Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme


Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 



Das »furchtbare Geschoß«, wiedergelesen

Die von Mathias Greffrath herausgegebenen Radioessays stellen die Frage:
Ist »Das Kapital« als politische Ökonomie im 21. Jahrhundert noch brauchbar?

Von Jürgen Nielsen-Sikora

»Das Kapital« sei ein »furchtbares Geschoß«, das er den Bürgern an den Kopf geschleudert habe, schreibt Karl Marx in einem Brief an seinen Freund, den Revolutionär Johann Philipp Becker. Nicht weniger als eine kritische Darstellung der bürgerlichen Ökonomie, aber auch eine Kritik an den gängigen ökonomischen Theorien sollte das ab 1867 in insgesamt drei Bänden erschienene Buch sein. Es gehört zu den meist studierten und interpretierten Werken mit einer ungeheuren politischen Wirkung und kritisiert im Kern jene Obrigkeit, die ihre politische Herrschaft auf Kosten der arbeitenden Klasse in den Dienst des Kapitals stellt. Charakteristika dieser Herrschaft sind die Massenproduktion, der wissenschaftlich-technologische Fortschritt, eine vertiefte internationale Zusammenarbeit, die voranschreitende Arbeitsteilung und der Ausbau der Märkte.

Was als Naturgesetz erscheine, entlarvt Marx als von Menschenhand gemacht, indem er gleich zu Beginn den Gebrauchs- und Tauschwert der Waren und den zugehörigen Arbeitsprozess analysiert. So hebt das Buch an mit den Worten: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.« (MEW Bd. 23, S. 49).

Anlässlich des 150. Jahrestags seines Erscheinens hat sich Mathias Greffrath mit Unterstützung zahlreicher Kollegen im Deutschlandfunk 2016 Gedanken zur Aktualität des Buches gemacht. Eine erweiterte Fassung der Radioessays ist nun im Antje Kunstmann-Verlag erschienen.

Soziologen, Ökonomen, Publizisten, Philosophen und Sahra Wagenknecht denken darin, jeweils von einem bestimmten Kapitel des Marx-Buches ausgehend, über die Aktualität und die Grenzen der Marx’schen Theorie nach: Ist »Das Kapital« als politische Ökonomie im 21. Jahrhundert noch brauchbar?

Mit Blick auf moderne politisch-ökonomische Institutionen fällt das Urteil des Herausgebers vorab ernüchternd aus: »Marx hilft hier nicht weiter. Rationelle Produktion, gemeinschaftliche Kontrolle, menschenwürdige Bedingungen – über die Ausfüllung dieser abstrakten Zielformeln hinaus findet sich wenig in seinem Werk, schon deshalb kann man ihn nicht für die Planpannen, die Vergeudung, den Terror im Sowjetkommunismus als theoretischen Zeugen bemühen, auch wenn diese Übung nach wie vor beliebt ist.«
Doch wozu dann heute noch Marx lesen? Der Sammelband mit seinen namhaften Autoren versucht eine Antwort jenseits der Lektüre, die »Das Kapital« lediglich als »Kampfschrift gegen den Kapitalismus« versteht.

John Holloway etwa betont gleich zu Beginn, Marx' Leser hätten bis dato primär den zweiten Satz des »Kapitals« in den Vordergrund ihrer Lektüre gestellt. Es käme darauf an, auch den ersten Satz zu lesen, in dem es um den Reichtum der Gesellschaften geht. Im ersten Satz erblickt Holloway die Kritik einer Welt, »die auf der systematischen Frustration des menschlichen Potenzials durch die Unterordnung unter die Ware ... basiert.« Die gesamte Argumentation des Buches baue auf dem ersten Satz auf.

Der Essay ist allerdings ein unglücklicher Auftakt für ein Buch, das nach der Aktualität des »Kapitals« fragt, weil Holloways Einlassungen als spitzfindige, in Germanistik-Seminaren geschulte Hermeneutik daherkommen – nicht nur, wenn er über das »grammatische Subjekt« des Satzes spricht, sondern auch und vor allem dann, wenn er eindringlich über das Wort »erscheint« des ersten Satzes im Buch doziert und den Eindruck entstehen lässt, Marx´ politische Ökonomie mache sich Kants Transzendentalphilosophie zu eigen.

