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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Musil umkreist

Leopold Federmair und Musils langer Schatten

Von Lothar Struck

"Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil gehört zu den epochalen Romane der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts und wird schnell in einem Atemzug mit Thomas Manns "Der Zauberberg", James Joyces "Ulysses", Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" oder Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" genannt. Dabei stehen Lektüre und Wertschätzung bei diesen Monumentalromanen oftmals in einem seltsamen Verhältnis. Kaum jemand wird zugeben wollen, einer dieser Werke (oder mehrere) nicht gelesen zu haben, obwohl es gerade bei den berufsmäßigen Lesern einen großen Anteil derer gibt, die zwar stets ein Zitat aus dem ein oder anderen "Jahrhundertext" parat haben – die gesamte Lektüre jedoch verabsäumt haben. 

Dies dürfte insbesondere für den "Mann ohne Eigenschaften" gelten. Und auch ich gestehe, dass meine Versuche, dieses Buch vor vielen Jahren zu lesen, scheiterten. Seit einiger Zeit finden sich zwar die Kindle-Versionen der beiden Bücher des Romans auf meinem elektronischen Lesegerät, aber zu einer Lektüre habe ich es bisher nicht gebracht. Kann ich dennoch zu Leopold Federmairs Buch "Musils langer Schatten", das auf einer intensiven und gründlichen Lektüre des Romans beruht, guten Gewissens etwas schreiben? Ist es überhaupt möglich, Federmairs Auseinandersetzung mit dem Roman, die von ihm gefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede beispielsweise zu Ernst Jünger, Rainer-Maria Rilke, Thomas Mann oder Hugo von Hofmannsthal entsprechend einzuordnen oder gar zu kommentieren?

Und es gibt noch einen anderen Grund für meine persönliche Sichtweise, denn Leopold Federmair steuert gelegentlich essayistische wie auch fiktionale Beiträge zu meinem Weblog "Begleitschreiben" bei. So findet sich in "Musils langer Schatten" neben sechs Essays auch die Erzählung Der Friedenskaiser, die vor einigen Monaten in einer leicht veränderten Fassung dort publiziert wurde. Sie handelt vom fiktiven Intellektuellen und späteren Schriftsteller András, der als eine Art Wiederkehrer von Musils Hauptfigur aus dem "Mann ohne Eigenschaften", Ulrich, erscheint und die im Roman nicht zustande gekommene "Parallelaktion" zur Feier des "Friedenskaisers" endlich umsetzen möchte. Erzählt wird aus Sicht eines Jugendfreundes, der András' schriftstellerisches und künstlerisches Wirken inzwischen aus der Ferne verfolgt; zu Begegnungen kommt es nur noch selten. Die Erzählung ist sehr dicht, fast episch und ein wenig surreal. András ist zwar ein Einzelgänger, der nicht nur mit sondern in der Literatur zu leben scheint aber auch eine Art Stefan-George-Attitüde an den Tag legt, in dem er Gleichgesinnte um sich versammelt. (Erstaunlich am Rande, dass dieser fiktiven Geschichte ein Detail zugeordnet ist, mit dem András dechiffriert werden könnte.)

Die zuweilen mystische Fiktion der Fortschreiber der "Parallelaktion" (wem will András eigentlich huldigen?) ist einer der sieben Texte, mit denen Federmair den Planeten "Mann ohne Eigenschaften" in zuweilen elliptischen Umlaufbahnen umkreist. Sehr interessant sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Thomas Manns "Zauberberg". Es war ja Musils Absicht den Roman mit Kriegsausbruch 1914 enden zu lassen – dies ist auch das Ende des "Zauberbergs"; ein Epochenende. Musils und Manns Ironie werden analysiert. War die "Parallelaktion" nur ein "groß angelegter Scherz" von Ulrich, dem "Paradeintellektuellen"? Über den Roman hinaus geht die Frage, wie beide Autoren die Homoerotik thematisieren? "Tod in Venedig" und "Tonio Kröger" hier, "Toerleß" dort. Und natürlich auch die Unterschiede zwischen den beiden: Mann, der akribisch an Sprache und Form feilende, der diszipliniert zum Abschluss kommt. Musil, der sich mit seinen Figuren verzettelnde, dem der "Möglichkeitsroman" über den Kopf wächst und der nie fertig werden wird.   

