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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Über das moralische Wesen des Menschen

Michael Tomasellos »Naturgeschichte der menschlichen Moral«

Von Timotheus Schneidegger

Ethik wird empirisch

Wenig gnädig blicken Marx und Engels in der »Deutschen Ideologie« auf die hiesige Unfähigkeit zur Geschichtswissenschaft. Am beharrlichen Verkennen der materiellen Bedingungen des Lebens und also der Geschichte zeige sich, »wes Geistes Kind die große historische Weisheit der Deutschen ist, die da, wo ihnen das positive Material ausgeht und wo weder theologischer noch politischer noch literarischer Unsinn verhandelt wird, gar keine Geschichte, sondern die ‚vorgeschichtliche Zeit‘ sich ereignen lassen, ohne uns indes darüber aufzuklären, wie man aus diesem Unsinn der ‚Vorgeschichte‘ in die eigentliche Geschichte kommt – obwohl auf der andern Seite ihre historische Spekulation sich ganz besonders auf diese ‚Vorgeschichte‘ wirft, weil sie da sicher zu sein glaubt vor den Eingriffen des ‚rohen Faktums‘ und zugleich, weil sie hier ihrem spekulierenden Triebe alle Zügel schießen lassen und Hypothesen zu Tausenden erzeugen und umstoßen kann.« (MEW 3, S. 28f.)

171 Jahre nach der Frühschrift von Marx & Co. ist die Affirmation unter Rückgriff auf eine nur als Spekulation verfügbare Vorgeschichte nicht nur in Deutschland mehr denn je en vogue. Ein vulgäres Viertelverständnis von Neurobiologie und Evolutionstheorie lässt es jedem BILD-Leser unmittelbar einleuchten, warum Männer nicht zuhören und Frauen nicht einparken können. Auch das Lehrerzimmer erspart sich die Auseinandersetzung mit dem persönlichen und strukturellen Sexismus durch den Verweis auf die Jäger und Sammler, die wir alle immer noch und im schulpflichtigen Alter ganz besonders seien: Die »naturgemäß« schlechten Noten von Mädchen in den MINT-Fächern würden durch ihre überragenden Leistungen in Kunst und Sprachen ausgeglichen, die sie ihren Ahninnen zu verdanken hätten. Die vertrieben sich am Lagerfeuer tratschend und bastelnd die Zeit bis zur Rückkehr der Männchen, die sich im Freien zu orientieren, auf der Pirsch zu schweigen und gegen andere und einander durchzusetzen verstanden.

Man darf also rechtschaffen alarmiert sein, wenn sich der naturalistisch fehlschließende Reduktionismus nach seiner neuro- und evolutionsbiologischen Absolution allerhand Chauvinismen nun die Moral vornimmt. Der in Leipzig lehrende US-amerikanische Verhaltensforscher Michael Tomasello hat »Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral« vorgelegt.

Vielen Kapiteln ist darin ein Zitat von Jean Piaget oder George Herbert Mead vorangestellt. Deren spekulativ-empirische Methodik übernimmt Tomasello und folgt Ernst Hackels biogenetischer Grundregel, wonach an der Ontogenese die Phylogenese ablesbar ist. So, wie Piaget und Mead ihre Theorien über die Entstehung der verschiedenen Grammatiken auf Untersuchungen des Spracherwerbs von Kindern gründeten, stützt sich Tomasello bei seinen Spekulationen über die frühmenschliche Entwicklung der Moral auf Studien des Sozialverhaltens von Kindern und Menschenaffen. Seine »Naturgeschichte der menschlichen Moral« überschüttet die Leserin geradezu mit faszinierenden Verhaltensexperimenten, die seine Theorie über die Entstehung der Moral untermauern.

Tomasello folgt der wissenschaftlichen Form, etwa indem er seine Hypothese in der theoretischen Landschaft verortet und nicht mit Querverweisen spart. Manche spieltheoretische Settings wie Hirschjagd und Ultimatumspiel werden als bekannt vorausgesetzt. Dennoch ist das Buch wegen seiner luziden Argumentation und plastischen Beispiele auch für interessierte Laien gut lesbar.

