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Lucas Cranach der Ältere, Das Goldene Zeitalter um 1530



Das Goldene Zeitalter des Westens ist vorbei

Die Globalisierung wird künftig von anderen Mächten geschrieben, von ihrer Art zu leben, zu denken und zu handeln, meinen Kishore Mahbubani und Fareed Zakaria.

Von Rudolf Maresch

Hat die europäisch-westliche Denkweise fertig? Haben die USA und damit jenes kulturelle Gebilde, das man vereinfacht »den Westen« nennt, ihre politische Strahlkraft auf die nicht-westliche Welt, auf Asien, den Mittleren Osten und Afrika verloren? Ist die Demokratie westlichen Typs möglicherweise ein Auslaufmodell, weil das Modell einer »gelenkten Demokratie«, das in autoritär strukturierten Staaten wie dem kommunistischen China oder im heutigen Russland anzutreffen ist, mittlerweile mehr Effizienz, Glaubwürdigkeit und wirtschaftlichen Erfolg verspricht als das »freiheitliche«? – Die meisten politischen Beobachter werden diese Frage als Provokation empfinden, sie werden sie noch verneinen und dafür moralische Werte, universelle Ideen und geschichtliche Erfahrungen oder Entwicklungen ins Feld führen.

Der Weg nach vorn
In der Tat lässt sich eine Vielzahl von Gründen anführen, die für den Erhalt, den Ausbau oder die weitere Verbreitung des »freiheitlichen« Modells sprechen. Die Beobachtung, dass Menschen, die sich einmal ihrer Fesseln entledigt und sich politisch emanzipiert haben, Bevormundungen durch Obrigkeiten nicht mehr erdulden, gehört sicher mit dazu. Und die Erkenntnis, dass erst im Umfeld eines Free Flow of Information jener Wettbewerb um Ideen gedeihen kann, der die Kreativität von Menschen (Human Power) freisetzt, die für die wirtschaftliche Dynamik eines Landes unerlässlich ist, möglicherweise auch.
Hinzu kommt, dass der Abgesang auf die freiheitliche Ordnung so alt ist wie ihr Bestehen. Von Beginn an wird die liberale Demokratie von Stimmen und Stimmungen begleitet, die ihre Ineffektivität und Trägheit beklagen, die Indifferenz gegenüber moralischen Werten sowie den Ausverkauf an Wirtschaftseliten, und daher ihren baldigen Verfall oder Untergang an die Wand malen. Sie reichen von den Verächtern der parlamentarischen Demokratie, von Carl Schmitt und Walter Benjamin, bis hin zu ihren sozialrevolutionären Überwindern auf der politisch Linken wie Rechten.

Wirklich überzeugend wirken diese Einwände und Argumente jedoch nicht. Zum einen, weil sie den tatsächlichen Verlauf der Geschichte in den letzten Jahren schlichtweg ignorieren. Seitdem der Kalte Krieg und der amerikanische Unilateralismus sich als untauglich erwiesen haben, die Probleme und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern, spüren wir, dass der Weg in die Zukunft nicht mehr über die Modelle der Vergangenheit führen kann oder wird. Zum anderen, weil sie häufig mit einer Mischung aus kultureller Selbstgefälligkeit und westlicher Überheblichkeit vorgetragen werden, dabei das westliche Denken und seine politischen Konzepte zum allein Seligmachenden in der Welt aufblasen und obendrein der Blick auf die Ereignisse durch die eurozentrisch-westliche Brille verzerrt wird. Die beiden Bücher, die von Kishore Mahbubani, Politikprofessor in Singapur, und Fareed Zakaria, Herausgeber von Newsweek International, soeben in deutscher Übersetzung erschienen sind, machen darauf nachhaltig aufmerksam und geben dem Leser aber ein ganz anderes Bild.