Ausführlich widmet sich Federmair auch Musils Verhältnis zu Hofmannsthal und Rilke. Beide verehrte er, aber seine Literatur ist dann doch ganz anders. Sie ist einerseits verkopft in dem sich Ulrich in unendlichen Reflexionen zu verfangen scheint, andererseits durchdrungen von mystischen Elementen. In konzentrierter Form kann man diesen Entrückungen, die auch eine latente Todesnähe evozieren, in Musils Erzählung "Die Amsel" nachspüren, worauf Federmair genauestens eingeht.

Natürlich ist Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, alles andere als eigenschaftslos. Er ist aggressiv, hochmütig, ironisch, empathielos und selbstverliebt; ein Misanthrop, der gleichzeitig voller Selbsthass ist. Sein Verhältnis zu Frauen ist besitzergreifend, er ist ein Sadist; heute würde er als "Sexist" bezeichnet werden. Gleichzeitig entsteht im Roman eine allerdings nicht vollzogene inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester. Federmair nennt ihn einen "Vetter des Mephistopheles" und scheut auch wenig später vor der Bezeichnung "Arschloch" nicht zurück. "Sobald der Intellektuelle auch nur bedenkt, was in den Köpfen des Pöbels vor sich geht, ist es um die Harmonie geschehen", bilanziert Federmair Ulrichs elitäres Weltbild und findet dafür einen an Heidegger anknüpfenden Terminus: "Konkaves In-der-Welt-Sein".

Federmair lässt keinen Zweifel daran, dass die Lektüre dieses Vorläufers der "Arschlochliteratur" der 1990er Jahre nicht einfach ist. Dabei camoufliert er seine Mühen, die am Ende so fruchtbar auch für den (bisherigen) Nichtleser sind, nicht mit triefendem Germanisten-Jargon. Trickreich wird es, wenn seine Lesart des Romans in die Gegenwart führt, das heutige Österreich (oder gar Europa?) zum Kakanien Musils wird, der Mensch der Moderne zum "Kakanier". Insbesondere der letzte Essay des Bandes erlaubt diese Deutung hin zum Aktuellen. Er ist mit "Erinnern und Vergessen im digitalen Zeitalter" überschrieben. Es handelt sich um kulturkritische Einwürfe, die die fortschreitende Digitalisierung und deren Auswirkungen auf soziale Interaktionen befragen. Im Unterschied zu den anderen Aufsätzen ist es kein stringenter Text, sondern besteht aus 25 Miniaturen auf 28 Seiten. Zehn dieser Texte wurden vor knapp zwei Jahren unter dem Rubrum Der Wald und die Bäume auf "Begleitschreiben" veröffentlicht (und zum Teil sehr facettenreich diskutiert). Neben den kritischen Einlassungen gibt es auch rein beobachtende Texte, etwa wenn seine siebenjährige Tochter auf dem Flughafen mit saudi-arabischen Kindern auf dem Tablet spielt.

Konstatiert wird unter anderem ein verstärktes "Wissen aus der Dose" – gemeint ist das Internet - was natürlich kein Wissen mehr ist, sondern nur ein Abrufen von Informationen. Dabei werden die Daten nicht nach qualitativen Gesichtspunkten im Netz aufgeführt, sondern folgen Algorithmen, die auch noch nach diffusen bzw. unbekannten Prioritäten programmiert sind. Ein eigenes Wissen, ein Denken in Zusammenhängen, weicht immer mehr diesem Adhoc-Nachschauen. Wenn der "User" weiß, wo er etwas findet, braucht er sich den Zusammenhang nicht mehr zu merken, sondern, so die Schlussfolgerung, übereignet das Denken der Maschine.

