Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik


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Die menschliche Komödie
als work in progress


Zum 5-jährigen Bestehen ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.

 

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Glanz&Elend - Die Zeitschrift
Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Zu diesem Thema haben wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt. Inhalt als PDF-Datei
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Buddy

Eine Geschichte von Jörn Birkholz

I

Sonntagmorgen. Nachdurst! Tastend begebe ich mich auf die Suche nach der Mineralwasserflasche, die irgendwo neben meiner Matratze stehen muss. Nachdem ich meine Finger aus dem übervollen Aschenbecher genommen habe, erreiche ich sie schließlich und trinke gierig. Ich stehe auf. Leichter Schwindel, Kopfschmerzen, aber ansonsten alles im gelben Bereich. Ich gehe auf den Balkon und blicke zur Bäckerei auf der anderen Straßenseite. Davor liegt ein Hund. Die Bäckerei hat bereits wieder geschlossen. Ich gehe rein und mache mir was zu essen. Nach einem bescheidenen Frühstück gehe ich zurück auf den Balkon. Ich sehe den Hund jetzt an einem Fahrradständer schnuppern. Wieder drinnen schalte ich den Fernseher ein. Nach einer Weile bekomme ich schlechte Laune und schalte ihn wieder aus. Mich überkommt das Verlangen, frische Luft zu schnappen. Draußen bemerke ich, dass eine grellbunt gekleidete junge Frau den Hund, es ist ein aschgrauer Mischling, mit säuselnder Stimme anspricht. Er jedoch wirkt irritiert und hält gebührenden Abstand. Ich gehe zur Tankstelle an der Straßenecke und kaufe Zigaretten. Als ich zurückkehre sehe ich das Tier bereits von zwei Frauen umringt. Ich zünde mir die erste Zigarette des Tages an, ignoriere das darauf folgende Schwindelgefühl und überquere die Straße. Die beiden Frauen reden auf das etwas teilnahmslos wirkende Tier ein. Ich stelle mich dazu und muss husten.
»Gehört der Ihnen?« höre ich die Ältere fragen, die eine Art grauen Gewandmantel trägt.
»Was?«
»Gehört dieser Hund vielleicht Ihnen?«
»Noch nicht.«
Die in den Gewandmantel gehüllte betrachtet mich kurz und skeptisch und wendet sich sofort wieder an die jüngere Frau neben sich.
»Bleibst du hier, Schatz? Ich hole dem armen Tier Wasser.«
»Vergiss nicht die Leine mitzubringen, Mama!«
Ich, die junge, wie ich feststelle, halbwegs attraktive Frau und der traurig dreinblickende Mischling bleiben zurück. Das Tier fängt an, sich die Eier zu lecken.
»Der sitzt hier wohl schon seit Stunden«, beginnt sie plötzlich. »Als ich heute morgen laufen war, saß er schon da ... Ich dachte der wartet auf jemanden der nur mal eben Brötchen holt.«
Mir wird kurz schlecht. Ich werfe die Zigarette weg, atme zweimal hintereinander tief ein und betrachte das Tier. Der Hund blickt mich ein wenig zutraulich an, oder vielleicht blicke auch ich ihn zutraulich an?
»Nehmen Sie ihn doch«, sage ich schließlich.
Wieso sieze ich sie eigentlich? Ich bin wahrscheinlich sogar deutlich älter als sie?
»Was bitte?«
»Das Tier.«
»Ja schon klar, dass Sie den Hund meinen. Aber das geht, glaube ich, nicht.«
»Das geht alles. Vergessen hat den sicher niemand. Entweder das Vieh ist abgehauen oder wurde ausgesetzt.«
»Meinen Sie?«
»Was weiß ich, ich hab nen Kater.«
»Gestern lange unterwegs gewesen?«
»Nicht allzu lange, aber es reichte.«
Sie lächelt leicht, betrachtet mich aber weiter forschend, jedoch in einer nicht ganz so skeptischen, ja beinahe abwertenden Weise wie ihre Erzeugerin. Ein Mercedes Kombi mit zwei weiblichen Insassen stoppt neben dem Bürgersteig.
»Wissen Sie, wem der Hund gehört«, fragt ein bebrilltes Frauenzimmer mittleren Alters, welches durch das heruntergelassene Beifahrerfenster herauslugt.
»Nein, keine Ahnung«, antwortet die Grellbuntgekleidete.
»Ich glaube, der hat sich verlaufen«, verkündet die Bebrillte. »Heute morgen ist er mir hier fast vors Auto gelaufen.«
Die Fahrerin des Kombis macht den Motor aus. Erst jetzt bemerke ich, dass durch das Heckfenster ein Golden Retriever überaus interessiert aber dümmlich herausstiert. Sein Augenmerk ist starr auf seinen Artgenossen gerichtet. Die Bebrillte steigt aus, beachtet uns nicht weiter und reicht dem Hund ein paar Brekkies, um Vertrauen zu gewinnen, und das Halsband zu begutachten, welches wohl die Identität des Besitzers klären soll. Beides gelingt nicht wirklich; das Tier verschmäht die Leckerlis, erlaubt der Bebrillten aber einen kurzen Blick aufs Lederhalsband zu werfen.