Redlicherweise hält Tomasello mit der Angreifbarkeit seiner Methodik nicht hinter dem Berg und schlägt seine Theorie über die Entstehung der Moral als »Interdependenzhypothese« vor. Er wirft 2.500 Jahre philosophischer Reflexion nicht mit großer Geste aus dem Fenster. Für Fragen der Intersubjektivität nimmt er Martin Buber und Axel Honneth zur Hand, zur Entstehung sprachlich vermittelter gesellschaftlicher Institutionen John Searle und bei den Theoretikern des Gesellschaftvertrags (Hobbes, Hume, Rousseau) findet er oft schon formuliert, was seine empirischen Beobachtungen bestätigen. Nicht zuletzt nutzt Tomasello die Moralphilosophie zur forschungsleitenden Begriffsklärung.

Altruismus als evolutionär stabile Strategie

Tomasello beginnt seine Erzählung in der Vorgeschichte und endet mit der Sesshaftigkeit des »modernen« Menschen vor 12.000 Jahren. Der Frühmensch ist unter den schwierigen ökologischen Bedingungen, in die er als Mängelwesen geworfen wurde, »obligat interdependent«, das heißt er ist auf Zusammenarbeit in allen Bereichen der »Produktion des materiellen Lebens selbst« (Marx/Engels) angewiesen.

Der Mensch ist nicht nur in der Nacht nicht gern allein, er ist von Geburt an darauf ausgelegt, sich in einen sozialen, kulturellen Kontext einzufügen, wie Experimente zeigen, bei denen Kleinkinder es bevorzugen, gemeinsam tätig zu werden statt alleine, und ganz selbstverständlich teilen. Ganz anders ist die einzelgängerische Primatenverwandtschaft drauf, deren Angehörige nur zufällig zusammenarbeiten oder wenn sie einen persönlichen Vorteil davon haben.

Die skeptische Leserin hat nun vielleicht einerseits das einander friedlich lausende Schimpansenrudel vor Augen und andererseits den misanthropen Hagestolz, der Falschparker anzeigt und Nachbarschaftsstreitigkeiten schürt. Tomasello, der einen großen Teil seines Forscherlebens mit der Beobachtung von Schimpansen verbracht hat, arbeitet daher genau aus, was die zugrundeliegenden psychologischen Mechanismen und die entwicklungsgeschichtlichen Konsequenzen der obligaten Interdependenz des Menschen von der im Tierreich weit verbreiteten Reziprozität und Rudelbildung unterscheidet.

Der Vulgärdarwinismus hält altruistisches Handeln für eine bloße Illusion, die über den Egoismus des persönlichen Genpools hinwegtäuscht. Seine Vertreter sind sich nicht zu schade, den Sicherheits- und Rettungskräften, die überall auf der Welt ihr Leben für andere aufs Spiel setzen, zu unterstellen, sie machten es nur für das Geld und damit mittelbar für die Weitergabe ihrer Gene.

In eine notwendige gegenseitige Abhängigkeit gestellt, ist dem Frühmenschen prosoziales Verhalten ein evolutionärer Vorteil. Ein Individuum hat Interesse am Wohlergehen seiner sozialen Gruppe, also investiert es in sie – unter Umständen sogar bis zum Äußersten. Diesem »Stakeholder-Modell« gegenseitiger Abhängigkeit folgt auch Tomasello, gerät aber erst da in Fahrt, wo der Vulgärdarwinist mit dem Denken aufgehört hat: Denn eine – für eine Ausnahme oder Abweichung viel zu große – Zahl von Menschen investiert auch und vor allem in soziale Gruppen, deren Mitglieder kaum oder gar nicht mit ihnen verwandt sind. Auf genetischen Darwinismus reduziert wäre das unlogisch.

Tiere allerdings helfen einander so, wie der Vulgärdarwinist sich das vorstellt, und reagieren auf »Betrug« und »Diebstahl« taktisch: Ist der Übeltäter stärker, wäre es dumm, sich mit ihm anzulegen, ist er schwächer, bekommt er eine Abreibung. Im Tierreich gibt es keinen Sinn für Fairness oder Gerechtigkeit, allenfalls unter direkten Verwandten wird der ständige Konkurrenzdruck etwas gezügelt. Menschen dagegen machen die Sache ihrer Gruppe zu ihrer eigenen, und zwar unabhängig von der Ähnlichkeit des Genpools. Ihre stabilen sozialen Strukturen bringen eine kulturell-moralische Identität hervor. Jenen anzugehören heißt sich mit dieser persönlich zu identifizieren, was über das Ausnutzen eines evolutionären Vorteils hinausgeht.