Die Entwicklung kehrt dorthin zurück, wo sie begann
Nimmt man nämlich deren Perspektiven ein, dann erkennt man recht schnell, dass alle Ausführungen, die den Westen und seine Zivilisation zum historischen Nabelpunkt oder Letzthorizont erklären, historisch ziemlich kurz springen. Die zweihundert Jahre währende Dominanz des Westens, schreibt Mahbubani, »war eine Anomalie der Geschichte«. Bis zur Industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts war die wirtschaftliche Bedeutung des Westens, global betrachtet, ziemlich gering. Vom Beginn unserer Zeitrechnung an besaß der asiatische Kontinent den größten Anteil an der Weltwirtschaft. Trug Asien zum globalen Bruttosozialprodukt (BSP) bis dahin nahezu 70 Prozent bei, beschränkte sich der Anteil Westeuropas daran allenfalls auf ein knappes Zehntel.
Dies änderte sich erst mit all den technischen Innovationen und den bedeutenden Beiträgen, die später die westlichen Ableger, namentlich die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien zum BSP beisteuerten. Gewiss kursierten schon vorher, seit der europäischen Renaissance, westliche Ideen, Werte und Ideale in Schriften, Archiven und halböffentlichen Foren, die mental darauf vorbereitet haben. Die freiheitliche Demokratie reüssierte politisch aber erst, als die wirtschaftliche Dynamik, angefacht durch Wissenschaft, Technik und »formale Rationalität“ (Max Weber), an Fahrt gewann und den Bevölkerungen nach und nach einen gestiegenen Wohlstand bescherte.

Der Westen ist Teil des Problems, nicht dessen Lösung
Mahbubani als auch Zakaria weisen auf die BRIC-Studie von Goldman Sachs hin, wonach spätestens ab Mitte dieses Jahrhunderts (neuere Studien sprechen gar vom Jahre 2030 oder früher) drei der vier größten Volkswirtschaften in Fernost liegen werden, neben den USA Japan, Indien und vor allem China. Dies hat nicht nur Wachstums-, sondern auch demografische Gründe. Mittlerweile lebt bereits die Hälfte der Menschheit in Asien, während der Westen, also Europa, die USA, Kanada, Australien und Neuseeland, nur noch knapp ein Zehntel der Weltbevölkerung stellt.
Zu glauben, dass die zehn Prozent, die der Westen stellt, künftig allein über die klimatischen, politischen oder ökonomischen Belange der Menschheit befinden könnten, über Energievorräte, Krieg und Frieden, Umweltauflagen oder Lebensgrundlagen, wie es derzeit in der G 8, dem UN-Sicherheitsrat, der Weltbank (WB) oder dem Internationalen Währungsfond (IWF) noch passiere, ist nicht nur für Mahbubani ein aberwitziger Gedanke. Es dürfte folglich nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die neuen aufstrebenden Staaten auch in diese internationalen Organisationen drängen. Sie werden dort ihre Sicht der Dinge einbringen und sich am System beteiligen wollen.

Dass der »liberale« Westen, der seine Macht exklusiv in diesen Clubs gebündelt, gespeichert und monopolisiert hat, und dies bislang mit fadenscheinigen Gründen zu verhindern wusste, zeigt laut Mahbubani nur, mit welchen undemokratischen Mitteln der Westen seine Macht in der Vergangenheit zu verteidigen suchte. Er gefiel sich in der Rolle des gestrengen Lehrers, der in Krisenzeiten »widerspenstige Schüler rüffelte«, ergänzt Zakaria. Aber heute, vor allem im Angesicht einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, die vor allem von »freiheitlichen« Systemen und nicht von »gelenkten« ausgelöst worden ist, »wirken seine Lehren (eher) unglaubwürdig«. Deutlich wird, dass er einer künftigen Weltordnung, die mit der alten Nachkriegsordnung aufräumt und den neuen Machtkonstellationen Rechnung trägt, eher Teil des Problems als dessen Lösung ist.

