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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Willkommen in World Media Park 2.0

Zu Jaron Laniers Friedenspreis-Rede

Von Peter V. Brinkemper

Als Jaron Lanier anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2014 mit seiner Rede antwortete, hinterließ er in der Frankfurter Paulskirche einen chamäleonhaften Eindruck: Die Sprache der Buchkultur, der Appell zum Humanismus und der Slang der Nerds fusionierten zu einem merkwürdigen Mashup, hinter dem eine antikapitalistische Moral zu stehen schien. Wer ist Jaron Lanier? Was hat er zur gegenwärtigen Situation der Medien und der Kultur zu sagen? Inwiefern verfolgt er einen tragfähigen und kritischen Ansatz zum Stand der medialen Entwicklung?

Chamäleon

Geboren in New York, aufgewachsen in New Mexiko, jüdisch-wienerischer-ukrainischer Abstammung, Spross einer von Nazi-Verfolgung und Holocaust heimgesuchten Familie, Jahrgang 1960, Baby-Boomer, mit starker mathematischer und musischer Begabung, seit den 1980er Jahren Computerbastler und Informatiker, ausgerechnet bei Atari, mitten in der Ära des demokratisierten Personal Computer, im Schatten der Dominanz von Apple und Microsoft und an der Schwelle zum Internet. Nach wie vor spürbarer Enthusiast der phantasievollen und vielschichtigen Cyber-Vorgeschichte im Umfeld von ‚Urcomputern’ und Spielkonsolen und dabei zugleich vehementer Kritiker der heutigen Form des technologischen Monopolismus und der digitalen Vernetzung. Theoretiker und IT-Projektentwickler, Miterfinder von Videospielen und des ersten kommerziellen Datenhandschuhs (in der eigenen Firma VPL Research) und Betreiber akademischer Erforschungen zur Bedeutung der virtuellen Realität zwischen User und Avatar als dynamischer Schnittstelle zwischen Kognition, Information und Interaktion im Medienverbund, Berater bei Spielbergs Verfilmung von Philip K. Dicks »Minority Report« (man erinnere sich an den freischwebenden Gestus der Datendisplays im Virtuellen Raum), Fellow des internationalen computerwissenschaftlichen Instituts der University Berkely und Mitarbeiter bei Microsoft Research, Silicon-Valley-Nerd und kalifornischer Hippie, selbsternannter Matrix-Rasta-Polyp, Analytiker der Gesellschaft und ihrer Evolution, Künstler und Musiker, der mit großen Namen der Minimal-Music wie Philip Glass und Terry Riley auftritt.

Das alles klingt widersprüchlich, verwirrend, chaotisch und zum Teil auch nach allen möglichen Seiten beinahe opportunistisch: ein biographisches Patchwork mit manchen Brüchen und Überbrückungen. Ein Kritiker, der sich ausspricht für die Vergütung der informatischen Kreativität des bedrohten produktiven Mittelstandes durch Mikrozahlungen der Konzerne, und ein Advokat für ein doch mögliches liberaleres Internet mit mehr Individualität und Kreativität, ein Prophet des sinnlich greifbaren Erlebnisses der ganz anderen Art in dem durch Standardisierung, Design und Typographie ausgepowerten medialen Web-Raum, dem die Tiefendimension von Virtualität und nichtregulierter Interaktivität durch oberflächliche Überfrachtung eines vollgestopften Containers abhanden gekommen ist. Ein Para-und-Kontra-Gibsonianer, ebenso Mainstream-kritisch wie William Gibson, aber weniger paranoid-romantisch auf der dunklen Seite, sondern melancholisch-kratzbürstig, ein subversiver Opponent zu Johnny Mnemonic. Jemand, der sich bei aller noch vorhandenen Begeisterung ohne verzweifelte Lamentationen im selben Atemzug als präziser Kritiker des bürokratisierten und kommerzialisierten Web 2.0 mit seinen gewollt Lego-bunten und ebenso Lego-starren Erkenntnis- und Ausdrucksformen erweist. Lanier wird auch nicht müde, Angriffe gegen die verlogene Metaphysik einer künstlichen Intelligenz und Schwarmlogik zu führen, er entlarvt die vertrackte Angleichung von Mensch und Maschine, Individuum und Masse von beiden Seiten: die maschinelle Neurologie und die digitale Anthropomorphisierung zwischen Gehirnlobotomie und (kollektivierendem) Bewusstseins-Download (im Stil von Wally Pfisters Thesenfilmdrama »Transcendence«). Und er stellt diese freiwillige und fahrlässige Industrialisierung und Auflösung des menschlichen und sozialen Bewusstseins in der Cyber-Ideologie und in der statistischen Kontrolle des Cloud-Sharings der derzeitigen massiven Politik der Medien- und IT-Konzerne Seite an Seite.

