freiburger Schweigen getan noch mit der ritualisierten Pflichtübung, jeden für erledigt zu erklären, der der NSDAP-Mitgliedschaft in Tateinheit mit generalisierenden Äußerungen über Juden überführt ist. Denn weder Heidegger ist erledigt noch das, was ihn zu einem der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts gemacht hat und aller öffentlichen Ablehnung zum Trotz wirksam bleibt.

In seiner vollumfänglichen und wärmstens empfohlenen Besprechung des Buchs über Heideggers SPIEGEL-Interview wundert sich Lothar Struck über die demonstrative Antipathie, mit der Lutz Hachmeister die Todtnauberger Technikkritik abtut: »Die Medien sind voll davon; das Feuilleton der FAZ schreibt seit Jahren fast über nichts anderes mehr.«
Das ist das Problem. Heideggers Kritik an der Machenschaft kulminiert in seiner Technikphilosophie, die längst Gemeinplatz ist. Es braucht keinen Nachweis der Seynsvergessenheit, um es bedenklich zu finden, wie Mensch, Natur und Geschichte im neuzeitlichen Denken als Verfügbares betrachtet werden. (GA95 82f., 90)
Nur geht Heidegger weit über Technikfolgenabschätzung und Nachhaltigkeit hinaus, wenn er im Organischen und Organisierten (von
ὄργανον) der Machenschaft ihren auch semiotischen Triumph über das Gewachsene bemerkt. (GA96 124, 181, 203) Die Machenschaft stellt nur noch her, lässt nichts mehr wachsen, weshalb Heidegger sich besonders genervt zeigt von »Nachwuchsfahrern« (GA96 91) und »Bewuchsforschung« (GA96 19f.; was es alles gibt!). Das Seiende als das Her-stellbare (statt das Gewachsene) wäre die Vollendung der Seynsvergessenheit (GA95 48) und der Weg zur Selbstvernichtung des selbstherrlichen Menschentums (GA96 181). Hätte Heideggers Schwabenschwester Lewitscharoff so argumentiert, wäre sie freilich auch nicht ernst genommen worden. Es ist schade um die Gelegenheit zu fragen, ob der Preis für die Fähigkeit des Menschen, sich wirklich jeden Lebenswunsch zu erfüllen, nicht nur in Euro oder Menschenleben bemessen ist.
Wir sind Nutznießer einer großen Zerstörung, die uns als Aufbau vorkommt (GA95 182): »Wie weit weg muß die Natur-wissenschaft von der Natur sein, daß sie das auf ihr gegründete Wüten der Technik als ihren Erfolg bucht?Wohin ist uns die Geschichte entflohen, daß Zeitung und Parteiung als ihre Bewahrer sich breitmachen können?« (GA94 72)

Das Unbehagen, das uns bei den drei obigen Fragen befällt, hat seine Entsprechung in der kindlichen Faszination von Baggern und Traktoren: Was der Mensch so alles fertigbringt, erledigt die wahrlich nicht rationale Frage, ob ihm das überhaupt zusteht.