Mahbubani zitiert Samuel Huntington, der bereits 1993 in seinem berühmten Aufsatz The Clash of Civilizations? schrieb: »Praktisch benutzt der Westen internationale Institutionen, militärische Macht und ökonomische Ressourcen, um die Welt auf eine Art zu führen, welche die westliche Vorherrschaft aufrechterhält, westliche Interessen schützt und westliche politische und ökonomische Wert fördert.«
Solange die Machtverhältnisse aber dermaßen ungleichgewichtig verteilt sind, Amerikaner und Europäer untereinander ausmachen, wer an der Spitze von IWF oder WB steht oder wie Abstimmungen dort auszufallen haben, würden neue Mächte, wie China oder die Erdöl produzierenden Staaten des Persischen Golfes mit ihren hohen Devisenreserven, nicht bereit sein, sich an einer ebenso raschen wie notwendigen Kapitalerhöhung des IWF zu beteiligen. Stattdessen würden sie Kredite lieber direkt an Länder verteilen, um sich auf diese Weise politischen Einfluss zu sichern und das politische Wohlwollen dieser Länder zu gewinnen.

Der Normalzustand kehrt wieder ein
Mahbubani ist überzeugt, dass die Welt wieder dabei ist, vom kurzzeitigen westlichen »Ausnahmezustand« in den geschichtlichen »Normalzustand« zurückzukehren. Seit fast 90 Prozent der Weltbevölkerung aufgehört haben, bloß zu existieren und bloße Objekte der Weltgeschichte zu sein, schreite die Delegitimierung der Macht und des Einflusses des Westens munter voran. Das nahende Ende der europäisch-amerikanischen Dominanz, und mit ihm auch jener Mythos einer Weltgemeinschaft, die ausschließlich die Ansichten und Wahrnehmung des Westens teilt, signalisiere, dass die westliche Kultur weder den End- oder Höhepunkt der menschlichen Entwicklung darstelle, noch der Anbruch einer anderen Kultur den Rückfall ins Mittelalter bedeuten müsse.
Bemerkenswert an Mahbubanis Studie ist, dass er für diesen Aufstieg des Ostens weniger die Rückbesinnung asiatischer Gesellschaften auf verborgene oder verschüttete Stärken verantwortlich macht, als vielmehr deren ungehemmtes Abkupfern und Imitieren westlicher Ideen und Werte, als da sind: die Einführung radikal marktwirtschaftlicher Gesetze; die Dominanz technischer und/oder naturwissenschaftlicher Fächer; die gezielte Ausbeutung und Anwendung menschlicher Ressourcen und Talente in Politik, Wirtschaft und Technik; die Abkehr von Ideologie hin zu pragmatischen Handlungen und Lösungen.

Erfolgshungrig, aufstiegsorientiert, leidensfähig
Das hat zum einen mit der Mentalität der Menschen in Asien zu tun, deren geistiges Potential so lange brach gelegen ist und das jetzt förmlich vor Energie und Kreativität zu bersten scheint. Asiaten sind im Allgemeinen viel ausdauernder, duldsamer und hungriger, was die Aussicht auf Erfolg, Wohlstand oder Karriere angeht. Hinzu kommt, dass sie einen riesigen Nachholbedarf hinsichtlich des Konsums von Waren oder die Möglichkeit auf ein gesichertes Leben haben. Ein Europäer kann sich das vielleicht nicht vorstellen, aber Wasserklosett und Fernsehgerät, fließendes Wasser und Mobiltelefon sind dort vielfach noch Wunschträume.
Anders als westliche Jugendliche und Heranwachsende, die vom Konsum übersättigt sind, zum Wehklagen neigen und sich eher um ihre Zukunft sorgen statt selbstinitiativ zu werden, herrscht bei den asiatischen Vergleichsgruppen, die in indischen und chinesischen Slums und Trabantenstädten leben, trotz der dort herrschenden Armut und Elend weitgehend Zuversicht, Optimismus und Vertrauen in die Zukunft. Asiaten warten nicht auf Hilfen des Staates, auf Subventionen oder Ausgleichszahlungen, sondern wollen ihr Leben durch eigene Anstrengung ständig verbessern und über ihr Schicksal selbst bestimmen.