»Keine Marke«, stößt sie sinnlos unzufrieden hervor.
»Vielleicht sollte man ihn ins Tierheim fahren«, schlägt die Grellbunte vor.
»Falls die heute überhaupt offen haben«, erwidert die Bebrillte.
Der Hund winselt einmal kaum hörbar und schaut träge zu mir auf. Für seinen Kollegen im Auto, den er zweifellos entdeckt hat, zeigt er nicht das geringste Interesse. Bereits jetzt ahne ich, dass ich das Tier bald am Hacken haben werde. Übertrieben aggressiv rufe ich deshalb aus:
»Dann fahren sie ihn doch!«
Prüfend, leicht empört und eigentlich auch zum ersten Mal schaut mich die Bebrillte richtig an.
»Leider können wir ihn nicht mitnehmen. Tina kann nicht so gut mit Rüden.«
»Dann tun sie ihn doch nach hinten in den Wagen.«
»Wie bitte?«
"Nach hinten, zu dem andern Köter.«
"Tina ist der andere Köter, junger Mann.«
"Tatsächlich.«
Wie auf Stichwort beginnt Tina ekstatisch zu bellen, wobei ihr herausgekläffter Atem das Heckfenster beschlagen lässt.
»Tina! Wirst du wohl ruhig sein!«, hört man die Fahrzeugführerin jetzt schreien. »Tina AUS! AUS, hab ich gesagt!«
Im Augenwinkel sehe ich, dass die Grellbunte in sich hinein lächelt. Ich bücke mich zu dem Hund hinunter und schaue ihn an, ohne etwas zu sagen. Er erwidert meinen Blick unschuldig und aufmerksam, wie eben nur ein Hund gucken kann und beginnt sich dann seelenruhig in den Arsch zu beißen. Die lautstarken Vorgänge im Kombi scheinen ihn nicht weiter zu interessieren.
»Kennst du dich mit Hunden aus?« fragt mich die Grellbunte und mir entgeht dabei nicht, dass sie mich jetzt duzt.
»Nicht besser als mit Menschen.«
Der Hund lässt sich von mir über den Kopf streicheln und beginnt zaghaft mit dem Schwanz zu wedeln. Im Kombi kehrt langsam wieder Ruhe ein.
Der Gewandmantel kommt mit einer Plastikflasche Wasser und einer Tupperbox in den Händen zurück. Sofort wird die Box mit Wasser gefüllt und dem Hund hingeschoben. Augenblicklich beginnt dieser gierig zu trinken. Mein Nachdurst meldet sich zurück.
»Hast du an die Leine gedacht, Mama?« fragt die Grellbunte.
»Ja, natürlich«, antwortet der Gewandmantel und zeigt sie der Tochter.
»Na dann, auf Wiedersehen, das Tier scheint hier ja in guten Händen zu sein«, verabschiedet sich die Bebrillte, wobei sie mich demonstrativ ignoriert. Die Fahrerin startet den Motor bevor die Bebrillte überhaupt richtig eingestiegen ist. Erneut bricht im Innern das Hundegekläffe los. Langsam fährt der Wagen unter kreischenden Zurechtweisungen und überaus engagiertem Hundegebell davon.
»Was machen wir denn jetzt mit ihm?« fragt der Gewandmantel darauf und schaut irgendwie unangebracht mitleidig auf den sich mittlerweile wieder die Eier leckenden Hund.
»Wie meinst du das Mama?«, fragt die Grellbunte etwas peinlich berührt zurück.
»Naja, mitnehmen können wir ihn ja schlecht. Vater wäre da auch nicht besonders begeistert drüber. Und du musst doch auch noch nach Hause und deinen Zug kriegen, oder? Der fährt doch schon in einer Stunde.«
»Was hat das denn damit zu tun?« zischt die Grellbunte.
»Wir sollten vielleicht doch die Polizei rufen ... die kümmern sich dann schon um das arme Tier.«
Die Grellbunte schweigt und mir entgeht nicht, dass sie rot wird und sich beschämt zur Seite wendet. Welch ein Aufhebens.
»Ist ja schon gut, ich werde ihn nehmen«, melde ich mich zu Wort.
»Och, das finde ich ja ganz toll von Ihnen«, ereifert sich der Gewandmantel erleichtert. »Sie kennen sich sicher gut aus mit Hunden, hab ich recht?«
»Kein Stück.«
Der Gewandmantel betrachtet mich falsch lächelnd mit zusammengekniffenen Augen und das Töchterlein schaut weiterhin betreten zur Seite.
»Könnte ich auch die Leine haben, ich hab grad' keine bei mir.«
»Äh, natürlich ... nur die bräuchte ich bald wieder.«
»Mutter!«, ruft die Grellbunte jetzt aufgebracht und schüttelt verächtlich den Kopf. »Ist doch egal, die hast du doch nur dafür, wenn du einmal im Jahr auf den verzogenen Collie von Onkel Manfred aufpassen musst ... Nun gib sie ihm schon!«
Ich nehme die Lederleine von dem falsch lächelnden Gewandmantel entgegen und schnalle sie an das Hundehalsband. Der Hund leistet keinen Widerstand.
»So, ich werd dann mal ... schönen Tag noch.«
»Was machen sie denn jetzt mit dem Tier?« fragt mich der Gewandmantel und weiß wahrscheinlich selber nicht warum.
»Schauen wir mal.«
Ich werfe der Grellbunten noch ein entschärfendes Lächeln zu und überquere die Straße; der Mischling läuft brav an meiner Seite, er scheint an das Leinelaufen gewöhnt zu sein.

