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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Die Ränder der Texte


Das Außerliterarische und das Innerliterarische
bestimmen einander wechselseitig.


Von Andreas Wolf

 

Foto: © Herbert Debes
 

Friedrich Kittler bemerkt in seinem Aufsatz über Kleists Erdbeben in Chili, das eigentlich Interessante an der Literatur finde sich immer an deren Rändern, und fügt in Klammern lapidar hinzu:

(Adreßbits im elektronischen Datenfluß, Stempel, Aktenzeichen und Verteilerschlüssel im bürokratischen zeigen zur Genüge, daß es die Ränder von Nachrichten sind, die ihre Vernetzung steuern und damit interpretatorische Unterstellungen vom Typ der Autorintention überflüssig machen.) [David Wellbery (Hrsg.), Positionen der Literaturwissenschaft, S. 24f.]

Mich überzeugt das vollkommen, aber wem das im Sound zu kittlerisch, zu technokratisch-kalkuliert daherkommt, der kann dasselbe auch nochmal beim liebenswürdigeren Gérard Genette nachlesen, der in der Einleitung zu seinem Buch »Paratexte« schreibt:

Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt. Dabei handelt es sich weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Schwelle […]; um eine »unbestimmte Zone« zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist, oder wie Philippe Lejeune gesagt hat, um »Anhängsel des gedruckten Textes, die in Wirklichkeit jede Lektüre steuern«. [Genette, Paratexte, S. 10]

Kittlers Adressbits und Genettes Paratexte fungieren als Steuerelemente der Lektüre, und wenn Genette wenig später feststellt, dass im Grunde »jeder Kontext als Paratext wirkt« (S. 15) dann wird klar, dass diese lektürebestimmenden Ränder je nach Blickwinkel gar nicht so schmal sind, wie man erstmal meinen könnte, sondern sehr breit, und damit kommt man dann eigentlich schon in die Gefilde der Rezeptionsästhetik. Genette fährt fort:

[…] so etwa fungieren für die meisten Leser der Recherche zwei biographische Fakten, nämlich die halbjüdische Abstammung Prousts und seine Homosexualität, unweigerlich als Paratext zu jenen Seiten seines Werkes, die sich mit diesen beiden Themen befassen. Ich sage nicht, daß man das wissen muß: Ich sage nur, daß diejenigen, die davon wissen, nicht so lesen wie diejenigen, die nicht davon wissen, und daß uns diejenigen zum Narren halten, die diesen Unterschied leugnen. (S. 15)

Wenn man das konsequent zu Ende denkt, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass es von jedem Buch exakt soviele unterschiedliche Lektüren gibt wie Leser, und keine davon wäre richtiger oder falscher als irgendeine andere. Auch wenn man, wie ich, den Proust nach 400 Seiten in Swanns Welt erschöpft weglegt und niemals wieder aufgreift, ist das keine defizitäre oder minderwertige Proustlektüre, sondern eben meine individuelle Erfahrung mit diesen Büchern.

Ich kann daher in Lothar Strucks Lamento nicht mit einstimmen, der beklagt, dass die Literaturkritiker des sogenannten Literaturbetriebes die Bücher, die sie besprechen, alle nicht zu Ende lesen würden, sie würden nicht genug am Text kleben, stattdessen mehr Porträts, Interviews usw., also tendenziell leichtverdaulichen Leserabholungsstoff liefern. Für mich liefern die alle erstklassigen Paratext, das ist mir tausendmal lieber als die haarkleine Nacherzählung irgendwelcher Plots, ja, die Plotnacherzählung ist der Teil einer jeden Literaturkritik, den ich verlässlich überspringe, einfach weil mich das zu sehr langweilt, und wenn die Rezension aus nichts anderem besteht als aus solcher Nacherzählung, dann weiß ich, oder glaube zu wissen, dass mir das in Frage stehende Werk wohl wenig zu bieten hat.

Mich interessiert wirklich die Botho-Strauß-Homestory: Wie öde, wie trostlos ist diese Uckermark wirklich? Wie redet der Botho mit seinen Nachbarn? Wie nimmt er seinen Tee oder haut er sich nachmittags auch schon mal einen Whisky rein? Das will ich von der Zeitung erfahren, die Straußschen Bücher lese ich dann im Zweifelsfall lieber selber, wenn mich der journalistische Paratext genug angeteast hat, und da ist es mir dann auch relativ, nein: völlig egal, wie weit der Journalist im neuesten Straußbuch gekommen ist, bevor er es weglegen musste, weil der Chefredakteur ihm schon wieder einen Stapel neuer Handke-, Hegemann- und Hoppebücher auf den Schreibtisch gehauen hat.

Denn da hat Struck ja recht, leider schlachtet er das viel zu wenig aus, wenn er den Sundermeier für die Worte kritisiert, der Blogger brauche Klicks und müsse demzufolge ständig liefern. Was für ein Unsinn, der Blogger braucht überhaupt nichts: im Gegensatz zum Journalisten oder zum Verleger hat der Blogger ja nichts zu verkaufen, er hat die absolute Freiheit, kann machen, was er will. Was dem Blogger fehlt, ist jemand, der ihm die Zugfahrkarte und ein Hotelzimmer in der Uckermark für die Botho-Strauß-Homestory bezahlt. Auch fehlt ihm der Türöffner: »Hallo, ich bin der Sowieso vom SPIEGEL oder von der FAZ«, damit ihn der Botho Strauß überhaupt reinlässt. Was ihm aber nicht fehlt, ist ein Boss, der fragt: »Wo bleibt der Artikel?« Wenn mir zu Botho Strauß nichts einfällt, naja, dann schreib ich dazu halt nichts. Und wenn ich nach ein paar Seiten abbreche, dann kann ich das auch so hinschreiben und muss nicht so tun, als hätte ich das fertiggelesen. Klicks brauche ich jedenfalls keine, Klicks zahlen nicht meine Miete und mir sitzen auch keine Werbekunden im Nacken und fragen nach Klicks, das ist doch wunderbar, so kann ich so ausladend literaturtheoretische und fast übermäßig zitatgesättigte Einleitungen schreiben wie ich will, und keiner klopft mir auf die Finger. Aber mir scheint fast, ich bin ein wenig vom Thema abgekommen.

Es ging mir eigentlich um diesen einen Satz bei Struck, sein Postulat für eine ideale Literaturkritik: »Außerliterarische Bezüge sollten vernachlässigt werden.« Der scheint mir einfach so fundamental falsch. Und wollte das illustrieren mit Kittlers Rede von den Rändern und Genettes Paratexten als Übergangszonen zwischen dem Inner- und dem Außerliterarischen. Die Wahrheit ist doch: Das Außerliterarische und das Innerliterarische bestimmen einander wechselseitig. Da aber das Außerliterarische für jedes Individuum völlig anders ausfällt, führt das zu jeweils völlig individuellen Lektüren, und nur an den Grenzen, den Schwellen oder Rändern, wird man im Glücksfall einen Fetzen der Wahrheit erhaschen. (So wie mir das bloße paratextuelle Preisschild am Ror-Wolf-Buch mitsamt Pressetext neulich alles mögliche über dieses Buch erzählt hat, ohne dass ich es gelesen oder überhaupt je in Händen gehalten hätte.) Eine total objektive und nur am reinen Text klebende Literaturkritik kann es daher überhaupt nicht geben, und wo sie dahin strebt, ist sie todlangweilig. Interessanter als der Text sind immer seine Ränder.

Andreas Wolf betreibt den literarischen blog
sichten und ordnen


Artikel online seit 03.02.15
 
 


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