Vergleichbare Stimmungslagen findet man auch in weiten Teilen westlicher Eliten. Hat die größte kommunistische Partei der Welt, die KPCh, den Sozialismus längst auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt und dem »freien Unternehmertum« freien Lauf gegeben, lassen sich westliche Politiker und Intellektuelle erneut von dümmlicher Globalisierungs- und Kapitalismuskritik leiten. Entweder trauern sie dem verflossenen Sozialismus nach und verklären ihn oder sie jazzen ihn gar zum Alternativkonzept des neoliberalen Wirtschaftsmodells hoch.
»Als die jungen Leute die Dörfer verließen, um in Nike-Schuhfabriken zu arbeiten,« schreibt Kishore Mahbubani westlichen Globalisierungskritikern ins Stammbuch, »hatten Haushalte, die daran gewöhnt waren, mit einem Jahreseinkommen von 467 US-Dollar ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, plötzlich 4300 US-Dollar zur Verfügung. Deshalb gibt es in China keine Antiglobalisierungsbewegung. Für die jungen Chinesen, die in ihnen arbeiteten, waren die Nike-Fabriken, die die Globalisierungsgegner der WTO-Tagung in Seattle im Jahr 1999 so vehement verurteilten, ein Ort der Befreiung. Zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte konnten sich bäuerliche Chinesen vorstellen, aus der endlosen Plackerei des Landlebens auszubrechen. Für den menschlichen Geist ist nichts befreiender als die Erkenntnis, dass es eine Hoffnung gibt.«

Der amerikanische Traum hat eine Adresse
Ihre optimistische Einstellung hat aber auch mit dem unterschiedlichen Charakter und dem Stellenwert von Bildung in den aufstrebenden Ländern zu tun. Während westliche Erzieher und Funktionäre ständig den kognitiven Überhang von Lerninhalten beklagen, auf emotionale Defizite in der Schulbildung hinweisen und am liebsten die schulischen Anforderungen an Kinder und Jugendliche zurückfahren möchten, damit sie nicht zu seelischen Krüppeln verkommen, verhält es sich in asiatischen Ländern genau umgekehrt. Hier dominieren vor allem jene Arbeitstugenden, die Samuel Huntington vor Jahren in seinem Buch Who we Are für den nachhaltigen Erfolg der angelsächsischen Nation ausgemacht hat: Ausdauer und Zähigkeit, Disziplin und Erfolgshunger.
Jobbt ein angehender indischer Informatiker oder Ingenieur acht Stunden in der Nacht in einem Call-Center, um am Morgen danach gleich wieder in die Universität oder in die Technikerschule zu hasten, hat der durchschnittliche westliche Student vor allem eines im Sinn: Partymachen und Jammern, Partnerwechsel und Ausschlafen. Zwar genießen westliche Kaderschmieden in Großbritannien und den USA bei asiatischen Jungakademikern immer noch hohes Ansehen. Deren Bedeutung nimmt aber stetig ab, wie neueste Rankings zeigen. Schon beginnen viele Emigrantenkinder in ihre Heimatländer zurückzukehren (brain gain), um mit Ideen und Geld im Gepäck die sich für Unternehmer dort bietenden Chancen zu nutzen, von denen Europa, das sich selbstredend als »wettbewerbsorientierte Zukunftsregion“ begreift, bislang nur zu träumen wagt: die unglaubliche Größe und Unerschlossenheit der Märkte, ihr rasantes Wachstum, die unerhört günstigen Arbeitskräfte. Auf die jungen und hochmotivierten Rückkehrer wirken diese neuen Märkte wie Start-up-Unternehmen, während der Westen wie ein schwerfälliges Großunternehmen oder unbeweglicher Tanker erscheint.
In nicht allzu ferner Zeit werden europäische Bildungsbürger daher beginnen, ihre Kinder auf Hochschulen in Peking, Singapur oder Mumbai zu schicken, statt wie gewohnt auf britische Internate oder auf amerikanische Colleges. Nicht nur, weil sie dort eine bessere Ausbildung für ihre Sprösslinge zu erwarten haben, sondern auch, weil sie sich auf diese Weise mehr und besser mit russischen, chinesischen oder indischen Lebensweisen oder Gewohnheiten vertraut machen können.

