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Zum 5-jährigen Bestehen ist
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Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

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Wohlstandskindermelancholie

Lothar Struck über Judith Hermann und ihren neuen Band mit Erzählungen »Alice«

Rückblickend reibt man sich immer noch die Augen ob des Rummels den Judith Hermann 1998 mit ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Sommerhaus, später", auslöste. Die Kritiker stimmten Hymnen an. Warum? Hatten da die Väter das erste Mal erfahren, wie sich die Generation ihrer erwachsenen Kinder (oder ihrer Geliebten?) fühlte? In welcher Parallelwelt mußte man gelebt haben, um hier etwas zu "entdecken"? Oder hing es damit zusammen, dass man fast zeitgleich die (amerikanische) Kurzgeschichte (wieder neu) wahrnahm; Versuche, Carver und Cheever bekannter zu machen? Entsprechungen in der zeitgenössischen deutschen Literatur gab (gibt) es wenige, so dass die Koinzidenz von beiden Ereignissen vielleicht eine mögliche Erklärung ist.

Natürlich verstand es Hermann ganz gut den "Sound einer Generation" (Hellmuth Karasek) wiederzugeben. Knapp und präzise wurde da gepflegt Ereignislosigkeit zelebriert. Manchmal hart an der Grenze zur Banalität (vornehmer Iris Radisch: "…an der Grenze zur Anspruchslosigkeit"). Einige verwechselten das vorauseilend mit Lakonie. Der Literaturbetrieb nahm Hermanns Erfolg zum Anlaß, andere Autorinnen sozusagen als Backgroundbegleitung zu suchen und wurde natürlich schnell fündig. Jung, weiblich, kosmopolitisch, vor allem aber mit einer gehörige Portion Wohlstandskindermelancholie – fertig waren die "Fräuleinwunder" (wie sie früh ein bisschen despektierlich genannt wurden), deren Figuren somnambul durch das Leben taumelten und sich gleichzeitig mit einer (ziemlich erschreckenden) Coolness umgaben, ohne "cool" sein zu wollen. Nicht einmal zum Zynismus reichte es, wobei die Frage blieb, ob dieses Stadium schlichtweg übersprungen wurde. Und selbstredend wurde dem Erzählen eine gehörige Portion Bedeutung mit auf den Feuilleton-Weg gegeben und man scheute sich nicht nach den Jahren des Post 68er-Feminismus gerade diese gleichgültige Resignation (oder war es resignative Gleichgültigkeit?) auch noch als ganz besonderen politischen Akt zu deklarieren.

Pseudo-Coolness
So löste Hermann (ungewollt) eine Fülle von Büchern von Autorinnen aus, die man sich gut in den kunstlichtüberfluteten Warteräumen in Flughäfen oder einfach nur rauchend und schweigend mit nackten Füßen am See sitzend vorstellen konnte. Nicht zu vergessen: Da waren auch Projektionen insbesondere der männlichen Kritik dabei. Und wie gerne wollte man glauben, die Autorin verschmelze mit der Protagonistin – das ergab so etwas wie "Authentizität" (das neue Lieblingspferd der Literaturkritik, da die anderen Kriteriengäule ein bisschen lahm scheinen). Für ein oder zwei wohlwollend besprochene Bücher und ein paar Kolumnen in der "Zeit" oder im "Spiegel" reichte es allemal.

