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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Gottesgeschenk

Die jüngsten Ereignisse in der Türkei als Wiederholungstäterschaft

Von Wolfram Schütte

 

Was wir in den letzten Jahren & nun erst recht  in diesen Tagen in der Türkei erleben, gleicht aufs Erstaunlichste einer zeitgenössischen Wiederholung  dessen, was uns aus unseren Geschichtsbüchern über die letzten Jahre der Weimarer Republik & der »Machtübernahme« der NSDAP bekannt gewesen war.

Marx unterstellt im »Achtzehnten Brumaire«, dass »weltgeschichtliche Tatsachen und Personen«, wenn sie sich laut Hegel wiederholten, »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce« erscheinen würden. Er vergaß über dieser ironischen Pointierung der gesellschaftspolitischen Wiederholung, dass beim zweiten Mal auch aus dem ersten Mal gelernt worden sein könnte oder aber auch eine farcenhafte Tragödie möglich wäre. So etwas erleben wir derzeit am Anfang des 21. Jahrhunderts in der Türkei.

Derzeit wird gewissermaßen mit dem höhnischem Grinsen des Hegelschen Weltgeistes ein »weltgeschichtlich« Vergangenes uns zur Wiedervorlage vor Augen geführt – damit wir den unabsehbaren Schrecken nicht nur aus den Büchern der Geschichtsschreiber kennen, sondern (wie es heute gerne heißt) »hautnah« als Zeitgenossen miterleben können.

Wie die europäischen Demokratien damals ohnmächtig & tatenlos zusahen, als aus der Weimarer Republik nach dem Reichstagsbrand die nationalsozialistische Diktatur wurde, so folgen wir heute entsetzensstarr dem Prozess der (muslimischen) Klerikalfaschisierung des NATO-Partners Türkei, der zeitgleich einen mörderischen Bürgerkrieg gegen die Kurden führt (von dem wir keine Bilder haben & bekommen), während diese und andere mit verheerenden Bombenattentaten in Ankara & Istanbul darauf »antworten«. Und mit diesem Terror, wie schon in Ägypten & Tunesien, eine der bisherigen türkischen  Haupteinnahmequellen, den Tourismus der »Ungläubigen«, zum Erliegen bringen, in der nicht ganz unsinnigen Hoffnung, den Staat & jegliche liberal-demokratische Pluralität nachhaltig zu schwächen. (Wozu früher die Artillerie benötigt wurde, den Feind aus der ballistischen Distanz »übergabereif zu schießen«, das soll heute mittels Glaubensinstrumentierung von willigen Selbstmordattentätern zum langfristigen Erfolg führen.)

Wie es in den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht wenigen bürgerlichen Politikern der demokratischen Staaten durchaus recht war, dass ein starkes antikommunistisches Deutschland als ideologisches & militärisches »Bollwerk« gegen die UdSSR  sie selbst zu schützen schien, so hielt sich die EU - & an ihrer Spitze das Ton angebende Deutschland – mit nachhaltiger Kritik an der schon geraume Zeit laufenden Erdoganisierung der Türkei zurück.

Die deutsche Regierung tat das nicht nur wegen möglicher innenpolitischer Verwerfungen bei einem nicht unbeträchtlichen Kreis ihrer Erdogan affinen türkischstämmigen Mitbürger: ein virulentes  Problem, das die Deutschen, wie sich kürzlich offenbarte, auch mit ihren »Russlanddeutschen« haben, die Putins Propaganda-Medien mehr glauben als den  einheimischen Medien. (Eine autoritäre Fixierung, die sich fortsetzt, wie man sie jedoch bei den sogenannten jüdischen »Kontingentflüchtlingen« aus der ehemaligen UdSSR nicht findet.)

Schon als die deutsche Regierung erlaubte, dass Erdogan in Deutschland türkischen Wahlkampf führte & selbstherrlich erklärte, »Assimilation ist ein Verbrechen«, hatte sie zu dieser entschiedenen innerdeutschen politischen Einmischung des Autokraten geschwiegen. Wieviel größer ist aber nun die politische & diplomatische Bredouille, in der sich das »vermerkelte« Europa befindet, das mit Erdogans Türkei ein Abkommen geschlossen hat, bei  dem für europäische Milliardenbeträge sich die Türkei verpflichtet, die von ihr bislang bewusst geduldete Flüchtlingsroute über die Ägäis zu verstopfen.

Je autoritärer, militaristischer, intransparenter die Türkei aber wird, desto effektiver kann sie ihrer Rolle als brutaler Türhüter Europas erfüllen. Die EU (von Deutschland schulmeisterlich dominiert) wird solange scheinheilig den humanistischen Saubermann spielen wollen, solange ihr die Türkei die Schmutzarbeit als rigider Grenzwächter abnimmt. Und Erdogan wird das einträgliche Schutzgeld-Geschäft mit den Europäern, die ja selbst vielfältig dabei sind, ihre eigene Europa-Utopie politisch ad acta zu legen, selbst dann fortsetzen, wenn entschiedenere verbale Kritik aus Brüssel oder Berlin geäußert würde.