Wieder in der Wohnung löse ich die Leine. Das befreite Tier schaut sich um, schnüffelt hier und da an meinen Sachen und macht es sich schließlich auf meinem pakistanischen Perserteppich, ein dekadentes Überbleibsel aus einem geordneten Leben, bequem, der mitten im Hauptzimmer liegt. Die Schnauze auf seinen Vorderpfoten liegend beobachtet er mich.
»Hast du Hunger?«
Er schaut auf und blickt mich aufmerksam an. Ich gehe in die Küche, fülle eine Kunststoffschale mit Kartoffeln von gestern und garniere sie mit übriggebliebener Bratensoße ebenfalls von gestern und lege zur Krönung noch vier Salamischeiben oben drauf.
»Hund!« rufe ich.
Das Tier kommt und betrachtet mich erwartungsvoll. Ich zeige nur kurz auf die Schale und mein neuer Freund beginnt leidenschaftlich zu fressen.
Da mir schwant, dass hier in Deutschland alles seine Ordnung haben muss und man aufgelesene Hunde nicht einfach behalten kann, gehe ich zum Telefon und rufe das Tierheim an. Keiner geht ran und auch kein Anrufbeantworter ertönt. Ich kontaktiere die Bullen.
»Die Polizei, Guten Tag«, vernehme ich und denke mir, dass es eine eigenartige aber wahrscheinlich wohl einzig richtige Art ist, sich so zu melden.
»Ja, hallo. Ich hab 'nen Hund gefunden.«
»Aha, wo haben Sie den denn gefunden?«
»In der Kirchbachstraße.«
»Und was ist das für ein Hund?«
»Mischling, mittelgroß, aschgrau.«
»Hat er 'ne Marke oder 'nen Namen?«
»Hat er mir nicht verraten.«
Eine kurze Pause am anderen Ende der Leitung entsteht.
»Hören Sie?«
»Ja.«
»Wenn Sie wollen, holen wir ihn heute noch ab? Oder Sie bringen ihn morgen ins Tierheim, oder Sie behalten ihn ... ist Ihnen überlassen ... Vielleicht meldet sich der Besitzer ja auch noch bei uns.«
Der Hund kommt ins Zimmer geschlichen. Er leckt sich über die Schnauze, pflanzt sich sofort wieder auf meinen Teppich, schaut mich neugierig an und fragt sich wahrscheinlich irritiert, warum sein neues Herrchen gegen ein Stück Kunststoff spricht.
»Ich werd ihn wohl erst mal behalten.«
»Auch gut. Dürfte ich dann noch Ihren Namen, Anschrift und Ihre Telefon- oder Handynummer erfahren?«
Nachdem ich meine Daten aufgesagt habe lege ich auf. Mein Kater meldet sich zurück. Ich gehe in die Küche und trinke knapp einen halben Liter Wasser. Plötzlich fällt mir ein, dass ich ja morgen den ganzen Tag ins Staatsarchiv muss. Einen Hund dorthin mitzubringen, würde höchstwahrscheinlich für Irritation sorgen und Unverständnis hervorrufen. Diese verfluchten Wohlstandshausfrauen von eben hätten sicher unendlich mehr Zeit gehabt, sich um das Tier zu kümmern. Aber wahrscheinlich hätten sie ihn morgen einfach nur ins Tierheim abgeschoben oder sich selbst überlassen. Ich rufe Joanna an.
»Ja«, meldet sie sich mit ihrer unglaublich tiefen Stimme.
»Hallo Schatzi, ich hab 'nen Hund aufgelesen.«
»Echt!« ruft sie erfreut auf. »Wie heißt er?«
»Du bist genau so dumm wie die verdammten Bullen. Glaubst du er hat sich mir vorgestellt?«
Sie lacht.
»Ja Schatzi, schon gut. Wo hast du ihn denn gefunden?«
»Bei mir in der Straße ... Hör zu Engelchen, wie immer schätze ich deine Euphorie, denn die brauchst du jetzt auch. Du musst dich morgen um das Tier kümmern, ich weiß nämlich nicht, ob das Vieh alleine bleiben kann oder nicht, und ich muss morgen ab vormittags arbeiten.«
»Kein Problem. Aber erzähl', was ist das für ein Hund?«
»Mischling, mittelgroß, aschgrau.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Wo wohl, er liegt auf meinem Teppich und glotzt mich an.«
»Niedlich!« ruft sie begeistert aus. »Weißt du was, ich komm morgen früh bei dir vorbei, um deinen neuen Freund kennen zu lernen. Und wenn's bei deiner Arbeit länger dauert, dann nehme ich ihn mit zu mir nach Hause.«
»Und was ist mit deinem Macker und deiner halbtoten Katze?«
»Christian hat Nachtschicht und wird danach sowieso Koma sein. Und Jimi wird schon klar kommen. Vielleicht kotzt er ein- zweimal vor Angst, aber dann wird's schon gehen.«
»Schön, dass du so problematisch und kompliziert bist.«
»Ich weiß«, lacht sie und hustet zweimal.
»Wie klappt' s mit dem Rauchen aufzuhören?«
»Fantastisch, hörst du ja.«
Der Hund erhebt sich plötzlich vom Teppich und kommt gemächlich zu mir zur Couch geschlichen. Er legt seine Schnauze auf meine Füße.
»Der Hund ist zu mir gekommen.«
»Oh wie süß, der mag dich Schatzi!" ruft sie mit ihrem tiefen Organ aus und das in einer Lautstärke, die den Hund kurz irritiert aufschauen lässt, doch gleich darauf senkt er die Schnauze wieder und schließt die Augen.
»Er hat sich vor deiner Stimme erschrocken.«
Sie lacht dreckig.
»Der scheint aber ein ganz Lieber und Anhänglicher zu sein. Hat er überhaupt schon gebellt?«
»Ich bin nicht mal sicher ob er's kann. Bis auf Eier lecken und Arsch kratzen hat er noch nicht viel gemacht.«
Sie lacht noch dreckiger und hustet erneut.
»O.K. Baby, dann kommst du also morgen früh so um zehn zu mir, ja?«
»Natürlich Schatzi, ich freu mich schon.«
»Ich auch. Bis dann.«
»Bis dann.«