Auch wenn das menschliche Funktionsgedächtnis nicht mit dem archivähnlichen Suchmaschinen-Gedächtnis, in dem Datensätze ohne qualitative Kontrolle eingespeist sind, verglichen werden kann, ist der Befund letztlich zutreffend. Unbeachtet lässt Federmair dabei sogar noch die Tatsache, dass Suchergebnisse im Internet auch von den Einstellungen am Computer selber beeinflusst werden. "Prozessierung ist Personalisierung", so schreibt Roberto Simanowski in seinem Buch von der "Facebook-Gesellschaft". "Das Cookie" sei "die Negation des kollektiven Gedächtnisses". Weil die Resultate auf die gleichen Suchanfragen differieren, sind kollektive Narrationen schwerer oder gar nicht mehr möglich. Hinzu kommt die Gefahr der Filterblase (man bekommt am Ende nur noch das angezeigt, was man möchte) und, im Netz nicht ohne Belang, die üble Nachrede bis zur Denunziation, etwa wenn Unwahrheiten immer weiter verbreitet und damit entsprechend multipliziert werden.      

Die Autorität, die einst nur das Fachbuch oder die Enzyklopädie genoss, muss in der digitalen Welt stets neu erarbeitet werden. Daher verlangt eine Suche im Netz nicht weniger, sondern mehr hermeneutische Fähigkeiten und vor allem: die Fähigkeit zur Reflexion. Die Aussage "Das steht im Netz" ist als Legitimation für ein Argument oder Urteil noch fragiler als das einstige "Das steht in der Zeitung".

Keine Frage, die Einwände gegen die stetig fortschreitende Besitzergreifung des Digitalen und den Konsequenzen hieraus sind essentiell. Zuweilen wird jedoch dabei zu sehr die Rolle des passiven, den Techniken schutzlos ausgelieferten Individuums angenommen. Aber die oberflächliche Recherche eines Journalisten ist nicht die "Schuld" der Suchmaschine. Dass Menschen längere Texte immer schwieriger lesen und verarbeiten können ist kein Naturgesetz, dem man zu entsprechen hat, indem man tatsächlich nur noch Texthäppchen serviert. Und wenn, wie Federmair berichtet, Studenten immer wieder auf das Smartphone schauen, er aber gleichzeitig ein Nutzungsverbot dieser Geräte während der Vorlesungen ablehnt, dann braucht man sich über Aufmerksamkeitsdefizite nicht zu wundern. So dürfte weniger die fortschreitende Technifizierung des Raums das Problem sein als die Schicksalsergebenheit, mit der dies beklagt oder eben auch goutiert wird (etwa, wenn von der "Demokratisierung" und Enthierarchisierung die Rede ist – beides zeigt sich oft genug als Wunschdenken).

Was das mit Musil und seinem unvollendeten Roman zu tun? Zwei Versuche, Schatten zu sehen: Könnte man nicht die Parallelaktion, Ulrichs Huldigung des Kaisers, auf die heutige Zeit zu einer Referenz ex negativo auf die Epoche der Digitalität interpretieren? Und erscheint nicht sein Verzetteln, das Nicht-zum-Ende-Kommen nicht wesensverwandt zum heutigen "Surfer" im Internet, der sich im World Wide Web verliert, von Link zu Link an- und abgetrieben wird, verheddert und am Ende alleine ist mit der Fülle seiner Ergebnisse, nicht zwingend wissend, ob er der "Wahrheit" näher gekommen ist oder ob er noch den nächsten oder übernächsten Klick hätte versuchen müssen? Vielleicht ist es an der Zeit, den "Mann ohne Eigenschaften" endlich zu lesen.

Artikel online seit 22.08.16

 

Leopold Federmair
Musils langer Schatten
Klever Verlag

210 S. 13,7×21. Klappenbroschur
€ 22,-
978-3-903110-08-3


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