Kampf der Konzerne, Medien und Technologien

Dem konservativen Publikum des deutschen Buchhandels (mit seinem anfälligen Geschäft, den mittlerweile defensiven Strategien im Medienverbund irgendwo zwischen bewährtem Buchdruck, Audio Book und eBook, TV-Werbung und Filmrechten, Buchpreisbindung und drohender Flatrate) attestierte Lanier, dass die augenblickliche Welt der global vernetzten Server und PCs und der pausenlos mobil im Austausch stehenden Smartphones mit Welt-Fragmenten im Thumbnail-Vorschau-Format die User zu Süchtigen und Sklaven einer kurzatmigen und unterhaltsamen Technologie degradiert hat, die den erzeugten Überfluss in Mangel umschlagen lässt, auch, weil sie die Aufmerksamkeit »auffrisst« (eine von Frank Schirrmachers gelungenen Metaphern in seinem Buch »Payback«). Der Geist wurde ausgetrieben. Lanier: »Hegel wurde enthauptet. Stattdessen gibt es nur statistische Datenwellen, die unaufhörlich zu erstaunlichen Vermögen zusammengerührt werden von denen, die sie benutzen, um ihren wirtschaftlichen Vorteil auszurechnen.«

Kulturelle Inhalte und lebensweltliche Perspektiven sowie alternative technologische Möglichkeiten verdampfen in einer Konzernpolitik, die nur noch Kalkulation, nivellierende Distribution und Produktion kennt: Verteilt werden nutzlose Spielereien, hirnlose Apparaturen sowie überflüssige Anwendungen, genannt Apps, hinzukommen kapitalverbrennenden Groß-Events. In der lärmenden, unübersichtlichen Welt des Web 2.0 mit seiner Social-Media-Ideologie zwischen angeblich intimem Bekenntnis, Zielgruppenzwang, destruktiver Rudel- und Clanbildung (Netzfaschismus als eine der Hauptbefürchtungen Laniers) und brachialer Überwachung gebe es keine signifikanten Unterschiede mehr zwischen Heute, Gestern und Morgen, Hoch und Niedrig, Klassik und Pop, Diskretion und Kontrolle, Öffentlichkeit und Privatheit, Wahrheit und alles penetrierender oder einrahmender Werbung. Die datenintensive, nur scheinbare Personalisierung des Netzes durch Big Data und millionenfach hochgeladene Ton- und Bild-Dokumente, mache die Menschen selbst und ihr Leben zum »Gadget« (so der Titel eines seiner Buchessays), zum ebenso cleveren wie sinnlosen Spielzeug der Konzerne, im massenweisen Schwarmverhalten, das als statistische Größe für wirtschaftliche Gewinnabschöpfungen herhalte und spontane, substantielle Kommunikation und kreative Erfindung ausbremse.