II

Am nächsten Morgen gegen Sieben, nachdem ich von einer feuchten Hundezunge geweckt wurde, gehe ich mit meinem neuen Kameraden Gassi, bzw. er geht, ich fahre mit dem Rad. Glücklicherweise hatte mein Vorgänger ihm auch das Laufen am Fahrrad beigebracht. Als wir endlich irgendwo ein Stück städtisches Grün finden, steige ich vom Rad, lehne es an eine gigantische Eiche und lasse ihn auf der kleinen grünen Oase herumstolzieren. Auf seine Hunderledigungen warte ich allerdings vergeblich. Er läuft ein paar mal nach links und nach rechts, schnuppert am Gras, beißt in eine leere vom Regen aufgeweichte und verbleichte Zigarettenpackung, läuft noch mal nach links, bleibt dann stehen und guckt mich hilfesuchend an. Was erwartet er von mir? Soll ich vor ihm auf den Rasen scheißen um ihm zu zeigen wie's geht? Gerade als ich wieder auf mein Fahrrad steigen möchte, taucht eine ältere Hundebesitzerin mit Pudel auf.
»Morgen«, grüßt sie mich leidenschaftslos.
Ich grüße zurück. Als Hundebesitzer muss man sich anscheinend grüßen, obwohl man sonst höchst selten einen fremden Menschen auf der Straße grüßen würde. Hundebesitzer scheinen so etwas wie eine eingeschworene Gemeinschaft zu sein. Vielleicht ähnlich wie die der Busfahrer, die auch winkend oder kopfnickend grüßen, wenn sie sich mit ihren Linienbussen auf der Straße entgegenkommen.
So stehen wir also da, die Pudeldame und ich, und müssen dabei zusehen wie unsere Lieblinge sich abwechselnd ihre Ausgänge beschnuppern. Ich bin müde und will nach Hause. Nach einer Weile zieht die Dame leicht ruckartig an der Leine und ihr Hund verliert beinahe augenblicklich das Interesse an meinem Freund und trottet ihr wieder brav hinterher. Auf die Idee hätte ich auch mal kommen können.
»Wiedersehen«, sagt sie.
»Wiedersehen«, sage ich.

