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Kierkegaards Hosen Zum 200. Geburtstag von Søren Aabye Kierkegaard Von Dieter Kaltwasser |
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Der Theologe und Philosoph Walter Nigg nannte Søren Kierkegaard einst einen »der geheimnisvollsten Menschen, die je gelebt haben«, in der Philosophiehistorie wird er gemeinsam mit Schopenhauer als »leidender Denker« geführt. Fast sein ganzes Leben verbrachte er in Kopenhagen, der Stadt, in der er am 5. Mai 1813 geboren wurde und am 11. November 1855 auch gestorben ist. Er war Philosoph, Theologe und Dichter, ein religiöser Schriftsteller und einfühlsamer Psychologe, zuletzt, an seinem Lebensende, ein radikaler Kirchenstürmer und Kämpfer für ein echtes Christentum. Kierkegaard fühlte sich sein Leben hindurch missverstanden und sah sich als Zielscheibe dem Hohn und Spott seiner Zeitgenossen ausgeliefert: »Ich habe weder als ich als Schriftsteller begann, noch später irgendeine Autorität erworben, ebenso wenig, wie ich irgendeine besondere Bedeutung für meine ernsthafte Gegenwart habe, - ja, es sei denn, dass ich sie mit Hilfe meiner Hosen bekommen hätte, die in einem solch eminenten Grad zur Sensation wurden und sich das besondere Interesse eines ernsthaften und gebildeten Publikums zugezogen haben. Ein paar graue alte Hosen lassen alles andere in Vergessenheit geraten.« Søren Aabye Kierkegaard wurde als Sohn des wohlhabenden und frommen Strickwarenhändlers Michael Pedersen Kierkegaard und seiner zweiten Ehefrau Anne geboren, die zunächst Dienstmädchen im Hause der Familie war. Er kam als siebtes und letztes Kind zur Welt, der Vater war bereits 56 Jahre alt. »Von Kindesbeinen war ich in der Gewalt einer ungeheuren Schwermut« schrieb er später. »Ich hatte einen Pfahl im Fleisch.« Die Schwermut war Erblast des pietistischen, glaubensstrengen Vaters, der einer vermeintlichen religiösen Schuld wegen in ständiger Erwartung göttlicher Strafe lebte. Kierkegaard führte in seinen frühen Erwachsenenjahren das Leben eines unfrohen Dandys und beendete sein Studium der Theologie und Philosophie drei Jahre nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1841. Nach heutigen Maßstäben war er Erbe eines Millionenvermögens, das er bis zu seinem frühen Tod – praktisches Denken schien ihm etwas Äußeres - fast völlig aufbrauchte. Er beschäftigte Diener und Sekretär. Die verschwenderische Lebensführung, berühmt sind seine ausgiebigen Spazierfahrten im Fiaker, und die Isolation seiner Schriftstellerexistenz zählen mit zu den vielen Paradoxien des Menschen Søren Kierkegaard. Zu den Widersprüchen in seinen moralischen Ansprüchen gehören seine Frauenfeindlichkeit und seine antisemitischen Ausfälle in den Tagebüchern. Nach der Auflösung der Verlobung mit Regine Olsen, der einzigen Liebe seines Lebens, im Jahre 1841, und nach einem Besuch in Berlin, wo er die Vorlesungen Schellings hörte, begann er mit der Abfassung seines Werkes »Entweder-Oder«, das er wie alle seine philosophischen Schriften unter Pseudonym veröffentlichte. Fast sämtliche seiner Werke, die sich in dichterisch-philosophische und religiöse unterscheiden lassen, erschienen in den letzten 12 Jahren seines Lebens. Die ironischen Maskenspiele der Pseudonyme boten Kierkegaard die Gelegenheit, reflektierend Optionen durchzuspielen und selbst dahinter verborgen zu bleiben. Eine Vielzahl seiner Schriften stellt solche Möglichkeiten und Lebenshaltungen dar, nicht in belehrend-pädagogischer Absicht, sondern um Entscheidungen vorzubereiten, wie Johan de Mylius im Nachwort zu seiner klug und sorgfältig ausgewählten Sammlung »Kierkegaard für Gestresste« schreibt. Seine Hauptbegriffe sind »Existenz«, »Innerlichkeit« und »Glaube«. Im Zentrum steht dabei nicht der Mensch als Gattungswesen, sondern das Individuum, der konkrete Einzelne. 1843 erschienen neben »Entweder-Oder« die Werke »Furcht und Zittern« und »Die Wiederholung«, in den nächsten Jahren folgten »Der Begriff Angst«, »Die Krankheit zum Tode«, 1850 die Schrift »Einübung im Christentum«. In »Entweder-Oder« behauptet Victor Eremita, der fingierte Herausgeber, verschiedene Papiere gefunden zu haben, die er zwei Verfassern zuschreibt, die eine ästhetische (A) und eine ethische Lebensanschauung (B) und deren jeweilige Wertesysteme repräsentieren. Im ersten, ästhetischen Stadium ist der Mensch unmittelbar, reflexions- und wahllos dem sinnlichen, erotischen Leben verfallen. Im zweiten, ethischen Stadium ermöglicht die Reflexion die Entdeckung eines vom sinnlich-unmittelbaren Einzelnen abstrahierten Allgemeinen, das sich moralisch, politisch oder philosophisch erfassen lässt. Im Ethisch-Allgemeinen können jedoch nur gemeinschaftliche und für den Einzelnen letztlich relative Ziele verwirklicht werden.