Das egoistische Gen in guter Gesellschaft

Das eigennützige Interesse an Zugehörigkeit zu und Stabilität von Sozialstrukturen bringt somit ein Verhalten hervor, das nirgendwo anders im Tierreich zu beobachten ist. Auch Affen (und Krähen) können sich in ihre Artgenossen hineinversetzen, etwa um sie zu übervorteilen, ohne einen offenen Konflikt zu riskieren. Beim Kampf gegen einen gemeinsamen Feind tun sie sich zusammen und sie merken sich genau, wer nett zu ihnen war und wer nicht. Menschenaffen erkennen die Hilfsbedürftigkeit oder Benachteiligung eines Artgenossen, unterstützen ihn aber nur, wenn für sie selbst etwas dabei herausspringt, wie diverse von Tomasello und anderen durchgeführte Experimente zeigen.

Der Mensch nutzt zwar die Kooperation mit anderen als Überlebensvorteil, die dafür notwendigen psychologischen Fähigkeiten (Kommunikation, Empathie, Perspektivwechsel, Fürsorge) machen es ihm aber zur Gewohnheit, sich selbst als einen unter Gleichen zu verstehen. In diversen Studien zeigen schon Kleinkinder die Fähigkeit, bei kooperativen Aufgaben die Vogelperspektive eines »wir« einnehmen zu können, in dem sie sich selbst als gleichwertigen Teil einer Arbeitsgemeinschaft betrachten, deren Mitglieder spezifische Teilaufgaben übernehmen und dadurch alle einen Anspruch auf die »Beute« erwerben.

Aus dem im Plural agierenden »wir« ergeben sich geteilte »Rollenideale«, die über bloße Individualstrategien hinausgehen. Jeder weiß, was er selbst und was alle anderen zu tun haben – und jeder weiß, dass alle anderen das auch wissen. So sind die Aufgaben vom spezifischen Individuum losgelöst – jeder kann für den anderen einspringen –, was zwei für die weitere Entwicklung entscheidende Nebeneffekte hat:

In der regelmäßigen Kooperation übt der Frühmensch den Umgang mit Rollenidealen ein und damit auch die Äquivalenz von »ich« und »du« im »wir«. Beim Zusammenhang von persönlicher und sozialer Identität folgt Tomasello Buber und Honneth: Ohne »du« kein »ich« und beide sind nur im »wir« zu haben: Anerkennung erfolgt durch die Einbeziehung in die Kooperation.

Das neutrale Rollenideal ermöglicht zweitens auch den fiktiven Rollentausch, der sich in paternalistischer Hilfe zeigt und recht bald auch in der Goldenen Regel als einem Vorläufer des kategorischen Imperativs, der schon Kleinkindern einleuchtet. Zum anderen entstehen geteilte Kriterien dafür, ob jemand ein sowohl kompetenter als auch prosozialer, und das heißt guter Kooperationspartner ist, mit dem man sich auch später mit Vorliebe zusammentun wird. Denn das »wir« entfaltet mit seinen Rollenidealen eine überpersönliche, bald schon objektive Autorität des Bewertens, das heißt des »Sollens«. Hier sind bereits erste Formen einer Moralität erkennbar, die Faulheit, Ungeschicklichkeit, unterlassene Hilfeleistung und Egoismus sanktioniert.  

Überwachen und Strafen

Der Frühmensch hat sich durch Paar- und Familienbildung quasi selbst domestiziert. Die Selbstzähmung war phylogenetisch selbstverstärkend: Wenn die Kooperation bei Nahrungsbeschaffung und Kinderaufzucht sowie die Prosozialität des Teilens und Helfens Überlebensvorteile sind, dann sind Tyrannen und Egoisten nicht nur bei der Partnerwahl benachteiligt.

Unfaires Verhalten löst unter Menschenaffen eine Empörung aus, die auf bloßem Neid basiert, beim Menschen jedoch darauf, dass es die Äquivalenz von »ich« und »du« im »wir« leugnet. Der Protest erinnert den Partner an sie und daran, dass seine Identität als Partner davon abhängt. Der prosoziale Frühmensch (und das zeitgenössiche Kleinkind) wird sich daraufhin entschuldigen, um sich zur Äquivalenz und zur fortgesetzten Kooperation zu bekennen.