Diesen Eindruck bestärkt auch Elmar Altvaters Artikel über den »Doppelcharakter der Arbeit im kapitalistischen Anthropozän«, in dem es heißt: »Der kategorische Imperativ des Kapitals duldet keine Götter neben sich ... Dieser Imperativ kennt keinen Stopp des Wachstums, sondern nur dessen endlose Fortsetzung.« Der kategorische Imperativ des Kapitals? Das mag als rhetorisches Stilmittel formuliert sein, taugt aber nicht dazu, der Marx’schen Theorie auf die Schliche zu kommen, schon gar nicht trägt eine solche Rhetorik dazu bei, etwas zur Aktualität von Marx zu sagen.

Schließlich lässt sich auch Hans-Werner Sinn (»Was uns Marx heute noch zu sagen hat«) in diesem Kontext zu der leichtfertigen Feststellung verleiten, Marx habe »viele interessante Gedanken geäußert.« Seine Grundthese vom Primat des Seins, welches das Bewusstsein bestimme, bricht er sodann herunter zu der These, dass die freie Wirtschaft Eingriffe stets nur in Einklang »mit den Regeln der Märkte« (wie auch immer diese aussehen) vornehmen können, und ergänzt: »Deswegen zieht der Ökonom ein System der Lohnzuschüsse dem Mindestlohn vor.«

Hervorzuheben ist das Interview, das der Herausgeber mit dem Philosophen Michael Quante geführt hat, denn dieses liest man im Gegensatz zu einigen der anderen Artikel mit beträchtlichem Gewinn.

Quante reklamiert Marx als philosophischen Denker, Schüler Hegels und Vollender des Deutschen Idealismus. In seiner Philosophie kritisiere er insbesondere die Junghegelianer (Feuerbach, Bauer und Stirner). Was sein Werk zur Philosophie mache, sei der »totalisierende Anspruch«, den ansonsten keine Einzelwissenschaft erhebe. Damit einher ginge auch eine »unverzichtbare Normativität« seiner Theorien. Sein Theorieideal habe er von Hegel übernommen und zeitlebens beibehalten: »Eine philosophische Theorie muss ihren Gegenstand immer als eine Totalität darstellen ... Man zeigt, dass alle Dinge miteinander zusammenhängen, dass keines unabhängig von allen anderen ist.« Es geht mithin auch Marx in erster Linie darum, Strukturzusammenhänge zu erklären und Gesetzmäßigkeiten als »Varianten einer Grundstruktur« zu rekonstruieren.

Quante zeigt, dass Marx vor allem die Spielregeln kritisiert, die sich in dieser Struktur herausgebildet haben. Diese Kritik versteht er letztlich als Erfolgsgeschichte: »In einem bestimmten Sinn sind wir alle Schüler von Marx.« Seine Philosophie (!) hat auf eine Unmenge anderer Einzelwissenschaften ausgestrahlt: Auf die Geschichtswissenschaft, die Pädagogik, die Rechtswissenschaft usw., obwohl »Das Kapital«, wie Quante zu Recht klarstellt, ein Torso geblieben ist, weil sein Sujet eben nur interdisziplinär aufgearbeitet werden könne.

Der von Mathias Greffrath herausgegebene Band über die politische Ökonomie im 21. Jahrhundert stellt sich dieser Herausforderung einer interdisziplinären Aufarbeitung. Die Antwort auf die Frage, ob Marx´ Buch heute noch brauchbar ist, wird jedoch in einigen Artikeln durch hermeneutische Mikroanalysen, durch philosophische Rhetorik und wirtschaftspolitische Lehrmeinungen verdeckt. Absolut lesenswert ist hingegen das Interview mit Michael Quante, der Marx’ Philosophie auf deren Aktualität hin abklopft und dabei deutlich macht, dass heute jede Einzelwissenschaft mit dem Anspruch überfordert wäre, das zu leisten, was Marx leisten wollte: Eine Kritik der politischen Ökonomie.

Artikel online seit 31.08.17
 

RE: Das Kapital
Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert
Herausgegeben von Mathias Greffrath
Kunstmann Verlag
240 Seiten
22,00 €
978-3-95614-172-0

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten