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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Wir müssen uns Michel Houellebecq
als einen unglücklichen Menschen vorstellen


»Unterwerfung« ist ein Gedankenexperiment, das zeigt, wohin politischer
Opportunismus führen kann, und daß eine Demokratie vor der Infiltration
ihrer Gegner nicht gefeit ist.


Von Gregor Keuschnig
 

Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« wurde nicht zuletzt wegen der wenn auch länger zurückliegenden kritischen, zum Teil durchaus beleidigenden Äußerungen des Autors zum Islam argwöhnisch untersucht. Die Koinzidenz zwischen der Erstveröffentlichung und den schrecklichen Morden von Paris liegt natürlich außerhalb des Einflusses des Autors. Was einige Hysteriker nicht davon abhält, Houellebecq von nun an eine Art Mitverantwortung für das Vergangene bzw. sogar das Zukünftige zuzuweisen. Dabei ist spätestens seit Rushdies »Satanischen Versen« klar, dass Terroristen, Politiker und die meisten Medienvertreter bei allen Differenzen in einem Punkt eine Gemeinsamkeit haben: Sie brauchen das Werk bzw. die Reaktionen darauf, die sie skandalisieren und instrumentalisieren nur als Anlass; eine Lektüre ist dann doch zu aufwendig. Das hat in erschütternder Weise die Diskussion in Frankreich gezeigt, in der Houellebecq die Verbreitung rechtsextremer Thesen und sogar Rassismus vorgeworfen wurde.

Auch in Deutschland überschlugen sich die Rezensenten bereits vor Erscheinen des Buches mit ihren Urteilen. Dabei wurde auch hier mit Akribie auf eine potentielle Islamfeindlichkeit des Textes bzw. des Autors geachtet, was abermals zeigt, dass das Feuilleton zunehmend die Rolle des politischen Anstandswauwaus wahrnehmen möchte, weil sich damit am meisten Distinktion erarbeiten lässt. Noch seltsamer als dieser Gesinnungs- und Rezensionswettlauf mutete die zuweilen aufkommende (gespielte?) Naivität an, die fragt, warum eigentlich alle jetzt plötzlich ein literarisch derart mittelmässiges Buch besprechen. Dabei spielt es keine Rolle, dass das Urteil der literarischen Mediokrität fast immer nur behauptet wird; handfeste Belege fehlen zumeist. 

Verstopfte Waschbecken und Fehler in der Steuererklärung

Der Plot des Romans ist schnell erzählt. Der Leser wird transformiert in das Frühjahr des Jahres 2022. François, ein müder französischer Universitätsprofessor an der Pariser Sorbonne, bald 44 Jahre alt, der über Joris-Karl Huysmans dissertiert hatte, weiß nicht mehr so recht, was er tun soll: »Mein Interesse für das Geistesleben war sehr abgeflaut, meine gesellschaftliche Existenz war nicht zufriedenstellender als meine körperliche, die eine wie die andere war eine Abfolge kleiner Widrigkeiten – ein verstopftes Waschbecken, eine nicht funktionierende Internetverbindung, Strafpunkte für schlechtes Fahren, betrügerische Putzfrauen, Fehler in der Steuererklärung -, die mich ohne Unterlass quälten und nie zur Ruhe kommen liessen.« Seine Liebesaffären sind im Semesterrhythmus getaktet. Nur mit der halb so alten Myriam verbindet ihn mehr.

Es ist Mai, und der französische Präsident wird gewählt. Das Personal aus Presse und Politik, das Houellebecq aufmarschieren lässt, ist real. Die Ausnahme ist Mohammed Ben Abbes, der charismatische Vorsitzende des Bundes der Muslime. Ben Abbes werden gute Chancen auf die Stichwahl eingeräumt, wobei die Befürchtungen dahin gehen, dass es dann zu einer Auseinandersetzung mit Marine Le Pen, der Vorsitzenden der rechtsextremistischen Front National (FN) kommen wird. In Paris und anderen Städten kommt es derweilen zu Anschlägen und Zwischenfällen mit Toten, die in den offiziellen Medien verschwiegen werden. Schließlich sickern Verhandlungsergebnisse zwischen den Sozialisten und Ben Abbes durch. In den meisten Feldern (Außen-, Innen- und Finanzpolitik) ist man sich weitgehend einig, lediglich in Bezug auf die Bildungspolitik, die islamischen Gesetzen angepasst werden soll, gibt es noch Diskrepanzen. Es scheint ausgemacht, dass die Sozialisten für den zweiten Wahlgang eine Empfehlung für die Muslimpartei aussprechen werden.