Wie immer erscheint Joanna fast eine Stunde später als vereinbart. Als sie klingelt macht der Hund ein kurzes dumpfes Geräusch, dass wohl als Bellen durchgehen soll.
»Hallo Schatzi«, sagt sie nachdem sie eingetreten ist, umarmt mich und küsst mich auf den Mund.
Ich schmecke ihren Lippenstift. Sie trägt ein knappes dunkelrotes Kleid und sieht darin großartig aus. Ich frage mich sofort eifersüchtig, ob sie es für mich oder meinen neuen Freund angezogen hat. Auch ihre Brüste kommen mir größer vor als sonst.
»Du siehst süß aus in dem Kleidchen.«
Sie lächelt zufrieden.
»Danke Schatzi.«
»Kann es sein, dass deine Titten in letzter Zeit größer geworden sind?«
»Nein Baby, das täuscht. Liegt vielleicht am Kleid.«
Der Hund kommt vorsichtig angeschlichen und wird augenblicklich von ihr in Beschlag genommen. Sie hat eine Art, mit dem Tier umzugehen, die keine Skepsis seinerseits zulässt. Sein Schwanz beginnt zu wedeln.
»So hab ich ihn mir vorgestellt, ein ganz Lieber.«
Joanna streichelt ihn ausgiebig hinter den Ohren, was ihm einen zufriedenen Ausdruck verleiht, soweit man dass bei einem Hund überhaupt sagen kann.
»Musst du gleich los?« fragt sie.
»Eigentlich jetzt sofort.«
»Fahr nur Schatzi, ich denke wir werden hier sehr gut klar kommen.«
»Also gut, wenn du mit ihm raus willst, die Leine liegt auf 'm Sessel ... Bis später.«
»Bis später.«


III

»Scheiße, morgen muss ich noch mal hin«, verkünde ich unzufrieden, als ich vier Stunden später wieder zuhause durch die Tür trete.
»Die wichtigsten Akten musste ich aus'm Keller bestellen. Diese pedantischen, bürokratischen Idioten dort holen die Akten zur Sichtung erst morgen rauf ... Interessant was?«
»Wahnsinnig«, sagt sie warm lächelnd. »Da möchte dir jemand Guten Tag sagen.«
Neben mir steht der Hund, der tatsächlich kaum hörbar jault und schwanzwedelnd seine Streicheleinheiten einfordert.
»Ich hab ihn Henry getauft ... auf den Namen reagierte er am meisten.«
Ich kraule Henrys Hals.
»Wenn du morgen wieder ins Archiv musst, dann wär's vielleicht besser, wenn ich Henry heute, mitnehme, oder Schatzi?«
Ich betrachte sie augenzwinkernd.
»Du hast dich wieder mal verliebt Mäuschen, was? Deine Leute zuhause werden sich freuen ... Du würdest wahrscheinlich auch einen angefahrenen Hirsch mit nach Hause nehmen ...?«
»Möglich«, sagt sie frech lächelnd.
Ich tätschele ihr den Po und sage:
»Ich geh noch kurz pullern, dann fahre ich euch.«


