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Literatur und Zeitkritik


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Die nautische »L'éducation morale«
oder Männliche Ethik in höchster Gefahr

Joseph Conrads Roman »Die Schattenlinie« & die Erzählung »Der geheime Teilhaber«

Von Wolfram Schütte

 

Daniel Göske, der bei Hanser sich auch schon mehrfach für eine adäquate Wahrnehmung des großen Hermann Melville ins Zeug gelegt hat, ediert nun im gleichen Verlag seine Neuübersetzung von Joseph Conrads Kurzroman »Die Schattenlinie«. Ohne dass es erwähnt würde, überrascht der Editor & Übersetzer den Leser mit einer literarischen Zugabe: der  Erzählung »Der geheime Teilhaber«. Zwischen der Niederschrift der 1909 entstandenen Erzählung & dem fünf Jahre später begonnenen, aber erst rund zehn Jahre später beendeten «Bekenntnis« zur »Schattenlinie« gibt es eine enge autobiographische Beziehung. Beiden zugrunde liegt, was als ursprünglicher Titel des Romans gedacht war, nämlich das »erste Kommando« des 31jährigen Conrad als Kapitän eines dreimastigen Hochsee-Seglers. Es sollte aber auch das letzte Kommando des leidenschaftlichen Seemanns bleiben, weil er sich glücklicherweise für die Literatur entschied.

Ein weiterer Grund für das Conrad-Doppel bei Hanser ist die kritische Situation, in  der er  sich als ausgeschriebener, erschöpfter Schriftsteller um 1909 befand, als er an seinem, im Politikmilieu Londons spielenden »Geheimagent«, laborierte. Immerhin hatte er seit 1895 ein umfangreiches Oeuvre in ununterbrochener Reihenfolge & auf gleicher künstlerischer Höhe vorgelegt, das die Bewunderer des großen Stilisten heute für die Gipfelkette seiner Kunst halten: z.B. vom »Herz der Finsternis« über »Lord Jim« bis zu »Nostromo«. Nun aber »schien Conrad am Ende«(Göske)

Die Motivation, sich literarisch wieder den eigensten autobiographischen Kapitänserfahrungen mit dem »geheimen Teilhaber« zuzuwenden, kam als Reflex der bewundernden Resonanz zustande, die der Autor bei seinesgleichen ehemaligen seemännischen Berufskollegen in Ost-Asien gefunden hatte. Davon hatte ihm ein pensionierter neuseeländischer Kapitän berichtet. Und die nochmalige Rückbesinnung auf den Höhepunkt seiner  prägenden seemännischen Erfahrungen hatte einen anderen Grund:  eine bewußte Selbsttäuschung des Schriftstellers. Während des alle literarischen Fiktionen in Frage stellenden mörderischen Weltkriegs sah sich Conrad außerstande, »irgendwelche Märchen zu erfinden«. Jedoch die Arbeit der »exakten Autobiografie«, als die er »Die Schattenlinie« ansah, erlaubte dem Ethiker seine Schriftstellerei fortzusetzen, weil er ja nichts erfand, sondern alles Erinnerte »nur« aufschrieb.

Vor sich selbst betrachtete Conrad folglich diese autobiographische Selbstreflexion nicht als eine literarische Erzählung (tale) - wie z.B. »Youth«. Deshalb wollte er dieses »piece of writing« auch nicht zusammen mit anderen »tales«, sondern separat publiziert sehen. Durch den Untertitel »Ein Bekenntnis« & die Widmung für seinen kriegstauglichen Sohn »Borys und allen anderen, die wie er die Schattenlinie ihrer Generation in früher Jugend überquerten«, stellte sich der ältere Schriftsteller mit der erinnerten Darstellung seiner Passage über die »Schattenlinie« (von der omnipotent sich gerierenden Jugend zur Verantwortung erfahrener Männlichkeit) ebenso  beispielhaft wie demonstrativ an die Seite der jugendlichen Soldaten im 1.Weltkrieg.

Es dürfte die in vielerlei Hinsicht einzigartige Stellung dieser beiden Stücke in Joseph Conrads umfangreichem Oeuvre gewesen sein, die den Kasselaner Amerikanisten Göske zu ihrer Übersetzung & Edition gereizt hat. Wie schon bei seinen anderen Hanser-Klassiker-Ausgaben belässt er es aber nicht dabei. Vielfältige Anmerkungen, eine Zeittafel zur Biografie Conrads, ein Glossar der reichhaltig verwendeten nautischen Begriffe und Wendungen werfen über die beiden Primärtexte ein engmaschiges & weitreichendes sekundäres Textnetz. Dem verdanke ich auch die von dem Editor dargestellten & von mir skizzierten Zusammenhänge, Intentionen & historischen Hintergründe dieser beiden Prosastücke.

Daniel Göske sammelt in seinen umfangreichen Anmerkungen, neben semantischen Allusionen an die englische Bibelübersetzung & Shakespeares »Hamlet«, vor allem auch detailliert die faktischen Abweichungen Conrads bei seiner autobiographischen Evokation. Und da der Editor auch noch dessen Textstreichungen bei der ästhetischen Feinarbeit an der »Schattenlinie« minutiös vermerkt, ist der Leser gut beraten, wenn er primär erst einmal die  beiden Texte sich lesend aneignet – & dann erst sich daran macht, durch hin-& herblätterndes Nachforschen in dem von Göske freigelegten »Unterfutter« sich umzutun. Denn selbstverständlich »sprechen« die beiden Texte auch ohne ihre genealogische Fixierung für sich & zu uns heutigen Lesern.