Die Finanzkrise verstärkt die östliche Drift
Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise wird diesen Trend weiter befördern und verstärken. Sie könnte für die USA »das Aus für eine gewisse Art von weltweiter Dominanz bedeuten«, meint Zakaria. »Wenn der Irakkrieg und die Außenpolitik von George W. Bush […] der militärisch-politischen Macht Amerikas die Legitimationsgrundlage entzogen haben, dann hat die Finanzkrise der wirtschaftlichen Macht Amerikas die Legitimation entzogen.« Der Wirtschaftseinbruch untergrabe nicht nur »Amerikas Glaubwürdigkeit«, künftig wird es auch »mühsamer sein, der Welt amerikanische Ideen zu verkaufen.«
Im günstigsten Falle wird die Wirtschaftskrise diese kontinentale Drift in Richtung Osten kurzfristig verlangsamen. Entscheidend stören oder gar aufhalten wird sie sie aber nicht. Zwar bleiben auch China und Indien von der Krise auf den Finanzmärkten nicht ganz unberührt. Doch werden sie diese, anders als der Westen oder die Erdöl und Rohstoffe exportierenden Länder, relativ unbeschadet überstehen, weil sie auf diesen Risikomärkten nur eine kleine Rolle eingenommen und keine großen Mengen toxischer Papiere angehäuft haben, die die restlichen Länder jetzt in die Knie zwingen. Ohne die massiven Stützungskäufe des chinesischen Staates oder die finanziellen Zuwendungen chinesischer Investoren, die Amerikas Schuldenmacherei abgefedert haben und weiterhin abfedern, wäre die älteste Demokratie längst bankrott.
In nur zehn Jahren, von 1995 bis 2005, ist das amerikanische Handelsdefizit gegenüber dem »Reich der Mitte« von 34 Milliarden US-Dollar auf über 200 Milliarden US-Dollar angewachsen. Es hat Devisenreserven in Höhe von 2 Billionen Dollar angehäuft. Und mit knapp zehn Prozent der in Umlauf befindlichen Schatzbriefe, ist China mittlerweile der größte Gläubiger Amerikas. Niall Ferguson, britische Historiker an der Harvard University hat dafür ein neues Schachtelwort geprägt. »Chimerika« nennt er die Beziehung, die beide Staaten miteinander eingegangen sind. Während die Chinesen das Sparen übernähmen, übernähmen die Amerikaner das Ausgeben.
Dass die neue amerikanische Außenministerin zunächst nach Asien gereist ist, nach Tokio und Beijing und nicht nach London, Berlin oder Paris, spricht Bände. Und dass Frau Clinton dort nicht mehr von Rivalität und Konfrontation sprach oder auf die Einhaltung von Menschenrechten pochte (Security and Opportunity for the Twenty-first Century), sondern wie Richard Nixon vor fünfunddreißig Jahren Gemeinsamkeiten betonte und vom Brückenbauen sprach, spricht für den neuen Realitätssinn, der in Washington mittlerweile Einzug gehalten hat.