IV

»Das wird jetzt lustig«, sage ich grinsend als wir vor ihrem Wohnhaus parken. »Du hättest Christian vielleicht doch vorwarnen sollen?«
»Ach was, der soll sich mal nicht so anstellen«, erwidert sie abwinkend. »Henry ist doch ein ganz Lieber.«
»Und der Kater?«
»Jimi?«
»Ja. Hat der nicht Herzprobleme?«
»Jimi hat alles mögliche. Er wird dieses Jahr einundzwanzig. In dem Alter wär's ja fast anormal, wenn er keine Herzprobleme hätte. Ich bin eher gespannt wie Koscha auf Henry reagieren wird. Sie hat in ihrem Leben noch nie einen Hund gesehen.«
Koscha ist Joannas zweite Katze. Sie hat sie vorletztes Jahr während ihres Volontariats in St. Petersburg noch als Baby halbverhungert auf der Straße aufgelesen und wieder aufgepeppelt. Danach konnte sie sich natürlich nicht mehr von ihr trennen.
»Na schön, dann gehen wir mal«, sage ich und steige aus.
Kurz darauf schließt Joanna die Wohnungstür auf, die sich im zweiten Stock befindet. Mit dem Hund an der Leine betreten wir den Flur der Vier-Zimmer-Wohnung. Gerade kommt Christian mit übermüdeten Gesicht aus dem Klo geschlürft und schaut sofort konsterniert auf Henry.
»Was ist das?« fragt er Schreckliches ahnend.
»Das ist Henry, Schatzi«, verkündet Joanna fröhlich.
»Das ist schön, der bleibt aber nicht hier?«
»Natürlich bleibt der hier.«
Christian wankt kurz benommen zur Seite, ganz so als hätte er einen ordentlichen Schlag verpasst bekommen.
»Du bist doch vollkommen durchgeknallt!«, zischt er sie an und schließt panisch die Tür die ins Wohnzimmer führt, indem sich anscheinend die beiden Katzen befinden.
»Wieso? Henry wurde ausgesetzt.«
»Ja und? Ist das unser Problem?«
»Nein. Es gibt kein Problem.«
»Ach wirklich?«
»Hör zu Christian«, sagt sie resolut und zeigt auf mich, »Schatzi muss morgen arbeiten. Er muss morgen früh wieder ins Staatsarchiv. Da kann Henry nicht bleiben.«
»Und arbeite ich nicht? Was glaubst du denn was ich die ganze Nacht mache, Stepptanz lernen? Ich stehe an diesem verfluchten Band fünf verschissene Nächte in der Woche und erlebe da Dinge, die Einen echt fertig machen.«
»Das tut mir leid Liebling, aber mach dir trotzdem keine unnötigen Gedanken. Ich arbeite weiter brav an meiner Dissertation und kann mich nebenbei ganz allein um Henry kümmern.«
Christian schaut mich hilfesuchend an. Kopfschüttelnd signalisiere ich ihm, dass ich mich raushalten werde und dass er die Sache mit ihr alleine regeln muss. Der arme Kerl liebt sie über alles und ist ihrer Dominanz deshalb nicht gewachsen. Er wird sich jetzt noch eine Weile aufplustern und herumzetern wie ein Wellensittich und schließlich wie immer den Schwanz einziehen und nachgeben. Christian beginnt sich die Schläfe zu massieren.
»Jimi kriegt einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Und wie Koscha reagiert möchte ich lieber gar nicht wissen.«
»Ach Blödsinn!« entgegnet Joanna. »Schau dir Henry doch an ... der ist absolut harmlos und ruhig ... Ich geh jetzt ins Wohnzimmer.«
Energisch schiebt sie sich an Christian vorbei, öffnet die Tür und betritt das riesige Wohnzimmer. Unsicher folgt ihr Henry und noch unsicherer folgt ihr Christian, als letzter trete ich ins Zimmer.
Auf eine Reaktion der beiden Katzen müssen wir nicht lange warten. Sogleich, nachdem Koscha den pelzigen Reviereindringling gesichtet hat, schleicht sie angriffsbereit mit hochstehendem Fell und wildfauchend auf Henry zu; dieser springt angsterfüllt zurück und versucht hinter Joanna Schutz zu finden. Die Reaktion von Jimi auf den unerwarteten Besucher ist subtiler. Er übergibt sich ausgiebig und für eine Katze recht geräuschvoll auf die flauschige Auslegeware.
»Was hab ich dir gesagt!« brüllt Christian nun. »Jimi wird noch draufgehen, wenn du den Köter hier nicht rausschaffst.«
Seelenruhig erwidert Joanna, »Bleib ganz ruhig, Schatzi. Ich krieg das schon hin.«
Sie beginnt behutsam abwechselnd auf alle drei Tiere einzureden und hockt sich wie ein Sicherheitspuffer zwischen Henry und die Katzen. Beiläufig wischt sie mit einem Taschentuch Jimis Kotze vom Teppich.
»Ich guck mir das nicht länger mit an! Ich hab heut' schon genug kranke Scheiße gesehen ... Los komm, lass uns draußen eine Rauchen«, fordert er mich auf und führt mich auf den fast schon übertrieben großen Balkon. Nachdem er sich erregt eine angezündet hat, reicht er mir die Schachtel und das Feuerzeug.
»Wolltet ihr nicht beide aufhören?« frage ich, nachdem ich mir auch eine angezündet habe.
»Wollen, wollen! Man will so vieles ... Wenn du wüsstest, was heute Nacht passiert ist, da wunder ich mich, dass ich nicht gleich zwei Schachteln hintereinander weggezogen hab.«
»Was ist denn passiert?«
»Während meiner Schicht ist 'n Kollege von mir nackt bis unters Hallendach geklettert. Dort hat er dann 'nen Strick festgemacht, sich um 'n Hals gelegt und runter geschrie'n, er halte die ganze Scheiße hier nicht mehr aus, und dass wir uns alle in der Hölle wiedersehen werden, und dann ist er gesprungen ... Es war fast wie in diesem Horrorfilm aus den Siebzigern, wo sich dieses Kindermädchen am Hausdach erhängt. Weißt du welchen Film ich mein'?«
»Das Omen?«
»Ja, genau den mein' ich.«
Christian bläst geräuschvoll den Rauch aus.
»Als wir näher rangingen haben wir dann diese widerliche Lache auf'm Boden gesehen«, fährt er bleich werdend fort. »Die Pisse und die Scheiße floss noch aus ihm raus ... Ich hab dann erst mal gereihert, genau wie Jimi eben, und wollte bloß noch nach Hause.«
»Nachvollziehbar.«
»Jetzt kommt aber das Schönste: Die Werksleiter, diese Bastarde haben nicht mal das verdammte Band angehalten, die beschissene Arbeit ging einfach weiter ... Als wenn wir noch zu wenig beschissene Autos auf der Welt hätten ... Und so haben wir alle brav weiter gemacht, wie die Schafe, während der Kollege über uns früher Feierabend gemacht hatte. Zwei Stunden hat's dann noch bis zur Pause gedauert ... Da haben se ihn dann irgendwie da runter geholt.«
Gedankenversunken verstummt er und schnippt die Asche vom Balkon.
»Bei meiner Arbeit sind die meisten eh schon scheintot«, sage ich, und wähle damit wahrscheinlich keinen besonders guten und aufmunternden Vergleich. Glücklicherweise ist Christian noch in Gedanken vertieft und hat mir nicht richtig zugehört.
»Das war übrigens nicht das erste Mal«, fährt er fort. »Vor drei Monaten ist einer vom Dach gesprungen. Dreifacher Familienvater. Das passiert da öfter als man glaubt. So zwei- dreimal im Jahr beendet dort einer vorzeitig seine trostlose Existenz. Vielleicht sollte man dieses Phänomen mal für die Werbung nutzen. ... Nach dem Motto: ‘Fahren Sie den neuen 500er! - Irgendwann hängen se dann jeden ab!’ ...«
Lässig schnippt er die Zigarette übern Balkon.
»Mal übers Kündigen nachgedacht?«
»Fast jeden Abend oder Morgen wenn ich nach Hause komme ... Aber trotzdem, man schläft ne Nacht oder 'nen Tag drüber und dann geht's wieder weiter ... Und dabei weiß man ganz genau, wenn man noch ein paar Jahre so weiter macht, dann kann man bald sein letztes bisschen Verstand auf den Kompost schmeißen ... Ich glaub, ich leg mich noch mal hin.«
Leicht taumelnd geht er wieder rein. Ich werfe meine Zigarette vom Balkon und folge ihm.
Drinnen hat sich sie Situation wieder einigermaßen beruhigt; die Katzen, insbesondere Koscha, belauern Henry zwar, gehen aber nicht mehr in Angriffsposition. Man sieht, dass sich der Hund noch unwohl fühlt, kann aber bereits ahnen, dass in absehbarer Zeit alle drei die dicksten Freunde sein würden. Tiere handeln eben nur instinktiv, sie haben kein feindseliges Naturell, genauso wie sie nicht selbstmordgefährdet sind.
»Siehst du Schatzi, ich hab dir doch gesagt, dass alles unproblematisch sein wird«, bemerkt Joanna stolz und zufrieden.
Christian stimmt ihr zu, ist aber nicht wirklich bei der Sache.
»Ich hau' mich wieder hin.«
»Alles klar bei dir, Schatzi?«
»Ja, ja alles klar."
Er verlässt das Zimmer.
»Was hat er denn? Das ist doch nicht nur wegen Henry?«
»Frag' ihn vielleicht später, wenn er ausgeschlafen ist«, antworte ich.
»Kannst du mir nicht erzählen was los ist? Du hast doch draußen mit ihm geredet.«
»Das soll er dir lieber selbst erzählen.«
Joanna betrachtet mich prüfend, zeigt aber Verständnis und zügelt ihre Neugier.
»Werd' ich machen.«
»O.K. Baby, ich verschwinde jetzt. Die Tiere scheinen ja langsam miteinander klar zu kommen.«
»Sieht danach aus«, sagt sie entspannt lächelnd.
»Ich ruf dich später noch mal an«, sage ich zum Abschied, nachdem ich ihr noch einen Abschiedskuss auf die Stirn gegeben habe. Henry folgt mir bis zur Haustür und guckt mich verwundert an, da ich ohne ihn verschwinde. Als ich die Tür schließe, höre ich, dass sich noch ein kurzer leiser Jauler seiner Kehle entringt.