Myriam verlässt mit ihren Eltern Frankreich in Richtung Israel. Schon vorher wird der latent wachsende Antisemitismus (unter einem sozialistischen Präsidenten!) angesprochen. Am Tag der Entscheidung verlässt François früh morgens Paris. Die Fahrt ist gespenstisch. Rastplätze und Tankstellen sind entweder geschlossen oder ausgeraubt; er sieht Leichen. Schließlich landet er in Martel. Schon unterwegs gab es keinen Radioempfang. In einem Dorf schaut man BBC World Service. Es gab Unruhen, aus einigen Wahllokalen sind Urnen gestohlen worden, daher ist die Wahl ungültig und wird wiederholt. Am Montag danach sind die Straßen plötzlich wieder belebt, alles scheint normal. François trifft einen ehemaligen Geheimdienstmann, der ihn (und damit auch den Leser des Buches) ausgiebig über Ben Abbes informiert. Tenor: Es wird nicht so schlimm kommen, wie man gemeinhin denkt. Als schließlich die Konservativen und Liberalen (UMP und UDI) sich der Wahlempfehlung für die Muslimpartei anschließen, um Le Pen und die Front Nationale zu verhindern, ist der Ausgang der Wahl klar.

François taucht für sechs Wochen ab, besucht die Schwarze Madonna von Rocamadour. Er versucht, sich – wie Huysmans – dem Katholizismus anzunähern. Schließlich kehrt er nach Paris zurück. Sofort sichtbare Veränderungen gibt es kaum. Frauen tragen jedoch inzwischen Hosen; Röcke und tiefe Ausschnitte gibt es nicht mehr. Da er nicht erreichbar war, hat die »Islamische Universität Paris-Sorbonne« ihn verrentet, denn Universitätsprofessor kann man nur noch mit muslimischem Glauben werden. Dabei zeigt man sich großzügig: Er bekommt den Betrag monatlich ausgezahlt, den er bei weiterer Beschäftigung bis zum planmäßigen Rentenalter erhalten hätte.

In kurzer Zeit sterben François' Mutter und sein Vater. In der ihm reichlich verbliebenen Freizeit beschäftigt er sich vor allem mit YouPorn und Analverkehr mit diversen Escort-Damen um jedoch festzustellen, dass ihn die Sexualität als reiner Akt (d.h. ohne emotionale Bindung) kaum mehr befriedigt. François vereinsamt binnen weniger Monate. Er stürzt sich ins Selbstmitleid, bekommt Weinkrämpfe, denkt sogar an Selbstmord. Jetzt rächt sich, dass er kaum Freundschaften pflegte. Schließlich teilt ihm auch noch Myriam mit, dass sie in Israel «jemand anderes« gefunden habe, dort bleibe und die Entwicklung in Frankreich mit Sorge sehe. Auch das Studium von Huysmans fordert François nicht mehr heraus. Dennoch macht er sich auf den Weg zum Kloster Ligugé, in der Huysmans Ruhe und Einkehr suchte. François' Doktorarbeit ging von Huysmans Konversion am Ende seines Lebens zum Katholizismus aus. Nun sucht auch er nach Spiritualität. Nach drei Tagen fährt er jedoch wieder zurück nach Paris, da er unter anderem mit dem Rauchverbot nicht klarkommt. Dort lernt er den Präsidenten der Universität kennen, der ihn hoffiert und eine Rückkehr in den Betrieb schmackhaft macht. Leider behaupten manche oberflächlichen Leser in ihren Rezensionen, François konvertiere am Ende zum Islam, um wieder lehren und seine Reputation genießen zu können. Houellebecq hat jedoch die letzten Seiten im Konjunktiv verfasst, so dass die Konversion nicht sicher ist. Der letzte Satz lautet: »Ich hätte nichts zu bereuen.«