In diesen irrationalen Regionen befinden sich Globalisierungskritiker, Entschleuniger und Grüne schneller in rechter Gesellschaft, als ihnen lieb sein kann. Es ist eben kein kurioser Zufall, dass der Verleger Thomas Hoof, der Akif Pirinçci zum nützlichen Idioten bzw. zur neuen Lichtgestalt der neokonservativen Revolution gemacht hat, zuvor NRW-Landesgeschäftsführer der Grünen war und als Manufactum-Gründer das Shoppingbedürfnis nach Distinktion, Nachhaltigkeit und Nostalgie entdeckte.
In ihren Anfangsjahren tummelten sich bei den Grünen neben Pädophilie-Enthusiasten auch rechte Lebensschützer und spät geborene Artamanen. Ebenso wenig ist es kein Zufall, das mit Günther Anders und Hans Jonas zwei Heidegger-Schüler zu Vordenkern der Umweltschutz- und Anti-Atom-Bewegung wurden. Wie nah sich Richtig und Falsch, Gut und Böse in diesen Entscheidungsbezirken sind, zeigt sich, wenn sogar Brumlik in seinem taz-Beitrag »Sprung in die Irre« Heideggers Rationalitätskritik eine gewisse Nähe zur »Dialektik der Aufklärung« attestiert (ein Urteil, für das meine Wenigkeit in Lichtwolf Nr. 44 ebenfalls plädiert hat). Hier wie dort wird in einem gewaltigen denkerischen Kraftakt gezeigt, dass alles, was als richtig, normal und praktisch gilt, nur dazu dient, mit der Grundverkehrtheit dessen zurecht zu kommen, was wir für die Welt halten, und uns ihr damit verfügbar zu machen. Heideggers Verteidigung der Philosophie gegen »ein Nutzdenken für grobe Zwecke« (GA94 166, 176f., 477) und seine Kritik an Fortschritt, Bürokratie, Organisation und Kulturindustrie (GA94 365f., 387-389, 452; GA95 109, 427f.; GA96 102, 135, 184, 192f., 196, 200f., 205f., 226, 213) wäre in einem Blindtest wohl nur an der Stellung des Reflexivpronomens »sich« von der Adornos und Horkheimers zu unterscheiden. Motive wie die Unterwerfung des Menschen unter die Maschine, seine auch innerliche Verwandlung zum bloßen Rädchen (GA96 185-187), über die das Gerede von den »Wundern der Technik« hinweghelfen soll (GA95 391f., v.a. 380-386), ziehen via Marcuse marxistisch angereichert in die Gedankenwelt der »Linken« ein, die auch deshalb nicht mehr als politische Ortsangabe taugt, weil sich längst eine Ahnung des mit der »Rechten« geteilten Erbes breitgemacht hat.

Für Heidegger ist der verhängnisvolle Vorrang des Quantitativen eine Folge des neuzeitlichen Weltbilds (GA95 349f.), was mit der Bacon-Kritik Adornos und Horkheimers noch höchst vereinbar ist. Das kulturelle wie technische Immermehr ist für Heideggers Rationalitätskritik indes eine ständige Selbstübersteigerung in Seynsvergessenheit (GA95 302f.; GA96 107, vgl. 117) und völkischer Selbstverleugnung (GA94 482f., 499f., 501f., 509-511). Wenn er Wohlfahrt, Kulturförderung, christliches Heilsversprechen, Vergnügungen und Gerede verdammt (GA96 203), dann als nationalontologischer Kulturkritiker (GA95 10-12, 13f., 72f.). Dessen Ton ist aber kaum zu unterscheiden von der konservativ-bürgerlichen Modernitätsskepsis Adornos. So beklagt Heidegger die Disneyisierung des Landlebens, in welcher selbst der Bauernhof machenschaftlich bestimmt wird »durch das illustrierte Blatt mit der Darstellung von ausgezogenen Film- und Tanzweibern, von Boxern und Rennfahrern« (GA96 54, 90f., 201) Nachdem Technik und Historie zum Weltbezug schlechthin geworden sind, bleibt das »Leben« als vom seynsverlassenen Kulturbetrieb verklärte Schwundstufe übrig. (GA95 128-134, 215-217; GA96 89f.) Im Großen wird der »Amerikanismus« zum unkontrollierbaren Planetarismus, zur globalen Endstufe machenschaftlicher Verwüstung, flankiert von kulturellem Idiotismus (GA96 260f., 265f., 270f.): Alle »müssen je ihr eigenes Gerät haben, um so jedermann sein zu können, schnell und leicht das zu kennen und zu hören und zu ‚sein‘, was jeder andere ebenso ist.« (GA96 265)
Man mag sich nicht vorstellen, was Adorno und Horkheimer, die in Jazz und Kino den Untergang des Abendlands sahen, von Youtube und Casting-Shows hielten. Ebenso wird Heidegger kaum erahnt haben, welche Ausmaße die historische Geschwätzigkeit im Internet annehmen würde (vgl. GA95 379), das ihm als unvermeidliche Denkmaschine oder gespenstisch allgegenwärtige »letzte Form der Machenschaft« (vgl. GA96 108f., 195) erschiene – obwohl er seine Schwarzen Hefte neuerdings auch bilingual per Twitter verbreitet.

