Die Welt ist
ungerecht. Und diese Martl konnte ein Lied davon singen. Sie war die
Tante der bekannten Literaturkritikerin Ursula März, die in ihrem
ersten, durchwegs autobiographischen Roman die Geschichte dieser
selbstlosen, eigensinnigen Frau erzählt. In ebenso einfacher wie
eindringlicher Sprache. Ein schmales, ein großes Buch.
Tante Martl, die jüngste von drei Schwestern, hätte endlich der
heißersehnte Junge werden sollen. Aus Empörung darüber, dass es
wieder ein Mädchen ist, lässt der Vater den Namen Martin ins
Geburtsregister eintragen. Erst nach einer Woche wird,
gezwungenermaßen, aus Martin eine Martina. Ein »a«, das sie sich
redlich verdienen sollte. Ein Leben lang behandelt der Vater sein
jüngstes Kind besonders schlecht. Er schlägt es und »weist ihr einen
Platz am Rand der Familie zu«. Sie ist »in den Augen des Vaters
nichts anderes als ein Ärgernis«. Die drei Schwestern sind sehr
unterschiedlich. Röschen, die zwei Jahre ältere, hatte beim Vater
eine Sonderstellung. Sie durfte auf seinem Schoß sitzen, seine
Pfeife anzünden und musste nie im Haushalt helfen. Für Ursula März,
die Tochter von Röschen, »eine schreiend ungleiche und ungerechte
Behandlung«, für die es keinerlei Begründung gab. Rosa war hübsch,
charmant, der Schwarm der Jungen, während Martl, ohnehin eher
unscheinbar, sich gerne noch kleiner machte. Am liebsten wich sie
»dem Gesehenwerden überhaupt aus«. Röschen dagegen hielt gerne Hof,
wo immer sie auftrat. Ihr Hang zur »Gefühlsübertreibung« wird sich
später in »launische Theatralik verwandeln«. Während die beiden
älteren Schwestern heirateten, Häuser bauten, ihr eigenes Leben
lebten, wird gerade die ungeliebte Martina ihr gesamtes Leben im
Elternhaus in einer pfälzischen Kleinstadt bleiben, nie heiraten und
ihre Eltern bis an deren Lebensende aufopferungsvoll pflegen.
Das Interessante an Martls Biographie ist, dass die in allem
Benachteiligte und Unterdrückte ein erstaunlich selbständiges Leben
führen wird. Sie wird Volksschullehrerin, macht schon Anfang der
fünfziger Jahre den Führerschein, ist materiell unabhängig, ist
gebildet und verreist leidenschaftlich gerne. Sie ist »eine
eigenständige, ihren Schwestern in vieler Hinsicht überlegene Frau«.
Rosa dagegen, überzeugt davon »für den gesellschaftlichen Aufstieg
geschaffen zu sein«, heiratet einen Mediziner aus wohlhabender
Familie, doch ihre große Liebe fällt vierzehn Tage später im Krieg.
Sie heiratet erneut, bekommt Kinder, wird sich aber bald in
Krankheiten flüchten. Sie wird wehleidig, herzkrank und verbringt
einen großen Teil ihres späteren Lebens im Bett.
Martl wird neunzig Jahre alt werden. Die letzten Jahre ihres Lebens
verbringt sie, allerdings, dement geworden, in einem Altenheim. Den
Schmerz über ihr Schicksal, die Ungerechtigkeiten, die ihr
widerfahren waren, hatte sie tief in ihrem Inneren vergraben. Am
Ende, nach zunehmendem Kontrollverlust, schreit sie diesen Schmerz
immer wieder und wieder ungehemmt aus sich heraus. Das Buch endet
mit Martls Beerdigung. Einige Tage danach sucht ihre Nichte Ursula
noch einmal den Steinmetz auf, um sicher zu gehen und sich noch
einmal »bestätigen zu lassen, dass auf dem Grabstein meiner Tante
der Vorname Martina eingraviert würde, nicht durch ein dummes
Versehen der Name Martin«.
Die Nichte Ursula kann jetzt auch noch sicher sein, dass sie mit
diesem Buch ihrer Tante Martl ein Denkmal gesetzt hat, das sich
diese Frau nicht einmal hätte erträumen können.
Artikel
online seit 10.10.19
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Ursula März
Tante Martl
Roman
Piper Verlag
192 Seiten
20,– €
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