Selbsthass und Minne-Ideal

In dem der Unsympath, Macho und Frauenverbraucher François mit sich in der Welt ringt, ihren Sinn jenseits oberflächlicher Vergnügungen und langweiliger Literaturexegesen sucht, entsteht eine Offenheit, die dem selbstzufriedenen Ironiker nicht möglich ist. Dabei erscheinen die im Buch zahlreich verwendeten literarischen Referenzen (Bloy, Nietzsche, Péguy) eher als Sättigungsbeilage für die Kadaververwerter des Literaturbetriebs. Selbst die Parallelen zwischen François und Huysmans dienen nur als Ornament, um die Idiosynkrasien der Figur zu illustrieren.

Wenn François beispielsweise Huysmans Sexualität analysiert (bis auf eine Ausnahme griff er auf Prostituierte zurück), sieht er sich in Wirklichkeit selber: »Nicht nur der Sex hatte für Huysmans niemals die Bedeutung, die er [François] ihm unterstellte…« Damit charakterisiert Houellebecq einerseits das eher frustrierende Sexualleben seines Helden. Andererseits werden auch die Sprüche François' zu Frauen und deren Verfügung relativiert. In Wahrheit ekelt sich François (wie auch Bruno Klement in »Elementarteilchen«) vor der triebhaften Sexualität als eine Art Leistungssport, der am Ende nur abstumpft. Der Frauen- oder auch Männerverbrauch hat mit Liebe und Zärtlichkeit, mit Nähe, Wärme und Aufgehobensein nichts mehr zu tun. François gibt sich dem Sex zwar hin, aber der einzig empfundene Eros Menschen gegenüber begegnet ihm in der Literatur. Die misogynen Aussprüche der Hauptfigur sind dessen veritablem Selbsthass geschuldet.

In Wirklichkeit ist das (unerreichbare) Ideal des Mannes die Minne, die Liebe zu einer Frau, die jeder »Verunreinigung« durch Sexualität enthoben ist. An einer Stelle rekapituliert François eine Stelle bei Huysman über das »lauwarme Glück alter Paare« mit »unschuldigen Zärtlichkeiten«. Hier zeigt sich Liebe und auch Erotik jenseits exzessiver Körperlichkeit. Die schnöde Hatz nach möglichst vielen und spektakulären Orgasmen, die dann irgendwann doch ausbleiben, ist hier obsolet. Es ist eine der merkwürdigsten Volten in »Unterwerfung«, dass François am Ende ausgerechnet in der Polygamie des Islams, die dem Mann erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten, eine besondere Wertschätzung für die Frau zu erkennen glaubt.

Der faustische Pakt der politischen Eliten

Der fehlende Idealismus seiner Hauptfigur François erlaubt Houellebecq nüchterne, durch keinerlei Polemik verzeichnete Einsichten in das politische System Frankreichs. Der leise Abschied des Koordinatensystems – rechts/konservativ versus links im steten Wechsel, inklusive der Kohabitation – wird trocken, allenfalls ein wenig verwundert konzediert. Er ist nicht einmal desillusioniert, weil er niemals Illusionen hegte. François macht sich Ben Abbes' Urteil zu eigen, der Frankreich als eine »republikanische Meritokratie« charakterisiert. Wenn politische Eliten im Abwehrkampf gegen die rechtsnationale FN sich in einer Art faustischen Pakt mit dem islamischen Kandidaten verbünden, so ist dies am Ende nur eine logische Entwicklung eines heruntergekommenen konkordanten Apparats. Vor lauter Furcht vor Le Pen – immerhin droht der Austritt aus Euro und EU – werden die gravierenden gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen, die die Muslimpartei offen kommuniziert, billigend im Kauf genommen. Linke und Konservative denken vor allem an ihre Pfründe. Die Sozialisten beanspruchen die Hälfte der Ministerposten. Scharfsichtig stellt François fest, dass die Linke mit der Scharia eine Gesellschaftsform nicht nur toleriert, sondern akzeptiert, die sie, würde sie vom FN aufgebracht, als rassistisch und menschenverachtend bekämpfen würde. Der Laizismus, einer der Grundpfeiler der französischen Republik, wird still und leise aufgegeben. Andere Werte einfach angepasst.