Die Schwarzen Hefte enthielten nach Brumlik auch »Überlegungen, die dem ‚Linksheideggerianismus‘, wie man ihn etwa bei Alain Badiou findet, ein für alle Mal den Boden entziehen dürften. Unter Bezug auf Lenins Wort, dass Kommunismus Sowjetmacht plus Elektrifizierung sei, urteilt Heidegger, dass die Technik weder Mittel noch Zugabe, sondern die ‚Grundform der Vermachtung der Macht‘ sei.«

Tatsächlich stellt Heidegger an der entsprechenden Textstelle (GA96 128-130) einfach das neuzeitlich-machenschaftliche Wesen auch des Bolschewismus fest. Der »Linksheideggerianismus« – falls es ihn bei Badiou gibt oder überhaupt geben kann – folgt Heidegger gerade im Überschreiten der ideologischen Antagonismen hin zum gänzlich Anderen. Seine radikale und umfassende Dekonstruktion (als »zerstörende Verwandlung«, vgl. GA94 213; GA95 226-228) ist nicht auf den Hass und die Deutschtümelei der Schwarzen Hefte angewiesen. Dennoch ist bei der Frage, was vom gekränkten Nationalontologen wie aufzuheben sei, Vorsicht geboten wie bei der Schatzsuche im Minenfeld.

Ontologischer Chiliasmus

Neben den zynischen und antisemitischen Einlassungen nimmt ein nicht minder problematischer ontologischer Chiliasmus den größten Raum in den Schwarzen Heften ein. Wie ein philosophischer Hiob glaubt Heidegger kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkiegs, in der seynsgeschichtlichen Endzeit zu leben. (GA95 141-146, 148f., 183f., 239f., 243; GA 96 54), die sich u.a. in der Vollendung der fraglosen Neuzeit aus Zwecken und Nutzen ankündigt (GA95, 280, 334f., 328-331, 386; GA96 52-55, 119). In schellingscher Manier fallen Vollendung und Neuanfang zusammen, sodass sich in der uneingeschränkten Machenschaft die Wahrheit des Seyns anbahnt (vgl. GA96 30f.) – und vielleicht kommt dem Übergang »eine ungewöhnliche Zerstörung des neuzeitlichen Europa zuhilfe« (GA96 134).

Die Menschen sind in der Machenschaft so seynsverlassen wie man Einöden »gottverlassen« nennt und im umgekehrten Sinn spricht Heidegger vom anderen Anfang als dem letzten Gott, dessen Erscheinen Katastrophe und Apokalypse – wie Heidegger es mag: im griechischen Wortsinne – wäre (vgl. GA94 404; GA95 48-50, 406f., 417). Ganz wie sein Vorbild Nietzsche glaubt auch Heidegger uneingestanden, seine christliche Erziehung überwinden zu können, indem er den Chiliasmus philosophisch auf die Spitze treibt. Kehrt man Heideggers Begriffsgewinnung um, so wird aus Hölderlin, dem Voraus-dichtenden, dem nach-zudenken ist, der προ-φήτης: der Prophet des Seyns (vgl. GA95 332f., 378-380; GA96 60); drum die Erinnerung des »scheinbar gottabgekehrten Sohnes« an die fromme Mutter (GA94 320) und der Argwohn gegen die Gottlosigkeit des Bolschewismus (GA94 351). (Übrigens ist auch der katholisch-familiäre Briefwechsel Heideggers ediert.)

Das Seyn als Gott versteht Heidegger nicht im christlichen, sondern völlig neuen Sinn (GA95, 24f., 212f.; GA96 156f.), weshalb er auch den Atheismus als bloß Negatives verabscheut (GA96 23f.). Der christliche Gott dient dem historischen Tier bloß »zur Verrechnung seines Glücks und seines Unglücks« (GA95, 303), womit das Seyn nichts zu schaffen haben wird. »Alle Götter vordem waren Erklärungen und Bestätigungen und Ausflüchte des Seienden.« (GA96 66; vgl. 136f.)
Trotzdem entkommt der Mesnersohn nicht der Begriffs- und Bilderwelt seiner Kindheit und Jugend. Das Ungeheure oder Riesige ist die vermasste Moderne, das Rechenhafte, der »Widergott« des Großen. (vgl. GA94 216, 487f., ) Mitunter scheint Heidegger einen hesiodschen Titanenkampf (GA94 503) oder ein Seyns-Armageddon (GA95 426f.; GA96 98f.) vor Augen zu haben.