Judith Hermann tauchte in der Zwischenzeit fast ab und veröffentlichte erst fünf Jahre später ihr zweites Buch "Nichts als Gespenster". Das Klischee vom schlechteren Zweitbuch nach einem erfolgreichen Debüt schien zu stimmen: Der wuchtige Band (320 Seiten für sieben Erzählungen) fiel fast einhellig durch. Hermann wollte keine bloße Kopie ihres ersten Buches abgeben und hatte versucht nicht nur zu skizzieren, sondern ein ganzes Bild zu malen. Hierdurch wirkten die Erzählungen häufig altklug, der "Sound" von einer gewissen dialogischen Geschwätzigkeit verdrängt. Die charakterlichen Besonderheiten einiger Protagonisten wurden arg überorchestriert ("Im letzten Jahr sagte Jonas nach einer durchzechten Nacht den Satz 'Mir ist danach, in einem dunklen Keller zu sitzen und Trickfilme zu gucken in Schwarzweiß'. Jonina fand, dass es ihm sehr oft gelang, solche Sätze zu sagen, Sätze, die sie sofort verstand" – aus "Kaltblau"). So verflüchtigte sich ein wichtiges Element dieser Prosa: die Identifikationsmöglichkeit.
Pseudo-Coolness (wie schon in "Sommerhaus, später") plus Kauzigkeit ergab diese solipsistisch angelegten aber dann doch zu oft nur banal wirkenden Figuren. Der Rausch des (scheinbar) Neuen oder gar Exotischen aus dem ersten Band hatte sich verbraucht, zumal die Kritik auch ein bisschen ihre eigene Erwartungshaltung enttäuscht sah (was natürlich nicht zu Judith Hermanns Problem hätte gemacht werden dürfen). Der Furor einiger Verrisse hatte wohl auch den Hintergedanken, endlich diese Art von Literatur aus dem Kanon wieder zu entfernen (was nur teilweise gelang). Diejenigen, denen die Richtung nicht (mehr) passte, munitionierten sich, um mit dem Beschuß der Ikone gleich das ganze Genre zu treffen. Eine gängige Vorgehensweise bei Zeitgeistphänomenen; Katzen verlieren ja auch irgendwann die Lust, mit ihren Trophäen zu spielen.

Für mich waren beide Bücher etwas mehr als ein Lesevergnügen beispielsweise auf einer Bahnfahrt. Es gelang Judith Hermann in den besten Momenten, Stimmungen zu erzeugen. Aber was blieb davon nach der Lektüre? Ein paar Bilder im Kopf, vielleicht. Oder nur ein veritabler Kater wie nach einer durchzechten Nacht? Ich stellte mir die Frage, ob ich mit dem ein oder anderen Protagonisten eine Korrespondenz oder gar Freundschaft hätte beginnen wollen. Oder ob es beim schönen Abend geblieben wäre, weil man feststellt, dass man hat sich nach einer Stunde alles gesagt hat.

Ein Todesengel?
Nun also das dritte Buch, sechs Jahre später. Wieder ein Band mit Erzählungen, diesmal fünf (189 Seiten; mit deutlich grösserer Schrift). Jede Erzählung trägt einen Männernamen als Titel; Männer, die kurz vor dem Tod stehen oder gestorben sind. Alice ist der rote Faden in allen Erzählungen. In "Mischa" stirbt ein Freund und Alice ist mit Mischas Frau Maja und dem kleinen Kind des Paares vor Ort. Alice war vor Maja Mischas Geliebte. Mischa liegt in einem Krankenhaus in Zweibrücken; ansprechbar ist er nicht mehr. "Conrad", die Titelfigur der zweiten Erzählung, verstirbt kurz nachdem Alice ihn und seine Frau mit ihrer Freundin Anna und einem (virilen) Rumänien in seinem Haus an einem italienischen See besuchten. Conrad hat Fieber, kommt ins Krankenhaus zur Beobachtung, man verabredet noch etwas für den nächsten Tag, weil er hofft, bald entlassen zu werden -  und dann der überraschende Tod. Kluge Menschen machen den Literaturkritiker Reinhard Baumgart in der Figur des Conrad aus (und man fragt sich, was das ändert).

"Richard", der Mann einer Freundin, stirbt zu Hause im Hochsommer in Berlin. In "Malte" spürt Alice dem Tod ihres Onkels nach, der sich einen Monat vor ihrer Geburt im Jahr 1970 mit 23 Jahren tötete. Hierfür kontaktiert sie ihren anderen, zehn Jahre älteren Onkel, der sie besucht und ihr am Ende einen Ordner mit (Liebes-)Briefen Maltes an ihn übergibt. Und schließlich ist ein Jahr nach Richards Tod auch "Raymond" verstorben (man weiß nicht die Ursachen), Alices Freund. Am Ende hat man das Gefühl, Alice sei ein Todesengel. 