Houellebecq beschreibt einen muslimischen Marsch durch die Institutionen. Dabei steht nichts weniger als die Frage im Raum, ob man mittels demokratischer Wahlen die bestehende Gesellschaftsordnung derart radikal verändern kann. Gleichzeitig bekommt man die Fragilität dessen zu spüren, was wir als unverrückbare Werte einer pluralistischen Gesellschaft bezeichnen: Die Gesetze und Paragraphen stehen am Ende nur auf dem Papier. Und hier können sie geändert werden. Jederzeit. Es bedarf nur der entsprechenden Mehrheiten.

Hinzu kommt, dass Ben Abbes kein fundamentalistischer Salafistenprediger und noch weniger ein Scheich aus irgendeinem Operetten-Emirat ist. Er erhält zwar umfangreiche finanzielle Unterstützung aus Saudi-Arabien, zeigt aber durchaus einen eigenen politischen Kopf. Das Land prosperiert. Wer sich den neuen Gegebenheiten nicht anpasst, wird nicht physisch bedroht, sondern mit der bedingungslosen Verrentung großzügig kaltgestellt.

Das Versagen der demokratischen Kräfte erinnert den deutschen Leser an die Weimarer Republik, in der links- wie rechtsaußen den Bürgerkrieg auf die Straßen trugen (mindestens in Berlin) und die Honoratioren von SPD, Zentrum und Liberalen sich der Illusion hingaben, es komme wohl nicht so schlimm. Im Buch gibt es einen angedeuteten Bürgerkrieg zwischen den »Identitären«, die sich als «Ureinwohner Europas« definieren (völkisch, antiislamisch, antiglobalistisch und antiamerikanisch; kurz: eine Variante derer, die sich in Deutschland »Pegida« nennen) und radikalen Muslimen, denen Ben Abbes zu liberal ist.

Die Überforderung

Houellebecqs These: Die Moderne mit ihren Möglichkeiten, Freiheiten aber auch Risiken überfordert auf Dauer die Menschen. Der Staat kann nur noch die minimalsten Bedürfnisse stillen; so etwas wie Gemeinschaft und Zusammenhalt existiert nicht. Die großen Versprechungen erweisen sich als Schein. Peter Sloterdijk formulierte in seinem Buch »Die schrecklichen Kinder der Neuzeit« die Moderne als die Zeit, in der die traditionellen Bezugsgrößen wie Familie und Traditionen erodieren und der «Bastard«, das uneheliche bzw. sich von seinen Eltern rücksichtslos emanzipierende Kind, alle Brücken hinter sich abbricht und die Gesellschaft so laufend Wandlungen erfährt. François ist in diesem Sinne der typische »Bastard« der Moderne: Seine Mutter ist für ihn eine »neurotische Hure« gewesen und von seinem Vater weiß er kaum etwas. Der Tod der Eltern lässt ihn gleichgültig. Ben Abbes dreht diese Entwicklung zurück: Familie und Demographie werden zu Pfeilern der neuen Gesellschaftsordnung. Es wird keine »schrecklichen Kinder« mehr geben.