Göskes bedeutendste übersetzerische Leistung besteht darin, dass er die semantisch-stilistische Differenz zwischen der kaltschnäuzigen Naßforschheit des jungen Kapitäns & der warmherzigen Bedachtsamkeit des älter gewordenen (& erfahrenen) Erzählers im Sinne des virtuosen Autors akzentuiert & nicht wie oft bisher eingeebnet hat – eine bewundernswerte stilistische Gratwanderung.

Es könnte bei der Lektüre aber von zusätzlichem Gewinn sein, die literarische Genese der »Schattenlinie«& die Intention des Autors zu kennen, um für das heute höchst ungewöhnliche Pathos des Romans  Verständnis zu entwickeln. Pathos (das gelegentlich in Pathetik verkümmern kann) gehört ja generell zu den besonderen prunkvollen Spezifika von Conrads Prosa. Es sieht so aus, als könnte das Pathos, mit dem die existenziellen Situationen in der »Schattenlinie« nicht selten rhetorisch bis ins Metaphysische aufgeladen scheint, der erwähnten identifikatorisch-bekenntnishaften Intention des Autors geschuldet sein. Wie der Crew auf dem Segelschiff seines ersten Kapitän-Kommandos versichert er zugleich den soldatischen Widmungsträgern, dass sie seiner »unvergänglichen Hochachtung wert« seien.

Die intendierte Parallelisierung seiner See- & der kollektiven Kriegserfahrung junger Männer, die gezwungen sind, »die Schattenlinie ihrer Generation zu überqueren«, evoziert der ältere Erzähler am paradigmatischen Fall des ursprünglich arroganten & unerfahrenen jungen Kapitäns. Er war im Golf von Siam mit seinem Segelschiff aufgrund einer naturbedingten Flaute & wegen seiner vernachlässigten medizinischen Vorsorge in  lebensgefährliche  Situationen geraten. Zum ersten Mal ist er allein für die marode fieberkranke Mannschaft auf dem geliebten Schiff verantwortlich. Weder ist er mit  der Mannschaft vertraut & bekannt, noch die zusammengewürfelte Crew mit dem jungen fremden Kapitän.

Individuell muß der namenlose Erzähler als junger Mann mit dem zurechtkommen, was Georg Lukacs in seiner zur gleichen Zeit entstandenen »Theorie des Romans« als »transzendentale Obdachlosigkeit« bezeichnet hat. Für Conrad (& seine Helden) besteht der irreparable Glaubensverlust in der fundamentalen Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz, die in eine menschenfeindliche Welt geworfen ist. In seiner konstitutionellen Einsamkeit als Verantwortlicher für die ihm Untergebenen & Anvertrauten ist der junge Fremde  jedoch auch auf den selbstlosen, praktischen, solidarischen Beistand seiner beiden Offiziere angewiesen: des herzkranken Stewards Ransome & des verstörten Burns, des 1.Offiziers. (Man fühlt sich im Verlauf des Romans einer individuellen & kollektiven Prüfung  fast ein wenig an das groteske Personal der Hawksschen Spätwestern »Rio Bravo« oder »El Dorado« erinnert, allerdings ohne deren Humoristik.)

Nirgendwo sonst in seinem maritimen Erzählwerk offenbaren Conrads bewusst gesuchte Assoziationen von Schiff & Unterstand, Crew & Kompanie, Kapitän & Offizier die strukturelle Nähe beider männlicher Lebens-, Berufs- & Ordnungsbereiche. (Interessant wäre es, Nähe & Ferne Joseph Conrads zum frühen Ernst Jünger zu erkunden.) Nirgendwo sonst in seinem Oeuvre als in der selbstreflexiven »Schattenlinie«  ist der Eindruck einer existenzialistischen Weltsicht & Ethik in der Erzählprosa des englischen Autors polnischer Herkunft stärker. Der Flaubert-Bewunderer Joseph Conrad hat mit »The Shadow-Line« gewissermaßen seine »L'éducation sentimentale« als eine »L'éducation morale« verfasst. Umso erstaunlicher, als meines Wissens weder Sartre noch Camus sich je zu ihrem tragisch-pessimistischen geistigen Vorläufer geäußert haben. 

Noch nie ist mir aber auch so evident geworden, wie substanziell für das humanistische Ethos des Conradschen Helden das Segelschiff ist. Denn nur das Segelschiff, weil es auf Gedeih & Verderb von Sturm, Wind & Flaute – also unmittelbar von der Natur – abhängig ist, kann Triumph & Niederlage,  Mut & List, Phantasie & Fertigkeit oder Verzagtheit & Fehlerhaftigkeit des (männlichen) Menschen mit der Intensität des Dramas  sinnbildlich vor Augen stellen: der einsame Mensch in direkter Konfrontation oder in kundiger Kooperation mit der übermächtigen Natur, ein stetiger illusionsloser Lebenskampf.

Artikel online seit 20.05.17

 

Joseph Conrad
Die Schattenlinie
Herausgegeben und übersetzt von Daniel Göske
C. Hanser Verlag, München 2017,
417 Seiten
30,00 €

Leseprobe

 


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