Gut aufgestellt
»Der Aufstieg der Anderen«, so der deutsche Titel von Zakarias Buch, muss aber nicht unbedingt den Abstieg der Supermacht zur Folge haben. Obgleich sie hoch verschuldet sind, die Sparquote seiner Bürger äußerst gering ist und Schlüsselindustrien wie die Autoindustrie, das Stromnetz oder die Mobilkommunikation total veraltet sind, nehmen die USA nach wie vor eine herausragende Position im weltweiten Ranking der Nationen ein. Sie sind nicht nur die wettbewerbfähigste Nation der Welt und jederzeit in der Lage, Fehler zu korrigieren und sich an neue Gegebenheiten (siehe Klimawandel und Solartechnik) schneller anzupassen als die bürokratielastigen Nationen Europas. Auch auf militärischem Gebiet könne kein Land der Erde den USA das Wasser reichen. Daran ändere auch der Irakkrieg oder das Afghanistan-Abenteuer nichts, die trotz der hohen Kosten das Bruttosozialprodukt der USA kaum tangierten.
Gleiches gelte für den Bereich der Zukunftstechnologien. Sowohl im Nanobereich als auch auf dem Gebiet der Agrartechnik und Biotechnologie sei das Land führend. Noch befänden sich acht von zehn Universitäten unter den Top Ten; und noch stünden die klügsten Köpfe, Begabungen und Talente Schlange, um dorthin berufen zu werden oder dort unterrichten zu dürfen. Hinzu kommt, dass Amerika die offenste, dynamischste und flexibelste Gesellschaft der Welt habe. Sie sei demografisch vital und mobil und habe auch kein Alterungsproblem. Trotz manch ethnischer Probleme, schafften die USA es immer wieder, die unterschiedlichsten Kulturen, Rassen und Religionen aufzunehmen und zu integrieren. Allein die Bewerbung und die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten zeige, dass der Amerikanische Traum nach wie vor wie funktioniere.

Echte Probleme
Wirtschaftlich, sozial und kulturell hätten die USA allerdings ihre Strahlkraft und Ausnahmestellung längst eingebüßt. Die mächtigsten Unternehmen, die reichsten Menschen oder die bekanntesten Persönlichkeiten operierten oder lebten in Malaysia, Brasilien, Indien oder China. In diesen wirtschaftlich aufstrebenden Staaten sei weit über eine Milliarde von Menschen in Bewegung und dabei, ihre vormalige Armut abzustreifen. Wichtige Nachrichten, Informationen und Daten entnähmen sie nicht mehr CNN, BBC oder der NYT, sondern AL Jazeera,
NDTV oder Telesur. Dadurch würden die Menschen mit alternativen Weltsichten, Lebensentwürfen und Erzählungen konfrontiert, die den westlichen häufig widersprächen oder ihnen diametral entgegenstünden. Schließlich wanderten auch wichtige Unternehmen ab. Während sie ihre Stützpunkte in dynamischere Gegenden verlegten, übernähmen arabische, asiatische oder russische Konzerne Aktienpakete, Anteile oder ganze Firmensparten von US-Unternehmen.
Noch rangiere das Land politisch zwar weiter unangefochten an der Spitze. Es ist in allen wichtigen Gremien vertreten und kann durch sein Veto jederzeit Verträge und Beschlüsse der anderen torpedieren. Das muss aber nicht immer so bleiben. Entscheidend für die Vorherrschaft Amerikas wird sein, ob es dem Land gelingt, auf das Emporkommen der restlichen Welt, dem nach der Entdeckung Amerikas um 1500 und die Entwicklung des Landes zur alles beherrschenden Macht im 20. Jahrhundert dritten einschneidenden Ereignis der Neuzeit, politisch und wirtschaftlich überzeugende Antworten zu finden.

Politisch engstirnig
Zakaria scheint hinsichtlich dessen wenig optimistisch zu sein. Damit die USA siegreich aus diesem verschärften globalen Wettbewerb hervorgehen, fehle es ihnen an politischer Klugheit und Führung im Land. Vor allem bei den politischen Eliten des Landes vermisse er ein solches Bewusstsein. Sie wollten nicht wirklich verstehen, was da auf das Land zurollt. Statt sich diesen Herausforderungen zu stellen, ihnen offensiv zu begegnen und politische Weitsicht zu zeigen, vergeuden sie ihre Kräfte in ideologischen Kleinkriegen und parteipolitischem Hickhack; statt Siegermentalität und Leidensfähigkeit der Bürger zu wecken, auf die das Land einst so stolz gewesen ist, und den Amerikanern klarzumachen, dass Verzicht auch heißen kann, später dafür belohnt und entlohnt werden, übe man sich in Washington verstärkt in Rollenprosa und medialem Theater.
Meinungsumfragen bestätigten das. Vier Fünftel der Amerikaner glauben ihr Land auf dem falschen Kurs. Noch nie hätten die Amerikaner, seit es Aufzeichnungen dazu gibt, so düster in die Zukunft geblickt. Und das nicht bloß wegen der Finanz- und Immobilienkrise, dem Irakkrieg, der Angst vor Terror oder der Rezession. Die Depression gehe viel tiefer. Ein Viertel aller Amerikaner habe keine Krankenversicherung, während die soziale Ungleichheit wachse. Gleichzeitig sinke das Vertrauen, dass die Politik bereit sei, die notwendigen Sozialreformen einzuleiten. Die brauche das Land aber dringend, will es weiter vorneweg marschieren.