In der Figur François zeigt sich, dass die »Sprünge nach vorn« (Nietzsche), die man als Moderne bezeichnen könnte, sogar einen Universitätsprofessor überfordern und auf Dauer metaphysisch obdachlos lassen. Wie sollen sich denn erst die muslimischen Jugendlichen aus den Banlieus, die ohne Arbeit und Perspektive in den Tag hinein leben, verhalten? Houellebecq benutzt den Bezug auf Huysmans, um zu zeigen: auch der Katholizismus bietet keine Alternative mehr. Er ist bereits zu sehr auf die Regeln und Werte der Moderne eingegangen. Versinnbildlicht wird dies am Kloster Ligugé: Durch eine vielbefahrene TGV-Strecke gibt es kaum noch die Stille wie zu Zeiten des frühen 20. Jahrhunderts. Der Kirchenneubau ist von einer abgrundtiefen Hässlichkeit. Die Stundengebete werden seelenlos abgespult. Symbol für die Usurpation durch die Moderne ist schließlich der Rauchmelder, der die ansonsten kargen (und auch wohl kalten) zellenähnlichen Zimmer sozusagen spirituell verschandelt.

Was ist also zu tun? Mehrere Male wird im Buch von den Wonnen oder, neutraler, Vorteilen einer Unterwerfung erzählt. Zum einen als François als Stipendiat sich innerlich frei wähnte, die Dissertation zu schreiben, die er wollte. Er hatte keinerlei Obstruktionen hinzunehmen – was sich im Universitätsbetrieb als Dozent und später als Professor schlagartig änderte. Oder wenn seine junge Freundin Myriam in ihrer (jüdischen) Familie wohl aufgehoben ist und wie selbstverständlich die Emigration nach Israel mit ihren Eltern begleitet. Schließlich beneidet er sogar Huysmans' Konversion zum Katholizismus. Ein Verhalten, dass ein großer französischer Denker, Albert Camus, als unmöglich für einen Geistesmenschen geißelte. Aber Camus kommt bei François schlecht weg: Er und Sartre werden unter dem Rubrum »Hanswurste der engagierten Literatur« abgehandelt.

Es ist die Transzendenz

Die Unterwerfung unter das Klosterleben misslingt. Plötzlich wird der Islam mit seinen bis ins kleinste geregelten Abläufen attraktiv. Niemand fällt mehr aus der Gemeinschaft. Verantwortung kann delegiert oder auf eine breitere Basis abgeschoben werden. Die Unterordnung als Rädchen im Getriebe befreit mehr als jede wirtschaftsliberale Parole von »Jeder ist seines Glückes Schmied«, die eine Freiheit nur vorspiegelt, denn wer den »falschen« Universitätsabschluss besitzt, hat keine Chance. Aber es geht François nicht um Karriere, sondern um Zuwendung, etwas, was ein institutionalisierter Sozial- und Wirtschaftsstaat mit seinen mehr oder weniger abstrakten Gesetzen nicht zu bieten vermag. Mit Schopenhauer gesprochen: Die frierenden Stacheltiere suchen Nähe. Der Islam bietet sie an.

Erstaunlich, dass im Buch nur wenige Parallelen zu den faschistischen (und kommunistischen) Gesellschaftsentwürfen gezogen werden. Auch hier wurde dem Subjekt eine Gemeinschaft versprochen, für die er seinen Individualismus nicht direkt aufgeben, aber zumindest neu positionieren musste. Ohne es anzusprechen, erscheint der Islam in »Unterwerfung« als Variante einer faschistoiden Gesellschaftsnorm, die, im Gegensatz zu den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts, auch noch Transzendenz bietet. Der »Führer« ist kein Mensch sondern Gott. Die »Gesetze« Gottes sind aber mehr als nur Papier eines republikanischen Verfassungspatriotismus, dessen Werte von ihren Repräsentanten auf dem Altar des Machterhalts geopfert werden. Ben Abbes' Interpretation des Islam ist pragmatisch. Moderne Technologien werden nicht per se verteufelt. Christen (und auch Juden) haben von ihm anscheinend nichts zu befürchten. Teilweise erinnert er an Tariq Ramadan, der im Buch als jemand klassifiziert wird, der die Scharia als »revolutionäre Option« darstellt, aber sich als antikapitalistischer Linker disqualifiziert, während der fiktive Ben Abbes den Distributismus einführen möchte, eine Art dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus.  