Wer diese Rede und ihre Schlagwörter hört, reibt sich die Augen: Neil Postmans TV-und-Medien-Kritik und sein vehementes Buch-Credo aus »Wir amüsieren uns zu Tode« kehren auf dem jetzigen Medienniveau in digitaler Form wieder und vereinen sich mit Marshall McLuhans paradoxer, aber noch vielschichtig intermedialer Einsicht »The Medium is the Message« zwischen heißen und kalten, high und low definierten Medien und der damit verbundenen gelenkten oder freien User-Involvierung. So entsteht die sonderbare Mischung einer kritischen Ontologie auf der Suche nach einem verloren gegangenen normativen Realismus und einem Begriff von darstellbarer Wirklichkeit, der sich mit dem kommerziell fragmentierten Relativismus und schlechten Posthumanismus heutiger Modellbildung in Werbung, Wirtschaft, Wissenschaft und Informatik nicht zufrieden geben will. Lanier verteidigt den prädigitalen Eigenwert menschlicher Erfahrung und Erkenntnis, Faktoren, die niemals vorschnell von der medialen Repräsentanz und informatischen Konstruktion verschluckt oder unterdrückt werden sollten, sondern die umgekehrt Anhaltspunkte für die Einschätzung von Technologieeinsätzen sein sollten. Eine wertvolle Suche im Wirrwarr der heutigen Situation, die bei Lanier in einen digitalen Humanismus begründet ist (warum eigentlich digital?), dem Leitbild eines aktiven, realen, körperlichen Subjekts und sozialen Wesens mit einer vitalen, seiner selbst bewussten und doch sich bescheidenden, künstlerisch-musischen Kommunikation, ein aus sich heraus singendes und sich und andere vernehmendes Wesen, dass von der Technik und Kultur ebenso geprägt wird, wie es umgekehrt durch die Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen seiner Mittel auf sie einwirken kann. Ein Denkmodell, ein Paradigma eines echten symmetrischen Austauschs, in dem es keine einseitige Bereicherung oder Ausbeutung oder Verelendung gibt, eine Vorstellung, wie sie bis in die 1990er Jahre allgemein spürbar und möglich schien. Lanier erhebt einen Einspruch, der nachvollziehbar erscheint und doch aktuell in der dünnen Luft zu hängen scheint, angesichts der Fixierung heutiger Konzerne auf Milliardenumsätze mit einer global niedergedrückten Kultur, die das angepasste Schwarmverhalten der mitschwimmenden User nur verstärkt und verschiedene Publikumsvarianten ihrer Produkte vortestet, statt dem Massengeschmack wenigstens auch die Option kleiner und großer künstlerischer Werke entgegenzuschleudern.

Kapitalismus und Maoismus - digital

Lanier stellt als Extreme im Verhalten der User/Kunden fest: die Umsonst-Mentalität im Gebrauch von Free-Source-Inhalten, aber auch den willfährigen Wohlstandserwerb von ausgewählten High-Tech-Status-Symbolen und die kostspielige Bezahlung von Ausnahmeevents. Dabei vermutet er ein im hohen Grade fremdgesteuertes Involvement, das nicht mehr so recht weiß, was es für den einzelnen will. In »Gadget« denkt er diese Polarisierung in der Mischform von digitalem Kapitalismus und digitalem Maoismus, die sich beide im Paradox gegenseitig bedingen, wenn der Kapitalismus die Kultur und die Kognition des Bewusstseins vermarktet und ausbeutet, und der Maoismus die individuellen bürgerlichen Leistungsträger der Bildung und Kultur als unbezahlte Amateure und Sprachrohre für irgendetwas entwertet und behandelt. Darin liegt auch die Boshaftigkeit des allseitig lächelnden Sharings. In seiner Friedenspreis-Rede führt Lanier aus: »Die ‚Share Economy’ bietet nur die Echtzeit-Vorteile von informellen oder Schattenwirtschaften, wie man sie bisher nur in Entwicklungsländern, vor allem in Slums, gefunden hat. Jetzt haben wir sie in die entwickelte Welt importiert, und junge Menschen lieben sie, weil das Gefühl des Teilens so sympathisch ist.« Könnte es sein, dass die Hardware sich in entsprechenden Lebenszyklen zum Luxus verdichtet, während die Inhalte immer weiter verslummen?

Lanier greift gleichermaßen die selektiven Millionengeschäfte der Medienkonzentration an, aber eben auch die Ideologie von Wikipedia und ihre Demokratie unbezahlter Lexikon-Einträge von und für jedermann, die oft von den Usern ohne literarische Lesekultur kritiklos übernommen und geplündert werden. Verbunden mit dem Rückzug des regulierenden Staates aus den Bereichen Bildung, sozialstaatlicher Regelungen der Vorsorge sowie der Logik der Generationenverträge entstehe ein gefährliches gesellschaftliches Vakuum zwischen wenigen Superreichen und der ärmeren und zunehmend ungebildeteren Mehrheit, die ihre elementaren Rechte auf den gesicherten Zusammenhang von Leben und Arbeit verlernt. Die junge Generation werde jetzt bereits in Netzwerköffentlichkeiten, digitalen Ghettos mit breiter Datengrundlage endloser Chatprotokolle hochgezüchtet, obwohl sie sich durch die Smartphone-Technologie in Raum und Zeit einmalig verbunden und völlig frei wähnt. Die Bruchlinie liegt zwischen einerseits auf den Gewinn schielenden, willkürlichen und inflationären Aufwertung bestimmter Produkte, Dienstleistungen und Technologien und andererseits der Herabstufung kultureller Wertschöpfungsketten und alltäglich-lebensweltlicher Äußerungen und Verhaltensformen zu beliebig zugreifbarem Material.

