Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home Termine Autoren Literatur Krimi Quellen Geschichte & Politik Philosophie Impressum & Datenschutz
Honoré de Balzac:
Berserker und Verschwender
»Glanz und Elend der Kurtisanen« gilt als das Herzstück in
Balzacs »Comédie humaine«. Nun hat es
Rudolf von Bitter neu übersetzt und entstaubt.
von Herbert Debes
Zwischen
dem 17 Jahre älteren Stendhal (Marie-Henri Beyle)
und
dem 22 Jahre jüngeren Gustave Flaubert bildet Honoré de
Balzac (1799-1850) die Mitte im Triptychon der großen
französischen Realisten des 19. Jahrhunderts.
Sein voluminöses Hauptwerk, das er in Anlehnung an Dantes
»Göttliche«, »Die menschliche Komödie« (»La Comédie humaine«)
genannt hat, blieb trotz seiner rund 90 fertiggestellten
Bände unvollendet.
Kolossales Fragment eines auf 137 Romane und Erzählungen
angelegten, in Sektionen unterteilten, weit verzweigten
Gesamtwerks, dessen Einzelbände zu einem Gewebe aus von
Roman zu Roman wiederkehrender Personen wurden.
»Von den rund 2.000 Personen, die in der Comédie humaine
ihren Auftritt haben, sind es insgesamt 593 Darsteller, die
mehrfach in Haupt- oder Nebenrollen in den einzelnen Werken
figurieren.«
(Willms, Balzac, S. 182)
Mit dieser literarisch revolutionären Idee einer vernetzten
Personage entwarf Balzac mit seinem psychologischen
Realismus ein opulentes Sittengemälde der französischen
Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als
deren Sekretär er sich bezeichnet hat:
»Der Zufall ist der größte Romandichter der Welt: um
fruchtbar zu werden, braucht man nur zu studieren. Die
französische Gesellschaft sollte der Historiker sein, ich
nur ihr Sekretär. Wenn ich die Inventur der Laster und
Tugenden aufnahm, wenn ich die hauptsächlichsten Daten der
Leidenschaften sammelte, wenn ich die Charaktere schilderte,
wenn ich die wichtigsten Ereignisse des sozialen Lebens
auswählte, wenn ich durch die Vereinigung der Züge vieler
gleichartiger Charaktere Typen schuf, so konnte es mir
vielleicht gelingen, die von so vielen Historikern
übersehene Geschichte zu schreiben: die der Sitten.«
»Glanz und Elend der Kurtisanen« bildet das Herzstück in
Balzacs ‚Comédie humaine‘. Mit der Julirevolution 1830 ist
die Monarchie in Frankreich geschlagen. Ein entfesseltes
Bürgertum übernimmt die Macht, und alles wird käuflich;
Liebe, Ansehen, Einfluss. Eine Gesellschaft entsteht, die
unserer heutigen in vielem ähnelt, bestimmt von Vergnügungs-
und Verschwendungssucht auf der einen Seite, durch
Einsamkeit und Armut auf der anderen.
»Balzac, den ich für einen weit größeren Meister des Realismus halte als alle Zolas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gibt uns in der ›Menschlichen Komödie‹ eine vortreffliche realistische Geschichte der französischen ›Gesellschaft‹, indem er in der Art einer Chronik fast Jahr für Jahr von 1816 bis 1848 die immer zunehmenden Vorstöße der aufsteigenden Bourgeoisie gegen die Adelsgesellschaft schildert.« (Friedrich Engels)
Glanz und Elend bei Balzac
Wer in die Zeit und das Leben des Honoré de Balzac
eintauchen will, der sollte die grandiose Biographie von Johannes Willms über den Berserker und Verschwender
lesen. Auf 350 Seiten erklärt Willms uns das Phänomen Balzac. Mit seiner
ausgeprägten Lust am Erzählen erzeugt Willms eine lebendige
Unmittelbarkeit zu Balzac, der zeitlebens über
seine Verhältnisse gelebt und gearbeitet hat. Der Schlüssel zum
Verständnis liegt für Willms dabei in Balzacs Kindheit und Jugend, die der junge
Honoré
größtenteils in Internaten und kasernenartigen Schulen verbringen mußte,
in die ihn seine Mutter abgeschoben hatte, die, zur mütterlichen Liebe
offenbar unfähig, das Kind als unzumutbare Belastung empfand.
Im Stile eines psychologischen Portaits führt uns Willms durch das
abenteuerliche Leben
des Romanciers, der uns die Erfahrungen anderer zwar meisterhaft schildern
konnte, für sein eigenes Leben daraus jedoch keine Lehren gezogen,
sondern zeitlebens daran geglaubt hat, daß sich der Schein im Sein verzinsen würde.
Zum einen lernen wir einen reaktionären, geltungssüchtigen Opportunisten
kennen, der, süchtig nach Ruhm und Reichtum, nichts unversucht läßt, in
der postnapoleonischen Gesellschaft Frankreichs, deren oberstes Gesetz
»enrichez vous!« (Bereichert Euch!) lautete, Karriere zu machen. Aber
auch einen liebenswert (?) unbelehrbaren Glücksritter, der sich
immer wieder rettungslos in hanebüchende Geschäftsideen verstrickt.
»Von Balzac kennt man alle Gewöhnlichkeiten, sie haben uns zunächst abgestoßen, doch dann hat man begonnen, ihn zu lieben, und nun lächelt man über all seine Naivitäten, die so ganz zu ihm gehören. Man liebt ihn mit ein ganz klein wenig in die Zuneigung gemischter Ironie, man kennt seine Wunderlichkeiten, seine Niedrigkeiten, und man liebt sie, weil sie ihn so genau charakterisieren.« Marcel Proust
Glanz und Elend liegen bei Balzac stets sehr dicht beieinander,
überlagern sich regelrecht, wobei der
Glanz selten Widerschein eines eigenen Leuchtens, vielmehr meist Abglanz eines Popanzes
ist, während das Elend in Form stetig steigender Schulden zunehmend existenzbedrohende Dimensionen erreicht. Es scheint, als wäre der
Schriftsteller Balzac, Alexis Sorbas und Don Quichotte in einer Person,
die Entelechie des ewigen (traumatisierten) Kindes, der, um sein
grandioses Werk zu schaffen, sein Leben, gemessen an bürgerlichen Maßstäben, glorreich verfehlen mußte, um es
vollenden zu können.
Zum
Gewinnspiel
Unter den
besten 50 punktbesten Teilnehmern verlosen wir jeweils
drei Exemplare:
Honoré de Balzac:
Vorrede zur Menschlichen Komödie
In der Übersetzung von
Hedwig
Lachmann
»Die erste Idee der
»Menschlichen Komödie« tauchte mir wie ein Traum auf, wie einer jener
ungeheuren Pläne, denen man liebevoll nachhängt und die man entfliegen
läßt; wie eine Schimäre, die lächelt, die ihr Frauengesicht zeigt, und
die alsbald ihre Flügel entfaltet, um in einen phantastischen Himmel
zurückzukehren. Aber die Schimäre wandelt sich wie viele Schimären zur
Wirklichkeit; sie übt eine Herrschaft und eine Tyrannei aus, der man
gehorchen muß.«
weiterlesen
Glanz & Elend - Magazin für Literatur und
Zeitkritik
Home
Termine
Autoren
Literatur
Krimi
Quellen Geschichte
& Politik Philosophie
Impressum &
Datenschutz