Schwächen

Schon eine oberflächliche Lektüre macht klar: »Unterwerfung« ist kein »islamophobes« Buch. In dem Maße wie sich diese Erkenntnis im Medienzirkus festsetzte, begann auch schon das Desinteresse. Der »Skandalautor« hatte scheinbar nur ein Skandälchen geliefert: Die Dystopie sei »unrealistisch«, so hieß es gelegentlich. Mit ähnlichem Urteil hätten sie vermutlich auch Orwells »1984« abgeschmettert.

Der Einwand ist allerdings nicht ganz von der Hand zu weisen. 2022 ist aktuell sieben Jahre entfernt. Bis dahin müssten sich, um ein Ergebnis von 22,3 % im ersten Wahlgang zu erzielen, mindestens 8 Millionen Wähler für eine muslimische Partei entschieden haben (bei einer Wahlbeteiligung von rd. 80%). Das zeigt, dass der Blick in die Zukunft zu kurz gewählt ist. Derzeit leben in Frankreich ca. 6 Millionen Muslime, von denen vorsichtigen Schätzungen nach nur ungefähr 50% wahlberechtigt sind. Die Crux: Weil Houellebecq jedoch nicht auf das Namedropping der aktiven Politiker verzichten und sie entsprechend vorführen wollte (besonders schlecht kommen Hollande, Bayou und die beiden Le Pens [Vater und Tochter] weg), durften es nur sieben Jahre sein.

Ein weiterer Punkt ist, dass Houellebecq die europapolitischen Abläufe wenig glaubhaft darstellt. Präsident Ben Abbes sorgt binnen weniger Monate dafür, dass sich der Wunsch der »Mittelmeerischen Union« – zuletzt vom konservativen Nicolas Sarkozy während seiner Präsidentschaft ins Spiel gebracht – realisiert. Algerien, Marokko, Tunesien, Ägypten, der Libanon und vor allem die Türkei werden praktisch über Nacht in die EU integriert. In Belgien regiert ebenfalls ein muslimischer Regierungschef (die Begründung, die Houellebecq in dem Roman findet ist pfiffig: Wallonen und Flamen hätten sich solange gegenseitig an der Regierung gehindert, dass die Muslimpartei, die übersprachlich agierte, als lachender Dritte reüssieren konnte) und in »Holland«, »England« und Deutschland seien muslimische Parteien in der Regierungskoalition (in »England« ist das alleine aufgrund des Wahlrechts schwer vorstellbar).

Houellebecq erzählt, wie Frankreich nach der Machtübernahme von Ben Abbes aufzublühen scheint. Deutsche kennen einiges davon noch durch die Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern. Die Kriminalität sinkt, die Arbeitslosigkeit auch (die Frauen fallen praktisch vollständig aus dem Arbeitsmarkt und werden mit »Familienzulagen« geködert) und die Immobilienpreise florieren, da es in Saudi-Arabien schick ist, einen Zweitwohnsitz in Frankreich zu haben. Der sich vor der Wahl immer bedrohlicher ausbreitende Bürgerkrieg wird jedoch nicht mehr erwähnt. Und was ist mit den »Identitären«, die Houellebecq in Form eines Kollegen von François zu Beginn einführt? Auch hier lässt er den Faden abreißen.

Verdrängung

Alles nur bürokratische Einwände? Vielleicht. Aber ist Literatur dieser Art von jeglicher Plausibilität befreit? Warum hat Houellebecq 2022 genommen und nicht 2032? Er hätte sich alle Freiheiten nehmen können; Freiheiten, die nun dem rational denkenden Leser eher unwahrscheinlich erscheinen. Einerseits soll womöglich durch die Unmittelbarkeit der sieben Jahre ein gewisser Schockeffekt erzeugt werden. Dieser wird jedoch durch das auch von Houellebecq als nahezu unmöglich konzedierte Szenario aufgeweicht. Zudem wurde mit dem Ich-Erzähler François eine Mischung aus Oblomow, Meursault und Stoner geschaffen, den sich der Leser gehörig auf Abstand halten kann. Wie fast alle Figuren Houellebecqs ist François kein Zyniker: Humanistische Ideale, der Glauben an die Moral des Menschen, die Aufklärung sind für ihn zunächst nur Begriffe. Auch mit dem französischen Patriotismus kann er nichts anfangen. Dieser habe nur zwischen 1792 und 1917 existiert. Eine Flucht in die Ironie, den Sarkasmus bleibt dieser Figur verwehrt. Damit büßt er jedoch schnell Sympathien ein, da sich die Literaturexegeten bevorzugt an Zynikern oder Ironikern abarbeiten.