Willkommen in World Media Park 2.0

Dieser Konflikt zieht sich durch die gesamte Produktionslogik auch der ganz großen Player und hinterlässt seine Spuren. Das expansionistische Konzept der Datenautobahn der 1990er Jahre, auf der die relativ viele gleichmächtige Konzerne zwischen Technologie und Content konkurrieren und mittels Synergie, Kooperation oder Fusion wachsen und entlangfahren, ist dem Kartell weniger Mega-Anbieter gewichen, die sich auf der globalen Großbaustelle mal gegenseitig fördern und mal behindern. An der Spitze stehen heute die digitalen Player des 21. Jahrhunderts, die neueren Suchmaschinen und Web-Sites-Dienstleister, Mega-Vernetzer und die Alles-Distributoren (Online-Versandhaus, electronic commerce company) wie Google und Amazon und nun in Deutschland auch Netflix (aufgestiegen von der Online-Videothek zum Video-on-Demand-Anbieter und Produzenten für Serien und Filme, in ernsthafter Konkurrenz zu Hollywood und den US-TV-Stationen), die aus ihren eigenen Kundendaten und den Sozialen Medien wie Facebook und Twitter eine ungeheure Marktmacht ziehen und die gewünschten Marktinformationen herausfiltrieren. Sie agieren gegenüber Konkurrenten und älteren Partnern nicht geschäftsneutral sondern binden oder reißen Produktionsbranchen an sich, um sie massiv zu kontrollieren oder sogar zu übernehmen. In diesen disruptiven Sog werden »traditionell« durch separate Produktion gekennzeichnete Unternehmen hineingezogen, Firmen, die informatische Geräte bzw. Programme oder Content zwischen Information und Unterhaltung herstellen, aber bereits selbst von der Logik der alles ein- und umschmelzenden Digitalisierung betroffen sind: allen voran Microsoft und Apple als Konzerne zwischen dem 20. und 21. Jahrhundert. Im Kampf um Betriebssysteme und smarte Computer-Produkte, vor allem den heutigen digitalen Mobilfunkgeräten mit PC- und Internet-Funktionen für den immer stärker flexibilisierten Weltmarkt, stehen die IT-Konzerne einerseits durch die emergierten Netz-Unternehmen massiv unter Druck und regieren andererseits längst auch in die traditionelleren Branchen wie auch die Medienkonzerne hinein (wie Film-, Kabel- und TV-, Musik-Unternehmen) und beeinflussen massiv deren Domäne, das angestammte multimediale Geschäft. In diesem Kampf geht es um die Beibehaltung oder die Auflösung greifbarer stationärer Hardware und singulärer Produkte und kultureller Rezeptionsvorgaben. Für das Medium Film bedeutet dies zum Beispiel vor allem die Bewegung vom Analogmedium und Aufführungsort Kino, über Ausstrahlung im TV, Vertrieb als Video und DVD, und Verwandlung in digitales Video-on-Demand und Streaming per Kabel und Netz (wahlweise auch Web-Radio und Web-TV genannt, allerdings nicht mehr als breitgestreuter Broadcast, sondern als vereinzelter hochindividualisierter Kabelfunk, der dennoch ähnliche Massenpublika wie im terrestrischen Zeitalter rekrutiert). Ähnliches lässt sich für den Printjournalismus und das literarische Schreiben, für die professionelle journalistische und künstlerische Fotografie attestieren.