Draußen klingelt mein Handy.
»Hallo.«
»Ja, Hallo«, meldet sich eine schüchterne aber freundliche Kinderstimme. »Sie haben einen Hund gefunden?«
»Ja, wer spricht denn da?«
»Hier ist Tomke.«
»Aha, also Tomke. Ja, ich habe gestern einen Hund gefunden.«
»Wo denn?«
»In der Kirchbachstraße.«
»Wo ist die?«
»In der Nähe vom Zentrum.«
Eine kurze Pause setzt ein.
»Nee, dann ist er es nicht«, nuschelt das Kind enttäuscht.
»Wie, dann ist er es nicht?«
»Tschüß.«
»Tomke, warte mal, ganz ruhig bleiben! Nicht so überstürzt. Also, dir ist gestern oder vorgestern ein Hund weggelaufen, ja?«
»Ja, vorgestern.«
»Na schön, vorgestern. Wo ist er dir denn weggelaufen?«
»Vom Sportplatz.«
»Aha, und von welchem Sportplatz?«
»Der an der Langemarckstraße.«
»O.K., also hör zu Tomke ... von der Langemarckstraße bis zur Kirchbachstraße sind es nur etwa drei Kilometer. Ein normaler Hund ist durchaus in der Lage, diese Strecke zurückzulegen, ohne dass er danach wiederbelebt werden muss.«
»Was?«
»Egal, machen wir's kurz. Ist dein Hund ein grauer Mischling?«
»Ja.«
"So etwa mittelgroß?«
"Ja.«
»Hat er 'nen weißen Fleck auf der Schnauze?«
»Ja!« antwortet Tomke in hoffnungsschöpfendem Ton.
»Ist er sehr ruhig, also praktisch unfähig zu bellen?«
»Ja!« lacht Tomke jetzt. »Das ist er! Das muss er sein! Warten Sie, ich geb' Ihnen meine Mama ... Mama komm schnell!«
»Schneider«, ertönt eine unsympathische Stimme.
»Guten Tag, es scheint so, dass ich Ihren Hund aufgelesen habe.«
»Er ist grau und er hat einen weißen Fleck auf der Schnauze und er bellt gar nicht, das ist er!« ereifert sich das Kind im Hintergrund.
»Tomke! Sei mal bitte still, ich kann den Herrn sonst nicht verstehen ... Entschuldigen Sie, aber die Polizei gab uns Ihre Nummer.«
»Ja, ja schon gut, also anscheinend hab ich den Hund Ihres Sohnes gefunden ...«
»Den Hund meiner Tochter!«
»Ah ja, auch gut. Demnach habe ich wohl den grauen Mischling Ihrer Tochter gefunden.«
»Na, das ist doch schön«, sagt sie verhältnismäßig emotionslos. »Wo haben Sie ihn denn gefunden?«
»Er saß vor einer Bäckerei in der Kirchbachstraße.«
»In der Kirchbachstraße«, wiederholt sie überrascht, »wie ist der denn da hingekommen? Na ja, und jetzt ist er also bei Ihnen?«
»Quasi ... zur Zeit ist er allerdings bei einer Freundin, die wohnt im Breitenweg.«
»Den Breitenweg kenn ich ... Wenn dort jetzt jemand zuhause ist, könnte ich so in 'ner Viertelstunde da sein und ihn abholen?«
»Das dürfte klargehen. Breitenweg 14, bei Kattner.«
»Danke ... also dann, bis gleich.«
»Ja, bis gleich.«
Ich kehre zur Haustür zurück und klingele bei Joanna.
»Ja«, dröhnt es eine ganze Weile darauf aus der Gegensprechanlage.
»Baby, ich bin's wieder.«
»Schatzi, du? Was ist los, hast du was vergessen?«
»Nein, hör zu ... Henrys Besitzer hat mich gerade angerufen und will ihn gleich abholen.«
Nach einer kurzen Pause tönt es unüberhörbar traurig aus der Anlage, »Aha, gleich schon, ja?«
»Ja, so in 'ner Viertelstunde.«
»Henry frisst aber gerade, er hat eben schon Koschas Katzenfutter weggehauen.«
»Lass, dir ruhig Zeit Süße, ich warte hier unten.«
»O.K.«, kommt es nur noch halblaut aus dem Kasten.