Der Frühmensch, der seine Partner ohne Grund, der als nachvollziehbare Entschuldigung gelten könnte (zum Beispiel Krankheit oder Irrtum), übervorteilt oder im Stich lässt, fühlt sich auch dann schuldig, wenn er nicht erwischt wird, und erwartet im anderen Fall eine Strafe, wie er sie selbst verhängen würde. Sein Schuld- und Schamgefühl ist ein internalisierter Protest gegen den Bruch mit dem »wir«. Aus diesem »wir« ergibt sich eine Moralpsychologie des Frühmenschen als der Gesellschaftsvertrag, der nach Hobbes und Rousseau immer schon bestand und nur in der – beim Vulgärdarwinisten beliebten – philosophischen Fiktion des Naturzustands unbekannt ist.

Der weitere Weg ist damit auch schon gewiesen, was Tomasellos Spekulationsfreude den Schub verleiht, der zu manch übermutigem Stolperer führt.
Gruppen, deren Mitglieder sich prosozial und kooperativ verhalten, setzen sich erfolgreich gegen andere durch und wachsen zu Großverbänden heran. Lokale Usancen werden zu objektiven Strukturen, in die man hineingeboren und in denen man groß wird. Das Kooperationsgebot, gemeinsame Beute gerecht zu teilen, wird zum Gruppengebot, für alle Mitglieder zu sorgen.

In ihnen drohen Konflikte, die zu komplex für das vormoralische Gebot der prosozialen Kooperation sind, das zudem leichter zum eigenen Vorteil zu brechen ist, wenn die Zahl potentieller Partner, die noch nicht verprellt wurden, groß ist. Ab Gruppen von 150 Mitgliedern (die berühmte Dunbar-Zahl) ist auch das zeitgenössische Menschengedächtnis damit überfordert sich zu merken, wer sich an die Regeln hält und wer nicht.

Es entwickeln sich darum Formen sozialer Kontrolle, identitär besetzter Konformitätsdruck und kulturelle Konventionen, die die geteilte Intentionalität und Kooperation von einander nicht näher bekannten Mitgliedern einer »Kulturgruppe« sichern. Konventionen legen wie ein vergrößertes »wir« fest, was innerhalb der Kulturgemeinschaft »objektiv« als richtig und falsch gilt. Man weiß, was sich gehört, und ist peinlich darauf bedacht, Zugehörigkeit zu demonstrieren, indem man den Konventionen entspricht, Übertritte bestraft und sich für eigenes Fehlverhalten entschuldigt. Der delinquente Frühmensch antizipiert damit nicht bloß seine Strafe, sondern er bittet darum, nicht in Verruf zu geraten und verstoßen zu werden, indem er seine ungebrochene Identifikation mit den Konventionen seiner Gruppe bekundet, zu deren Apparat denn auch Formen von Reue, Buße und Sühne gehören.

Das Individuum gehorcht und straft aus Identifikation mit seiner Kulturgruppe und als ihr Ausdruck. Sie ist so stark mit der persönlichen Sorge um Reputation und Identität verknüpft, dass sie Eigennutz und sogar Selbsterhaltungstrieb außer Kraft setzen kann und bereits Frühmenschen sich jubelnd in eine aussichtslose Schlacht für die gemeinsame Sache stürzten.

Am Horizont sind bereits die Institutionen des Überwachens und Strafens erkennbar, von denen Tomasello aber noch nichts wissen will, wenngleich er die Freude am Aufstellen von Regeln und deren Sakralisierung auch schon dem Frühmenschen unterstellt.

Warum ist es so gewesen und nicht anders?

Tomasellos Erzählung über die Entstehung des Moralwesens Mensch gewinnt ihre Plausibilität aus den Studien frühkindlichen Sozialverhaltens, die seine Spekulationen untermauern und darüber hinwegtrösten, dass er die Angewiesenheit der Frühmenschen aufeinander als Basis seiner Interdependenzhypothese voraussetzt. Die Fragen, warum es so und nicht anders gewesen sein sollte, werden im zweiten Teil des Buchs allerdings drängender.