Nach
Kierkegaard kann der Mensch sein absolutes Ziel, seine Vollkommenheit nur im
dritten, religiösen Stadium, in der christlichen Existenz erreichen, die alle
Stadien in sich vereinigt und die vorherige existenzielle Entscheidung verlangt,
Christ zu werden; religiöser Glaube hebt auch Angst und Verzweiflung des
Einzelnen auf. Kierkegaard stellt in »Entweder-Oder« dieses Stadium erst im
Schlussteil in Form einer erbaulichen Rede bzw. Predigt dar. Die religiöse
Existenz wird dann vor allem in seiner Schrift »Furcht und Zittern«
thematisiert, in der Kierkegaard unter dem Distanz herstellenden Pseudonym
Johannes de Silentio über die biblische Geschichte um Abraham und Isaak
nachdenkt. In der religiösen Sphäre schuldet der Mensch nur noch Gott gegenüber
Gehorsam, der Einzelne steht höher als das Allgemein-Ethische; kraft des
Absurden (des Glaubens) ist alles möglich. In »Furcht und Zittern«, eines der
meistdiskutierten und umstrittensten Werke Kierkegaards, von dem er glaubte,
dass es allein ausreiche, um ihn unsterblich zu machen, wird auf einer zunächst
vordergründigen Ebene die Frage erörtert, ob eine »immanente Ethik« genüge oder
ob es eine »teleologische Suspension des Ethischen« gebe, die Abrahams
beabsichtigte Opferung Isaaks rechtfertigen könnte.
Auch wenn seine
eigentlich religiösen Schriften und Reden unter seinem eigenen Namen erschienen, müssen sie dennoch als spezifische »Stimmlagen«
(de Mylius) betrachtet werden, die je nach »erbaulichem« Anlass geformt wurden. Sie sind
ebenso literarisch wie die übrigen Arbeiten, die theologischen und
philosophischen Absichten werden in ein schriftstellerisches Gesamtprojekt gefügt,
das die
Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflussen sollte. Franz
Kafka notierte nach der Lektüre einer Auswahl von Kierkegaards Tagebüchern im
Jahre 1913:
»Wie
ich ahnte, ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr
ähnlich, zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich
wie ein Freund.« Saul
Friedländer vertritt in seiner jüngst erschienenen, vorzüglichen Kafka-Studie
die Ansicht, der Einfluss des dänischen Denkers auf Kafka bestehe wesentlich
darin, dass sich Kierkegaard einem philosophischen
»System«
verweigere und seine eigene Philosophie nur
»auf
individuelle Erfahrung und individuelle ästhetische oder moralische Entscheidung«
gründe,
»auf
die individuelle Bereitschaft zum 'Sprung in den Glauben'«,
auch wenn dies vordergründig nach einer
»Absage
an grundlegend sittliche Gebote ('Furcht und Zittern')«
aussehe. Unbeeinflusst sei Kafka von den christlichen Vorzeichen dieses
»frühen
Existentialismus« geblieben, doch er übernehme
»die
fundamentale Furcht und die einsamen Entscheidungen, die zur conditio humana als
solcher gehören.«
Das Ich, das sich nach Kierkegaard selbst wählt, wird nicht ein anderer, es empfängt sich selbst, wählt sein »Entweder-Oder«: »Wenn alles stille geworden ist um den Menschen, feierlich wie eine sternenklare Nacht, wenn die Seele in der ganzen Welt allein mit sich selbst ist, da tritt ihr nicht ein ausgezeichneter Mensch gegenüber, sondern die ewige Macht selbst; es ist, als ob der Himmel sich öffnete, und das Ich wählt sich selbst, oder vielmehr, es nimmt sich selbst in Empfang.« Diese Wahl wird niemandem abgenommen, durch sie »empfängt die Persönlichkeit den Ritterschlag, der sie für die Ewigkeit adelt.« Im Zweifelsfall, so Böhmer, »läuft es immer wieder auf eine Entscheidung hinaus, die jeder für sich treffen muss«, egal ob er Kierkegaards Fazit eines christlich bestimmten Lebens folge oder nicht: »In dem einen, mir bestimmten Augenblick, der Klarheit bringt, entscheide ich mich für mich selbst und nehme mich an.« Und so hat Søren Kierkegaards Maxime auch zu seinem 200. Geburtstag nichts an ihrer Aktualität verloren: »Das Große ist, nicht dies oder das zu sein, sondern man selbst zu sein.«
Apropos Kierkegaards
Hosen: Die Zeitung »Corsaren« brachte 1846 Karikaturen über Kierkegaard in
Umlauf, machte sich lustig über seine ungleich langen Hosenbeine, die Art, wie
er seinen Stock hielt, seine Körperhaltung und seine Hüte. Die Karikaturen haben
eine lange Haltbarkeit bewiesen. Sie wirken bis heute. |
Otto A. Böhmer
Søren Kierkegaard
Kierkegaard für Gestresste |
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