Ich zünde mir eine Zigarette an. Etwa zehn Minuten später erscheint Joanna mit Henry an der Leine. Sie ist still und wirkt gefasst. Wortlos stellen wir uns an die Straße.
»Buuuudddyyy!« erschallt es plötzlich von der Seite. Henry blickt augenblicklich aufgeregt in Richtung des Rufers, reißt sich sofort los und stürmt, wie von der Tarantel gestochen, laut jaulend auf sein wiedergefundenes Frauchen zu.
»Jaaa, Buddy ist ja gut! Beruhige dich!«
Kühl hält die Besitzerin, Sorte: Jugendlich erwachsen, ihren Hund auf Distanz und unterdrückt dessen übermütige, natürliche Freude.
Kurz darauf tritt sie, Henry bereits wieder fest an der Leine haltend, auf uns zu.
»Ja, also dann möchte ich mich noch mal bei Ihnen bedanken ...«
»Kein Problem«, sage ich.
Joanna schweigt.
»Na, du siehst ja ganz schön mitgenommen aus, was Buddy?!« wendet sie sich an ihren Hund, der sofort wieder freudig versucht, an ihr hochzuspringen, was von seinem Frauchen augenblicklich, durch ein straffes Anziehen der Leine, unterbunden wird.
»Was bin ich Ihnen schuldig, ich meine für Futter und so weiter?«
»Gar nichts! Sie sind uns gar nichts schuldig!« gibt Joanna ihre Verachtung schwer unterdrückend von sich.
»Na gut ... also dann nochmals danke und auf Wiedersehen.«
»Wiedersehen«, sage ich.
Joanna schaut angeekelt zur Seite, während die Frau mit Henry davongeht und etwa zwanzig Meter entfernt ins Auto steigt und kurz darauf davonfährt.
»Was bin ich Ihnen schuldig«, äfft Joanna sie hasserfüllt nach. »Was für eine kalte Schlampe! ... Und was soll das überhaupt heißen, dass Henry ganz schön mitgenommen aussah? Dann soll se sich doch besser um ihn kümmern und nächstes Mal besser auf ihn aufpassen!«
»Beruhige dich Darling, daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. Sie ist nun mal sein Frauchen ... und zu schlechter Letzt hat sie uns sogar noch die Leine gezockt.«
»Buddy! ... Buddy ist ein total beschissener Name für einen Hund!«
»Ja, genau so Scheiße wie Tomke für ein Mädchen.«
»Wer ist Tomke?«
»Nicht wichtig, Baby.«


 

Jörn Birkholz:
*
02. März 1972 in Bremen. Studium der Geschichts- und Kulturwissenschaften m. a.
Arbeitet im Geschichtskontor Bremen/Walle am Aufbau einer Datenbank zur Stadtentwicklung. Im Herbst erscheint sein erster Roman »Deplatziert«.


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