Als besonders engstirnig präsentiere sich derzeit die Außenpolitik. Zwar möchte Washington weiter und überall über die Regeln befinden, nach denen die Welt zu verlaufen habe. An sie halten will die Weltmacht sich aber nicht. Durchzuhalten sei eine solche Politik auf Dauer aber nicht. Erst recht nicht in einer Welt, die mehrere Pole und Machtzentren besitzt. Sie wird nicht nur ständig Widerstände und Widersprüche hervorrufen und den Antiamerikanismus verstärken, in einer solchen multipolaren Ordnung nehme der machtpolitische Einfluss einer »einsamen Supermacht« naturgemäß ab.

»Globalisiert Euch«
Viel wird deshalb darauf ankommen, ob es der Supermacht gelingt, diesen Trend zu mehr Instabilität, Unordnung und Unsicherheit zu stoppen. Ist sie in der Lage, die auf- und widerstrebenden Kräfte und Mächte ins globale System zu integrieren und die strukturellen Verschiebungen von Wohlstand, Reichtum und Macht in eine Win-Win-Situation für alle zu verwandeln? Die Kapazitäten dazu hat sie zweifellos, meint Zakaria. Und das nötige Sendungsbewusstsein, um die sich verändernde globale Landkarte in ihrem Sinne zu gestalten und zu beeinflussen, auch. Nach wie vor sei sie die »unverzichtbare Nation«.
Die Frage ist nur, ob die politischen Eliten und die neue politische Führung den Willen und die Bereitschaft dazu zeigen und die nötige Kraft, Geschicklichkeit und Beharrlichkeit dafür aufbringen und die »postamerikanische Welt als neue Realität erkennen« werden. Das Fenster dafür stehe zwar offen. Vor allem, seitdem eine junge Politikergeneration mit Barack Obama an der Spitze das Weiße Haus erobert hat und ihre eher »kosmopolitische Weltsicht« in die US-Politik einbringen. Allerdings müsse das Land die Gelegenheit auch beim Schopfe packen und Obama erst beweisen müssen, dass er mehr kann als eindrucksvolle Reden zu halten oder die Welt an das Vermächtnis seiner Gründerväter zu erinnern. Damit das passiere, wäre aber laut Zakaria eine Frischzellenkur dringend nötig. Sie müsste dafür sorgen, dass Land, Politiker und Bevölkerung Mentalitäten, Haltungen und Grenzen öffnen und sich endlich selbst, wie sie es von allen anderen fordern, globalisierten. Mit »Buy American«-Parolen oder einer Politik nach Gutsherrenart werde man sicherlich keine Blumentöpfe gewinnen.