Man liest in Besprechungen zu diesem Buch, Judith Hermann erzähle (oder schreibe) über den Tod. Und tatsächlich scheint eine solch knappe Inhaltsangabe diesen Schluß nahezulegen. Es gibt eine herbeiphantasierte Melancholie, kunstvoll arrangierte Auslassungen, die den Leser ein bisschen gouvernantenhaft gewollt in Ungewissheiten zurücklassen und versteckte sexuelle Anspielungen, die einen sporadischen Lebenshunger vortäuschen (zornig und wüst, heruntergekommen ist das Höchste, was wir vom Besuch des Rumänen in Alices Zimmer erfahren und dann, am nächsten Tag, beim Ausziehen des Hemdes vor dem Schwimmen im See Bisswunden. Kratzer. Übersät von blauen Flecken und Anna hob die Hand vor den Mund, sie war tatsächlich erschrocken. Ach du lieber Himmel. War ich das? und der Leser weiß: nein).

"Zentrierte Leere"
Aber der Tod und die Sterbenden interessieren Alice und interessieren Judith Hermann überhaupt nicht. 
Die Sterbenden sind schon weit vorher gestorben. Sie werden reduziert auf die Frage was er denn für einer gewesen sei (dieser Satz fast übereinstimmend in zwei Erzählungen) oder wer diese tausend Bücher lesen soll, wenn Richard sie nicht mehr brauchte. Geschildert wird nur noch die Abwicklung dessen, was zwar noch Leben genannt wird, aber längst Zwischenzustand ist. So haben eines Tages Richard und Margaret den Tag für die Beerdigung festgesetzt. In drei Wochen. Und was, wenn Richard bis dahin nicht gestorben ist, sagte Alice. Oh, bis dahin wird er das geschafft haben, sagte Margaret. Fast sieht man diese Margaret vor sich, wie sie sich den Termin in ihrem Handy einprogrammiert. Der Tod als Termin wie ein Frisörbesuch. 

Alice hat nur einen flüchtigen Blick für den Sterbenden; sie besucht die Verbliebenen, für die sie sich aber auch nicht besonders interessiert. Annas Verhältnis zu Maja in den Tagen des Wartens auf Mischas Krebstod wird als zentrierte Leere beschrieben. Bloß nicht jemanden zu dicht heranlassen. Als sie selber "Witwe" wird, stopft sie schnell die Kleidung des Toten in den Müllsack, seine Bücher in den Karton für das Rote Kreuz und will ihr Auto verschenken, weil sie es nicht mehr braucht.

Es wird nichts sein heute sagt einmal ein Pfleger, und das hätte auch ein Gärtner sagen können, der nach Regen Ausschau hält. Alice fragt Raymond einmal, ob er lieber vor ihr sterben möchte oder nach ihr. So unterhalten sich Greise (auch wenn die Frage durch Raymonds Tod in der fünften Geschichte plötzlich opportun erscheint).

Weder von den Sterbenden (Gestorbenen) noch von ihrem Leben erfährt man etwas (außer in "Malte"). Es gibt höchstens ein paar Erinnerungen (aber eben keine Wieder-Holungen). Stattdessen Wahrnehmungen wie zum Beispiel die tausend Bücher, das Haus am See oder ein steinhartes, angebissenes Mandelhörnchen, welches Alice in einer Jackentasche von Raymond findet und dessen Herstellung und Vertrieb detailliert rekonstruiert wird (genau wie Form und Farben des Kopfsteinpflasters zu Richards und Margarets Haus). In einem Bett in einem Zimmer in dieser Wohnung in diesem Haus in dieser Straße liegt einer, den ich kenne, und stirbt denkt Alice einmal. Man beginnt zu ahnen, warum sich Menschen irgendwann einen Hund anschaffen. 

Und wieder die Beschreibungen, die Hermann diesmal mit Bedeutung zu spicken sucht: eine Spinne, die zwischen zwei Bierflaschen ihr Netz baut (und nun traut sich niemand mehr aus den Flaschen zu trinken); der Lichtfleck durch die heruntergelassenen Jalousien im Zimmer Conrads; Raymonds Tätowierung (die Letzten werden die Ersten sein) und das Versprechen Raymonds an Alice (auf deren Wunsch) ihr nicht zu sagen warum er sich diesen Satz in Schönschrift hatte auf den Arm tätowieren lassen; das Abschleppen von Alices Autos während sie mit Friedrich über Malte spricht; der Schuß Essig in die gekauften Erdbeeren – die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. 