Die Tyrannei der Technik über das Dasein (GA94 356f., 363, 426f.) ist das metaphysisch noch völlig unverstandene Wesen dieser Endzeit (GA95 291f., 364-366, 373f., 377f., 418). Revolutionen (GA95 229f.) und der faktische Krieg zwischen Weltanschauungen oder Völkern als Massenwesen seien bloß machenschaftlicher Vordergrund (GA95 39, 70f., 185, 235, 253, 439f.), eine »riesige Verschleierung einer riesenhaften Leere und Ratlosigkeit« (GA96 40, 141f.). Zwar sei der Weltkrieg die äußerste Umwälzung in die Machenschaft (GA96 173, 180), doch »der Krieg ist nicht das Schrecklichste« (GA95 202), wie auch der Genickschuss bloß vordergründliches Zeichen des Terrors ist (GA96 139).
Der wahre Krieg ist der Heideggers, in dem man sich entscheiden müsse zwischen beherrschtem Seiendem und der Verborgenheit des Seyns, zwischen Geschichtslosigkeit und Geschichte. (GA95, 117, 188f., 191f., 204; GA96 160, 174f.) Was ist schon die faktische Verheerung Europas gemessen am seynsgeschichtlichen Auftrag des Abendlands (GA95, 193f.) und der drohenden Verwüstung endloser Besinnungslosigkeit (GA96 147, 131, 138f.)!
Die Machenschaft übernimmt die Rolle des Biests aus der Johannes-Offenbarung, das die Völker zur Götzenanbetung (vgl. GA94 420f.; GA96 201f.) und Leugnung der Propheten verführt. Hölderlin und Nietzsche (vgl. GA96 14f.) werden von der widergöttlichen Kulturpolitik verharmlost und »zum zweideutigen Aufputz der Machenschaften« missbraucht (GA95 323, 65-67, 199-201, 234f., 247f., 348f., 440f., GA96 8-10, 84f., 96, 188, 189, 191, 207f.). Die irregeleiteten Massen wollen keinen anderen Anfang und retten sich in Fort-setzungen (GA96 4), die Besinnungslosigkeit vollendet sich und vertreibt das Seyn endgültig (GA95 201, 225f., 240f.).

Das ist die erste große Mystik des technischen Zeitalters.

Wozu soll man sich damit noch beschäftigen?

»Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.« (Heidegger, »Das Ge-Stell«, 1949) Es ist falsch, darin die Vorstufe eines »kommenden Wortes« der Scham zu sehen, auf das Paul Celan nach seinem Besuch in der Todtnauberger Hütte hoffte. Vielmehr verrät sich darin ein Echo von Heideggers Hoffnung, der Nationalsozialismus werde vollbringen, was der technisch-historisch integrierte Erste Weltkrieg nicht vermochte (GA95 81, 133; GA96 44-47, 113f.): die falsche Metaphysik an ihr katastrophales Ende bringen (vgl. GA96 193f.).
Für Heidegger wie für Adorno führt die Aufklärung direkt nach Auschwitz. Ersterer sieht aber das Versprechen eines Neuanfangs in den Leichenbergen, die der abendländische Rationalismus erzeugte und in die er eingehen sollte. »Wenn in der Macht der ‚Rasse‘ (des Eingeborenen) eine Wahrheit liegt, werden und sollen die Deutschen dann ihr geschichtliches Wissen [...] nicht zum höchsten tragischen Austrag bringen müssen?«, notiert Heidegger 1934 noch in Bezug auf die Seinsfrage (GA94 168), aber schon in der apokalyptischen Hoffnung auf die Krise der Besinnungslosigkeit (GA94 52, 178, 282, 298, 364f.; GA95 26, 96f., vgl. 320-322). Die Vollendung der Technik laufe darauf hinaus, dass »sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet. Was kein Unglück ist, sondern die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des Seienden.« (GA96 238)
In diesem Sinne will Heidegger nach dem geheimen Wandel seines Glaubens an Hitler den Nationalsozialismus ernst genommen wissen als barbarisches Prinzip, welches das Denken in die Not bringt (GA94 194; GA95 41, 44f., 275f., 281). Es ist der nietzscheanische (nicht spenglersche) Topos vom Untergang als Übergang (GA94 277, 300; GA95 359; GA96 93f., 180, 269f.): »Weshalb sollen wir das aufhalten, was an sein Ende muß?« Nämlich das »bloße Auslaufen des nicht mehr bewältigten Anfangs« (GA94 365)