Neue Inseln der Modernität
Am relativen Verlust von Macht, Wohlstand und Alleinvertretungsanspruch hinsichtlich der Behauptung von Lebensformen, Werthaltungen und Wertüberzeugungen, wird das insgesamt aber wenig ändern. Zur »Ikonisierung“ des Westens, seiner Art zu denken, zu leben und zu handeln, gibt es wenig Anlass – auch wenn sie vom Westen weiter betrieben wird, um andere Staaten ideologisch zu schwächen.
Vielleicht sollte der eine oder andere, der das nicht glaubt, nicht nach New York, London oder Sydney reisen, sondern mal gezielt asiatische Städte anpeilen. In wenigen Tagen würde er merken, dass Asiaten sich dem Westen mitnichten unterlegen fühlen oder gar untertan sind. Selbstbewusst und selbstbestimmt vertreten sie ihre Denk- und Lebensweisen und sind stolz auf alle ihre Errungenschaften. Dort, in Hongkong oder Singapur, in Dubai oder in Shanghai, in Saigon oder Delhi, in Seoul oder Kuala Lumpur ist die neue Welt, das postamerikanische Zeitalter, bereits zu bewundern. Überall entstehen dort neue Inseln der Modernität, die den Geist der europäischen Moderne weiterentwickeln und fortschreiben – allerdings auf ihre Art.
Und die islamische Welt wird, wenn nicht alles trügt und das asiatische Beispiel Schule macht, diesem Aufbruch bald folgen. Zwischen Mittelmeer und Persischem Golf schreitet die Entwestlichung gar noch schneller voran als in Asien oder Süd- und Lateinamerika. Auch sie wird, wie der Iran in der Atomfrage bereits demonstriert, selbstbewusst und unnachgiebig ihre Werte, Interessen und politischen Ziele gegenüber dem Westen vertreten. Auch der Iran will und wird jenen Weg in die Modernität einschlagen, den China und Indien für sich gewählt haben. Die Atomfrage gehört mit dazu und ist daher für den Iran eine eminent wichtige Frage nationaler Souveränität. Warum sollte dem Land (oder einem anderen) verwehrt werden, was die USA und Russland, Israel und Frankreich, Großbritannien oder China quasi selbstverständlich für sich beanspruchen? Glaubwürdig wäre das nur dann, wenn diese paar Länder, die über Atomwaffen verfügen, ihrerseits darauf verzichten würden. Mit bekannter Haudraufpolitik wird der Anspruch des Irans und anderer Nationen weder zu lösen noch zu entschärfen sein.

Open End
Die alles entscheidende Frage wird sein, wie der Westen auf den globalen Prozess der Entwestlichung, den der Aufstieg der Anderen in Gang setzt, reagieren wird, kooperativ oder konfrontativ?
(The Rise of China and the Future of the West). Verfügen der Westen und seine Politiker über jene Kompetenz und jenes Geschick, aber auch über jenen Realitätssinn und über jene Klugheit, die etwa China und seine Führer in den letzten Jahren an den Tag gelegt haben, um diese globalen Herausforderungen und Konflikte zum Vorteil für alle Beteiligten werden zu lassen? Weisen sie das nötige geopolitische Fingerspitzengefühl, die entsprechende Weitsicht sowie die ideologische Flexibilität auf, um daraus eine Win-Win-Situation für alle zu machen?
Das Schachbrett (Zbigniew Brzeszinski), auf dem die geopolitischen Machtspiele ausgetragen werden, ist jedenfalls erheblich größer und komplizierter geworden als es das im letzten oder vorletzten Jahrhundert gewesen ist. Viele neue nicht-westliche Mitspieler haben ihr Mitwirken angekündigt. Allein ihre Vielzahl, aber auch ihr wirtschaftlicher Erfolg und ihr politisches Selbstbewusstsein haben dazu geführt, dass die alten Gefäße, der UN-Sicherheitsrat und der IWF, die G 8 oder die Nato, dafür längst zu klein sind. Sie sind vom ideologischen Gepäck des Westens überfrachtet und müssen davon entrümpelt werden.

Die Welt nach Ebenbilde des Westens zu formen, das funktioniert nicht mehr. Die Welt lässt sich nicht mehr verwestlichen, seitdem der Glaube an die Universalität seiner Zivilisation sich pulverisiert hat. Selbstbewusst demonstriert der »Rest vom Rest« und das sind ca. fünfeinhalb Milliarden Menschen, ihren eigenen Willen. Zu glauben, dass Asiaten, Afrikaner und Lateinamerikaner nicht in der Lage wären, eine stabile Weltordnung zu schaffen, zeugt von einer Arroganz und Geringschätzung, die dem Westen nach der Finanzkrise und den Ereignissen der letzten Jahre, gar nicht gut zu Gesicht steht.
 

Kishore Mahbubani
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