Die langfristige strategische Perspektive läuft auf die völlige Verflüssigung aller festen Bestandteile hinaus, verbunden mit der Gefahr des Qualitätsverlustes bei totaler Überproduktion millionenfacher User, in einer labberigen und gepanschten Content-Software von und für alle und einem entqualifizierten Lese- und Empfangsverhalten , ein »Brei« (Lanier) zwischen Generika und Plagiat, die in den Clouds der globalen Vernetzung  als garantiert rauschfreies Opium zirkuliert. Es droht das Vabanque-Spiel weiterer kleiner und großer multimedialer Blasen, mit leeren Expansionen, superteuren Reinvestitionen und jederzeit möglichen ökonomischen Abstürzen, statt der zunächst erträumten, aber de facto oft ineffektiven Synergie der verschiedenen Medienproduktionen (Print, Audiovisuell, Digital).

Während es in den späten 1980er und 90er Jahren um die gelungene multimediale Integration und Fusion von Produktionen vor allem in den Medien-Konzernen ging, setzt man heute den Akzent auf die monopolistische Konzentration von neu gegründeten, weiterverkauften, konsolidierten und abgrenzbaren Sparten im keineswegs sicheren Grenzbereich zwischen gewinnbringender Hardware und Software, von Google über Amazon bis Facebook, Apple oder Microsoft, Warner oder der neueren surrealen Verbindung Disney/Marvel/Lucas, wenn sie je für sich Gewinne und Endlos-Serien zu garantieren scheinen. Der zentrale Bezugspunkt und Pool dieser Konzerne ist das Web 2.0 als datenintensive Plattform der digitalen Kundenbindung. Schlagworte sind Risikominimierung und Verschlankung, Spin-off, Auslagerung von inkompatiblen Sektoren. Suchmaschinen, Soziale Medien, virtuelle Warenhäuser befinden sich im obersten Stock der globalen Produktion und vernetzen sich, solange das Geschäft brummt, immer dichter; Computer- und Mobilfunk-Technologie, Kabelnetze, Internet-Provider stemmen die Basis direkt darunter; Film-, TV- und Printproduktionen befinden sich scheinbar im Erdgeschoss oder im Keller der digitalen Umwälzung (weil sie sich zwischendurch in kreativen Labors zwischen 2D- und 3D-Technologie einschließen) und reformatieren alten und neuen Content immer formaler und abstrakter. Das Know how aus alten analogen Zeiten und frühen digitalen Tagen gehört jetzt zum Geheimwissen zukünftiger globaler Vermarktungsstrategien. Feinsäuberlich getrennt werden Komponenten getestet, Deals und Rechte ausgehandelt, um höchste Wirtschaftlichkeit zu erreichen oder im Zweifelsfalle unwirtschaftliche Produkte und Branchen abzustoßen oder übrigbleibende Verwertbarkeiten zu sichern. Wieso sollte es den rein digitalen oder den digitalisierten Unternehmen besser gehen, als den guten alten Verlagen, die zwischen Buch, Hörbuch und Online-Text die für ihr Geschäft stützenden Bestseller suchen und die gestrigen Erfolgs-Rezepte in Theater, Film und TV immer mehr verblassen sehen?

Ein Buch statt vieler Stimmen?