Luxuriöse Lebensmüdigkeit
Scharaden für den Leser oder ist hier das Epische? Vielleicht auch nur Pose, gelegentlich bisschen arg aufgesetzt wirkend? Herausreden kann man sich damit, dass die/der auktoriale Erzähler(in) eben nicht Alice ist und nur die traumähnlich abgekapselte Atmosphäre berichtet wird. Aber dennoch stellt sich die Frage aller Fragen: Ob diese Beschreibungsprosa, die ausdrückt, was eine Figur macht oder nicht macht oder was sie sagt, Literatur ist. Wo ist die Doppelbödigkeit, die literarische Überhöhung, oder, um einen schrecklichen Begriff zu verwenden, die Transzendenz? Muss nicht Literatur deutlich mehr sein als die reine Wiedergabe, Beschreibung eines Gefühls, einer Stimmung, einer Handlung, auch wenn damit noch so gut eine Augenblicksatmosphäre eingefangen scheint?

Vielleicht möchte da auch jemand nur als Chronistin der emotionalen Lebensuntüchtigkeit einer Generation fungieren? Margaret sagte, Richard hat gesagt, ich bräuchte drei Jahre. Für was? Du braucht drei Jahre, dann wird es bessergehen. Und jetzt ist ein Jahr um, erst ein Jahr, ich bin weit entfernt davon, zu verstehen, wie er das gemeint hat. Statt Unfähigkeit zu trauern, eine Unmöglichkeit zu trauern. Man ersetze "Trauer" ruhig einmal durch "Empathie". Was bleibt ist nur eine Art Vermissen; kein Kummer um den Tod des Verstorbenen, sondern maximal Selbstmitleid um den erlittenen Verlust. In Wirklichkeit geht es um mich sagt Alice zu sich selber, als sie sich die Frage des Onkels vorstellt, warum sie ihn treffen wolle.
Plötzlich scheint in dieser fast panisch-sterilen Haltung zum Tod die Einstellung zum Leben gespiegelt. Noch einmal davongekommen zu sein stellt man nüchtern und lapidar fest, ohne zu wissen, warum das eigentlich so toll ist. Als Alice mit Raymond in der Kneipe um die Ecke ein Bier trinken geht, werden sie von einer Frau bedient, die Alice manchmal im Hausflur trifft. Sie fragten einander, wie geht's. Danke, ganz gut, Viel Arbeit. Immer viel Arbeit, keine Zeit, keine Zeit. Und natürlich ist dies für Alice vollkommen fremd, so dass sie fragt Zeit wofür eigentlich (und im Buch hat dieser Satz kein Fragezeichen). Es heißt dann noch, dass sie sich einig waren, dass sie nicht genau wussten wofür.

Und so ist dieses "Keine Zeit wofür" mehr als nur eine Floskel im Hausflur. Leicht umformuliert auf "Zeit – wofür?" und dann "Leben – wofür?" trifft man ziemlich genau die luxuriöse Lebensmüdigkeit dieser Protagonisten, die in der Regel bar jeder (Selbst-)Reflexion sind. Alles hätte sie anders machen müssen, nicht nur heute, sondern immer schon - die größte emotionale Wallung von Alice in diesem Buch. Es spricht Bände, dass ihr dieser Gedanke kommt, als sie auf dem Rückweg vom Picknick zum Auto darüber räsoniert, ob sie nicht vielleicht doch besser wenigstens einmal im See geschwommen wäre.

Man soll mir nicht erklären, dass das große Literatur ist. Aber ich habe das gerne gelesen. Vor allem im Zug. Lothar Struck

Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Judíth Hermann
Alice
Erzählungen
S. Fischer Verlag
192 Seiten, gebunden
Preis € (D) 18,95
ISBN 978-3-10-033182-3


Judith Hermann - Alice


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