Um 1940 übernimmt der Bolschewismus die Rolle des ontologischen Antichristen. Seynsgeschichtlich verstanden laufe er darauf hinaus, jeden gleichermaßen der Machenschaft zu unterwerfen und damit die Neuzeit zu vollenden. Weil darin sein Wesen liege, führe jede nicht-seynsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus zu seinem Sieg (GA96 149-157), womit Heidegger das Motiv der Anverwandlung an den Gegner im Kampf wieder aufgreift. Da die Neuzeit zu einer solchen seynsgeschichtlichen Auseinandersetzung längst unfähig und unwillig geworden ist, steht ihre Selbstvernichtung in der totalen Mobilmachung des machenschaftlichen Weltbürgerkriegs bevor. (GA96 154f.) Danach aber käme die Zeit, in der die Seltenen den anderen Anfang dichten und denken werden. (GA96 155)

Diese Sehnsucht nach dem reinigenden Gewitter, die hämische Cassandra-Geste befällt auch heute manchen Konsumkritiker und Ökoaktivisten, der einer Menschheit verbittert die Apokalypse an den Hals wünscht, vor der er zu lange gewarnt hat, ohne Gehör zu finden.
Weder das, was Heidegger umtrieb, noch die Art, wie er sich dabei in die Irre begab, ist erledigt. Es sind gerade nicht die Trottel, die skeptisch sind, ob die Demokratie mit der Not fertig wird, in die die Menschheit sich mit mit der machenschaftlichen Erschließung und Ausbeutung alles Seienden gestellt hat (ob es nun um Ölbohrungen in der abschmelzenden Arktis oder die Erfassung und Analyse jeder digitalen Regung geht), und die zur Rettung aus der Gefahr das Freund-Feind-Denken wieder aufleben lassen. Was ist das in uns, das uns das schon bei Kant angelegte Gebot überschreiten lässt, wonach sich jeder Gedanke widerlegt, sobald er die Menschenrechte ignoriert oder relativiert?

Der Bau des Fuchses Heidegger hat alle Charakteristika eines geschlossenen narzisstisch-paranoiden Weltbilds, weshalb er im SPIEGEL-Interview ein Vierteljahrhundert später über das Gleiche spricht, worum es auch in seinen Schwarzen Heften geht. Schon die triviale Annahme, christliche Erziehung und abgebrochenes Theologiestudium (nebst des Landlebens; vgl. GA95, 217, 290; GA96 69, 107, 130, 161, 187) könnten das Denken des Meisters geprägt haben, würde (trotz seines Eingeständnisses in GA12 91) von seinen Jüngern, die sich heimlich für die »Vorbereitenden«, »Gründer« und »Schaffenden« des neuen Anfangs halten (vgl. GA96 66f.), als Psychologismus zurückgewiesen, mit dem Heideggers Denken zum Schutze der neuzeitlichen Seynsverlassenheit banalisiert werden soll (vgl. GA95 415f.; GA96 256). Von außen ist ihm nicht beizukommen, dafür ist leicht an ihm vorbeizukommen. Dies umso mehr nach der Debatte, deren Teilnehmer mehrheitlich 14 Seiten als hinreichend ansehen für die Damnatio Memoriae des Angeklagten.