Scheinbar zusammenhanglos betont Lanier in seiner Friedenspreis-Rede: »Das Buch ist ein Bauwerk menschlicher Würde.« Dies mag nach einer überzogenen architektonischen Metapher für eine nicht länger erreichbare Ewigkeit klingen. Aber Lanier weiß, wovon er redet. »Bücher aus Papier sind naturgemäß nicht zu einem kollektiven universalen Buch verquirlt. Bücher verändern sich.« Wer sollte denn auch auf einen solchen Gedanken kommen? Silicon Valley, das digitale Land der Nerds, die sich ihre eigene Welt geschaffen haben, in der alle alles teilen und niemand mehr etwas gehört. Diese Form der digitalen Enteignung reflektiert Lanier auf zwei Ebenen: auf cyberideologischem und dem kapitalistischen Niveau. In seinem Buchessay »Gadget« berichtet er davon, dass Kevin Kelly, ehemaliger Mitbegründer und Herausgeber des Internet-Magazins Wired sowie Netz-Schwarm-und-New-Economy-Ideologe, den »moralischen Imperativ« verkündete, »alle Bücher der Welt« sollten bald »zu einem ‚einzigen Buch’« zusammenwachsen, und in die »weltweite Computing-Cloud eingescannt« werden, während John Updike auf einer gemeinsamen Veranstaltung 2006 im Gegenzug »die Ränder einer wirklichen Seite in einem wirklichen Buch« als Metapher für die »Abgrenzung zwischen verschiedenen Autoren« behutsam verteidigte (»Gadget«, S. 67). Es wäre köstlich, Neil Postmans sanften Hang zum biblischen Bücher-Fundamentalismus als Quelle einer endlos utopischen Debatten-Demokratie und Laniers coole Betrachtungen zur Buchkultur zwischen Produktion und Rezeption genauer zu analysieren, im Zeitalter einer Pädagogik, in der der primäre und sekundäre Analphabetismus von Schülern, das Denken, Verstehen und Konstruieren von längeren Texten und Kontexten, bei wachsender augenblicksfixierter Online-Chat-Geschreibsel-Kompetenz immer weiter ansteigt. Wie intelligent wird das eine eBook sein, wenn darin alle Autoren mit Namen und Geist verblassen und ihre Werke als nachweise Quellen und Zitate konturlos verlöschen? Die Rechtsstreitigkeiten zwischen Google und Google Books, journalistischen Printmedien, Verlagen sowie Sachbuch- sowie literarischen Autoren sind noch lange nicht befriedigend geklärt. Die Folgen des eBook-Konsums zwischen Nutzung und Löschung in einer insgesamt unsichtbaren Bibliothek, die keinen direkten Vergleich zwischen weiter auseinander rezipierten Werken mehr zulässt, sind noch nicht abzusehen. Zu ähnlich seltsamen Denkmustern und zugleich komischen und wie erschreckenden Extrapolationen und Entlarvungen über die mutmaßliche Zukunft gehört in Laniers »Gadget« eine andere vorgetragene Überlegung: Was würde passieren, wenn der biblische Garten Eden und die darwinsche Evolution der Species auf einer Linux-förmigen einheitlichen Genetik basierten, wie sie der Biocomputing-Propagandist Drew Endy tatsächlich in vollem ersatzreligiösen Kurzschluss zwischen Biologie und Informatik behauptet? Die Gene und ihre Sequenzen würden in diesem Modell von Organismus zu Organismus flottieren, ohne Rücksicht auf Individualität, Selbstschutz und transformative Kreativität der Kreaturen und Arten. In dieser »Orgie der Kreativität«, so Lanier ironisch, bedürfe es nur »eines einzigen großen Killervirus«, »in einer dieser Garagen ausgebrütet«, »um der ganzen Geschichte der Menschheit ein Ende zu setzen« (»Gadget«, S. 184 f.). Vielleicht sind wir derzeit so weit, im Zeitalter der trivialen simulativen Apokalypse, die sich digital um ihre eigene Achse dreht, während die Aliens und einige intelligentere Erdenbürger uns panisch meiden. Zum Glück ist die terrestrische Biologie (zu der manche auch außerirdischen Einflüsse annehmen) vielseitiger und resistenter. Und könnte man sich nicht auch ein Unglück denken, wenn das eine letzte große eBook der digital verpantschten Literatur endgültig gelöscht würde und sich keiner der Leser mehr an die alte Literatur in ihrer historischen und stilistischen Vielstimmigkeit erinnern könnte? In der maßlosen Distanzarmut und Schrankenlosigkeit digitaler Utopien parallel zu den rabiaten Konzerngeschäften um das Web 2.0 sieht Lanier eine inzestuöse Metapher für ein gewolltes Missverständnis und die brachiale Kompression von Aufklärung, Intelligenz, Kultur und kognitive Evolution, die im verquirlten Trash-Bassin zum Stillstand der nivellierten Beliebigkeit verkommen sind. Er fordert zu Recht die Differenz, Vielfalt, Balance und den Widerstand im Denken und Handeln von Individuen und Gruppen ein, damit sie eine eigene Lebenswelt verteidigen, mit materiellen und metaphorischen Türen, Wänden, Filtern und Membranen, die sich erst schrittweise der Beeinflussung von außen öffnen oder vielleicht ungeahnte evolutionäre Strategien ausbrüten, bevor sie die Welt befruchten.

Artikel online seit 17.10.14
 



Jaron Lanier, 12.05.2006, Foto: vanz


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