Die deutsche Kritik hat einen Weg gefunden, sich das Buch vom Hals zu halten. Man verständigt sich mehrheitlich, dass »Unterwerfung« eine Satire sei. Damit ist man von der Auseinandersetzung mit den Fragen und Problemstellungen, die im Roman aufgeworfen werden, weitgehend befreit; der Fall ist erledigt. Im Buch selber ist diese Art der Verdrängung beschrieben: »Wahrscheinlich ist es für Menschen, die in einem bestimmten sozialen System gelebt und es zu etwas gebracht haben, unmöglich, sich in die Perspektive solcher zu versetzen, die von diesem System nie etwas zu erwarten hatten und einigermaßen unerschrocken auf seine Zerstörung hinarbeiten.« So hat Houellebecq die deutsche Rezeptionsgeschichte seines Romans vorweg genommen.

Nur soviel: Der Roman ist natürlich keine Satire. Sowohl François wie auch Houellebecq liegen zynischer Spott genau so fern wie die dümmlichen »Frankreich den Franzosen«-Reden der Rechten oder das Pathos der im Buch so dauerhaft verachteten linksbourgeoisen Schickeria, welche die schleichenden gesellschaftlichen Transformationen nicht wahrhaben will bzw. idyllisiert. »Unterwerfung« ist eine in nüchternem Duktus verfasste Empörung über den verharmlosenden Umgang mit den sozialen wie auch ökonomischen Problemen einer sich nur noch vordergründig republikanisch-demokratisch gebenden Gesellschaft, deren politische Elite nur noch mit Machtgewinnung bzw. –erhalt nebst entsprechenden Pensionsansprüchen beschäftigt ist. Die Folge dieser Verdrängungen: Irgendwann besteht die Wahl nur noch zwischen Pest und Cholera. Man hätte den Roman in diesem Punkt ebenso »Verblendung« nennen können, wenn der Titel nicht schon anderweitig besetzt gewesen wäre.

Es wird mehr als deutlich, dass eine »Unterwerfung« unter eine Religion keine intellektuell zu rechtfertigende Möglichkeit darstellt, selbst wenn François sich dieser dann doch hingeben sollte. Er sei unpolitisch gewesen »wie ein Handtuch« heißt es einmal. Mit ein bisschen Mühe erkennt man dahinter nicht nur Resignation, sondern vielleicht auch eine Spur des Bedauerns. Aber warum sollte man sich engagieren, wenn schon den Eliten das Land gleichgültig ist? Ursprünglich sollte das Buch »Bekehrung« heißen. Aber dies wäre unzutreffend gewesen, denn bekehrt ist François nicht, selbst wenn er die Konversion wagen sollte. Er ist höchstens korrumpiert – und damit exakt auf dem Niveau derer, die er so verachtet. »Unterwerfung« ist ein Gedankenexperiment, das zeigt, wohin politischer Opportunismus führen kann, und das eine Demokratie vor der Infiltration ihrer Gegner nicht gefeit ist. Wir müssen uns Michel Houellebecq als einen unglücklichen Menschen vorstellen.

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Artikel online seit 25.01.15
 

Foto: Michel Houllebecq, Screenshot 19.01.15

Michel Houllebecq
Unterwerfung
Roman
Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek
DuMont Buchverlag
271 Seiten
22,95
978-3-8321-9795-7
 


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