Ohne Zweifel war Martin Heidegger ein eitler Griesgram und ein übler Nazi, der selbst gegenüber Paul Celan, dessen Eltern im KZ ermordet wurden, nicht das geringste Zeichen des Bedauerns zeigte. Stattdessen immunisierte er sich mit seinem Auserwähltheitskult: Der Untergang als Sieg der Seinsgeschichte gehöre den einsam schweigenden Denkheroen mit der nötigen Größe und Zerrissenheit (GA94 480f., 484, 485; GA95 19, 21, 70, 91, 104, 205, 219f., 286f., 391; GA96 108). In seiner Nachahmung übertrifft er Nietzsches Selbstwiderspruch, die Hoffnung auf Hinterwelten als nihilistisch zu zeihen und dabei unentwegt auf »die Künftigen« zu verweisen. (vgl. GA94, 320, 322f., 343f.; GA95 250f.; GA96 147) Dabei wird Heidegger manchmal sogar seltsam konkret: Erst nach zwei Jahrhunderten wird das vielleicht was mit den Deutschen als Seynsgründer (GA96 171); um das Jahr 2327 herum wird wieder Geschichte sein, wenn der nihilistische Amerikanismus sich selbst erledigt habe (GA96 196, 225). Ebenso lächerlich ist die Einreihung seines Geburtstags in die von Nietzsche und Hölderlin geprägte Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. (GA94 523)

Nachdem Arno Schmidt in »Sitara und der Weg dorthin« (1963) ausgiebig untersucht hat, wie Karl May seine sexuellen Gelüste in die Landschaftsbeschreibungen hineinsublimierte, kommt er zu dem erleichterten Urteil, bei May handele es sich nicht um »ein bloßes >armes Würstchen<«. Vielmehr hätten wir es mit einem förmlichen »Koloß von Würstchen!« zu tun.
Heidegger bleibt persönlich als ein Koloss von Mitläufer – und philosophisch? Philosophie wäre nach seiner Vorstellung die Vorbereitung des Seyns durch die wenigen dazu Berufenen, die einsam vor sich hin schweigen, wobei sich etwas »er-eignet« bzw. meistens eben nicht, weil das Seyn bis zuletzt auf sich warten lässt. (vgl. GA94, 490f., 498f., 505; GA95, 54-56, 57; GA96 189, 206, 222)

Doch in einer Zeit, in der Philosophie als »grundloses Vorstellen von leeren Allgemeinheiten« missverstanden wird (GA96 86), ist es Heideggers Verdienst, zum vorerst letzten Mal den fundamentalen (!) Anspruch der Philosophie jenseits des Nützlichen und Bekannten, auch jenseits von Gut und Böse hochgehalten zu haben, die sich heute als Hilfsdisziplin der Kognitionswissenschaften nützlich zu machen versucht, denen Heidegger höchstpersönlich das Institut kaputtgeschlagen bzw. heimlich darüber was notiert hätte.
 

Eine Nachlese zur Feuilleton-Debatte um Martin Heideggers »Schwarze Hefte«
(GA Bd. 94-96) - 1. Teil
Was vom gekränkten Nationalontologen bleibt
von Timotheus Schneidegger
Artikel lesen

Timotheus Schneidegger ist Herausgeber des »Lichtwolf - Zeitschrift trotz Philosophie«. Er lebt als freiberuflicher Logos-Söldner und Schlickfarmer an der Nordsee.



Martin Heidegger
Überlegungen II-IV
(Schwarze Hefte 1931-1938)
Herausgegeben von Peter Trawny
Vittorio Klostermann Verlag 2014. VI
536 Seiten. Ln 68,00 €
ISBN 978-3-465-03815-3
Martin Heidegger Gesamtausgabe 94

Überlegungen VII-XI
(Schwarze Hefte 1938/39)
Herausgegeben von Peter Trawny
Vittorio Klostermann Verlag 2014. VI
456 Seiten
ISBN 978-3-465-03833-7 Ln 58,00 €
ISBN 978-3-465-03832-0 Kt 48,00 €
Martin Heidegger Gesamtausgabe 95

Überlegungen XII-XV
(Schwarze Hefte 1939-1941)
Herausgegeben von Peter Trawny
Vittorio Klostermann Verlag 2014. VI
286 Seiten. Ln 44,00 €
ISBN 978-3-465-03839-8
Martin Heidegger Gesamtausgabe 96
 

 


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