Das hat er schon angekündigt, als er vor seinen fanatisierten Anhängern verbal Öl ins  lodernde Feuer goss, indem er der (bzw. aller) Welt verkündete, wenn die Türkei die Todesstrafe für Landesverrat wieder einführe, stehe das allein in ihrem Belieben, niemand habe da etwas der Türkei vorzuschreiben. Das europäische Lamento & deren diplomatische Widerreden sind ihm, wie schon bisher, nur Schall & Rauch, seit er jederzeit mit der Geißel der Flüchtlinge nur zu drohen braucht, damit er zuhause machen kann, was er will.

Was aber, wenn nun türkische Oppositionelle in Europa Zuflucht vor Erdogan suchen – wie einst deutsche Intellektuelle vor Hitler in der Türkei? Hätten nicht alle politischen Gegner Erdogans hinreichend verständliche Flucht-& Emigrationsgründe, weil sie eine antidemokratische Türkei für vogelfrei erklärt, bzw. sie realiter bedroht? Wie die Deutschen damals mehrheitlich einverstanden waren mit dem, was ihren jüdischen Mitbürger angetan wurde, so akzeptieren, wenn sie es nicht sogar fordern die fanatisierten Erdogan-Anhänger, was mit allen ihren Mitbürgern derzeit geschieht, die von Erdogan & seinen willigen Helfern für »oppositionell« gehalten werden: Berufsverbot, Entlassung oder Verhaftung.

Der dilettantisch misslungene Putschversuch wurde schon als türkischer »Reichstagsbrand« bezeichnet. Mit dem Reichstagsbrand in Berlin 1933 hat der Putschversuch in Ankara & Istanbul zumindest eines gemein: die Initialzündung für den »Putsch von oben« zu sein. 

Was Erdogan – zum Entsetzen der EU – nun exekutiert, ist die systematische, tiefgreifende, nicht revidierbare, logistisch schon penibel vorbereitete Liquidation der zentralen gesellschaftlichen Säulen einer demokratischen Verfassung (wie Justiz, Presse, Schulen & Universitäten). Der Weg in die Diktatur eines Führers & seiner Parteigänger gleicht aufs Haar dem deutschen Vorbild. Dass es eines ist, hatte kürzlich einer von Erdogans Kumpeln öffentlich gemacht, als er die »Bewunderung für Hitler« einbekannte. Man hat den Dummkopf, der das offene Geheimnis der systematischen Nachfolgeplanung ausgeplaudert hatte, eiligst zurückgepfiffen – obwohl ja in Europa keiner seiner Politiker über dieses unverhofft offene Geständnis hellhörig geworden ist.

Jetzt, wo der Putsch dem Gläubigen Erdogan als »ein Gottesgeschenk« erschien, wie dem mythomanischen Hitler der brennende Reichstag als ein «Geschenk der Vorsehung« vorgekommen sein mochte, konnten beide die symbolträchtigen Ereignisse dazu benutzen, jeweils als verfolgte Unschuld »drakonisch durchzugreifen« oder zu »säubern«, um den Staat auf Anhieb totalitär in ihre Gewalt zu bringen; und mit der rechtlichen Möglichkeit, in der »bedrohten Demokratie« den »Ausnahmezustand« zu verhängen, die Demokratie selbst so nachhaltig auszuhebeln, dass von ihr nichts mehr übrig blieb als ein total entkerntes Aushängeschild. Es simuliert »Demokratie«, wo es de facto doch einzig den autoritären Führerstaat mit dem ungebremsten Terror der Volksmehrheit gegen jegliche Minderheit meint.

Es braucht keine »Verschwörungs-Theorie« über die jeweiligen »Hintermänner« & eventuellen »Drahtzieher« des Berliner Reichstagsbrands, des türkischen Putschversuchs oder – wie zur Festigung des aggressiven Putinismus – der massenmörderischen Attentate auf russische Wohnhäuser. Ob die Nutznießer einer Bedrohung nur durch Zufall einen willkommenen Vorwand fanden oder ihn täuschend ähnlich simulierten, ist so gut wie gleichgültig im Hinblick auf dessen folgenreiche Instrumentalisierung. Die Verschwörungs-Praxis der »Macht-Ergreifung« in allen drei Fällen genügt für die evidente Erkenntnis einer  Wiederholungstäterschaft – zu deren hilflos dabei stehenden & darauf starrenden Zeugen wir wurden. Auch das gehört zu der deprimierenden Wiederholung der europäischen Geschichte: jetzt

Artikel online seit 26.07.16

 
 


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