Denn der vorgeschichtliche Übergang von überschaubaren Verbänden zu Großgruppen mit Tausenden von Mitgliedern stellt auch einen Umschlag von der Quantität in eine neue Qualität dar, mit der es sich Tomasello zu einfach macht, wenn er das Entstehen von kulturellen Konventionen damit verbindet. Überdies ist die Definition von Kultur, welcher der Verhaltensforscher unproblematisiert folgt, schwammig und zirkelhaft.

Die Kulturgruppen mit den prosozialsten und also am meisten kooperationsfördernden Praktiken setzen sich gegen andere durch, das leuchtet zwar ein. Aber wieso sollten Gruppen, deren Mitgliedern ihre Kooperation und Äquivalenz zur Gewohnheit geworden ist, plötzlich miteinander um Ressourcen konkurrieren? Warum hat sich nicht eine universelle Prosozialität entwickelt, in der auch diejenigen als Partner infrage kommen, die anders aussehen und das meiste anders machen als ich? Das wäre schon die traurige Antwort des evolutionären Kampfs der Kulturgruppen: Fremde Sitten machen die für effektive Kooperation nötige Voreinverstandenheit zunichte, die soziale Homophilie ist einfach stärker.

Man kann sich seine Leser zwar nicht aussuchen, aber doch einiges dafür tun, keinen Applaus von der falschen Seite zu erhalten. Vulgärdarwinisten werden enttäuscht sein, wie Tomasello moralisches Verhalten als evolutionär begründet und doch von der bloßen Genetik losgelöst schildert. Seine Darstellung von Moral als im Kampf ums Überleben bewährtem Konventionsapparat von homogenen Kulturgruppen jedoch gibt bestenfalls den Moralrelativisten und schlimmstenfalls dem neorassistischen Ethnopluralismus Futter, die beide nichts von universellen Menschenrechten wissen wollen.

Für die Äquivalenz von »ich« und »du« im »wir« liefert Tomasello gute Argumente und muss das auch tun. Denn sie widerspricht sowohl Alltagserfahrung wie historischem Bewusstsein. Die Arbeitsteilung, die nach Marx und Engels der Anfang vom Ende der Gleichwertigkeit ist, die Tomasello zur Grundlage seiner Moralpsychologie macht, wird mit keinem Wort erwähnt. Auch späterhin bleibt er bei der prinzipiellen Äquivalenz der Mitglieder einer Kulturgruppe, als gäbe es keine Ausbeutung, als wäre die Geschichte nicht voller sorgfältig begründeter systematischer Ungleichheit – vom Erbadel bis zur Sklaverei, die sich leicht damit rechtfertigen lässt, bestimmte Menschen nicht als Mitglieder der eigenen Kulturgruppe und damit als nicht gleichwertig zu betrachten.

In der Vorgeschichte aber ist Tomasellos Hypothese sicher »vor den Eingriffen des ‚rohen Faktums‘«: Arbeitsteilung, Hierarchien, Gesetze und Bigotterie kommen erst mit der Sesshaftigkeit auf und Tomasellos »phantasievolle Rekonstruktion historischer Ereignisse« (S. 232, gemeint ist wohl eher »vorhistorischer«) endet weit vor dieser.

Alles Spekulation also? Ja, wie auch anders! Tomasello leugnet das nie und räumt zum Ende hin sogar ein, er würde nahelegen, die Natur zaubere die Moral wie das Kaninchen aus dem Hut hervor. Aber, so gibt er zu bedenken, die Natur ist nun einmal bekannt dafür, mitunter genau so zu verfahren. Vor Ableitungen des heutigen Sollens aus dem spekulierten Sein hütet er sich. Er erzählt nur eine Naturgeschichte »ohne Moral«. Denn in komplexen Gesellschaften mit ebenso komplexen Moralvorstellungen gibt es moralische Konflikte, die vom Individuum selbst entschieden werden müssen, unabhängig davon, wie die Spezies wurde, was sie ist.

Seit Kants Diktum, nichts erfülle ihn mit solcher Ehrfurcht wie der bestirnte Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm, hat die Astronomie die Erhabenheit ihres Gegenstands nicht geschmälert. Gleiches gilt für Tomasellos Forschung über das moralische Wesen des Menschen, die die Gewissheit über das gebotene Gute auf den Boden der Tatsachen holt, ohne sie in den Dreck eines bloßen Biologismus zu ziehen.

Artikel online seit 14.02.17

 

Michael Tomasello
Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral

aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp
282 Seiten
32,00 €
978-3-518-58695-2

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