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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik

 








(Crespino, Delta del Po)
Foto: © Carl Wilhelm Macke

























Foto: © Roderich Reifenrath

»Im Kino gewesen. Gestorben.«

Über das mögliche Ende eines kinematographischen Gemeinschaftserlebnisses

Von Wolfram Schütte

      
                          
»Im Kino gewesen. Geweint« (Kafka, Tagebücher)

Je länger es dauert, dass die seit Monaten geschlossenen Kinos nicht wieder eröffnet werden (im Gegensatz zu Museen oder Restaurants), desto besorgter sind alle, die auf die verschiedenste Art mit der Existenz & der Wertschöpfung Kino zu tun haben: Produzenten, Verleiher, Kinobranche, Filmpublizistik.

Sie alle befürchten, das einstige Kinopublikum (zumindest in Deutschland) könnte an Streamingdiensten ed. al. so sehr Gefallen gefunden haben, dass es künftig für das Kino als regelmäßiger Konsument zu großen Teilen verloren gegeben werden muss.

Durch den pandaemonischen Corona-Einbruch ist die Digitalisierung unserer Lebenswelt unzweifelhaft beschleunigt worden. Die damit einhergehende Distanzierung & Abstrahierung von der primär analogen & taktilen Welterfahrung (auch mit seinesgleichen) ist gewissermaßen zur neuen »Normalität« geworden. Dadurch könnten die Kinos in großer Zahl auf der Strecke geblieben, bzw. durch den andauernden Wartezustand stillschweigend insolvent geworden sein. Ist etwa gar die Fortsetzung der Bundesliga in Menschen das leeren Stadien die adäquate digitale Form für das Massenvergnügen Fußball unter Corona-Bedingungen?

Massenversammlungen, erst recht in geschlossenen Räumen (z.B. qua Kino) dürften auf unabsehbare Zeit verboten bleiben. Unklar ist, ob je & wann ein Impfstoff gefunden wird, der den Geimpften dauerhaft immun gegen die Corona-Ansteckung macht (wie heute gegen Masern u.ä. »Kinderkrankheiten«). Bis dahin dürfte eine Annäherung an die gewesene physische »Normalität« (z.B. im Kino) nicht möglich sein, Solange bleibt, speziell für die »Risikogruppe« 60plus, dauerhaft das Kino off limits; das hieße aber dann auch, den überwiegenden Teil des Arthouse-Publikums auszuschließen, was natürlich allein schon aus ökonomischen Gründen unmöglich wäre!

Es liegt auf der Hand, dass das Kino als Ort der mehr oder weniger großen öffentlichen Konsumption des Films, von den lebensnotwendigen Restriktionen am intensivsten & nachhaltigsten betroffen sein dürfte. Selbst eine nur prozentuale Konsumenten-Auslastung – ähnlich der gegenwärtig wieder möglichen Gastronomie – würde dauerhaft die bisherige kapitalistische Wertschöpfungskette korrumpieren. (Wie teuer müsste ein Billett, wie billig Produktion, Vertrieb & der Kinobetrieb sein, um  auch nur bescheiden rentabel sein zu können?)

Zur gleichen Zeit bietet sich das Internet mit allen seinen neuen & noch weiter entwickelbaren Sendemöglichkeiten als ein Ersatzmedium für & im individuellen Hausgebrauch an. Nicht zuletzt ist es »bequemer« (& billiger) als der zeit- & ortsaufwendige Kinobesuch – sofern der überhaupt noch vor Ort möglich ist oder war. Manche deutsche Großstädte in der Peripherie & Kleinstädte erst recht haben ja längst keine Kinos mehr - oder nur noch eines, wenn´s hochkommt ein Multiplex, in dem aber außer dem Mainstream nichts angeboten wird.

Denn das Kino (schon gar »um die Ecke«) war ja bereits vor Corona ein Auslaufmodell des Filmkonsums & der ökonomischen Filmamortisation. Der einst nur im Kino technisch mögliche Konsum der Filmprodukte hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte über Videos, DVDs & Streaming oder Mediatheken immer weiter differenziert, individualisiert & intimisiert.

Die Öffentlich-Rechtlichen Medien können gar nicht schnell & laut genug sich zu Arsenalen eines Media-Marktes zurückbilden, der aufdringlich (geradezu schlepperhaft), Sendungen & Programme werbend anbietet – als hinge ihr Wohl & Wehe davon ab, dass jeder jederzeit alle ihre Angebote subjektiv sich »sichern« kann, wenn nicht gar muß, um rund um die Uhr up to date zu sein.

Ich habe u.v.a. zwei Aufsätze gelesen, die sich explizit mit der Zukunft des Kinos ausführlich beschäftigen: Edgar Reitz: »Corona-Krise: Warum wir das Kino brauchen« (Die Zeit) und Michael Kötz: »Neue Kinos braucht das Land! Oder Warum eine Branche dafür so umdenken muss wie die Automobilbranche.« (Mediabiz)

Als ich kürzlich einen etwa gleichaltrigen ehemaligen Filmkritiker-Kollegen dafür gewinnen wollte, in einem Offenen Brief die ARD aufzufordern, zu Ehren des 88jährigen (!) diesjährigen Filmpreisgewinners Edgar Reitz dessen 11teilige Serie »Heimat1« (1984) im Hauptprogramm zu wiederholen, wurde diese symbolische Handlung für ein doch einzigartiges Oeuvre auf der Plattform der Öffentlich-Rechtlichen, die die »Heimat« ja schließlich produziert hatte, als Akt des ehrenden öffentlichen Respekts noch nicht einmal mehr von meinem Kollegen verstanden. Man könne die Serie doch bei Amazon kaufen, begründete er seine Absage. Ich sehe darin ein weiteres Beispiel für den Verlust des Bewusstseins von der gesellschaftlichen Rolle der Öffentlichkeit. (1) Das »Kino« ist gewissermaßen Öffentlichkeit in nuce.

Edgar Reitz, dessen 4 teiliger »Heimat«-Zyklus nicht nur eine künstlerische tour-de-force, sondern auch ein Monument der deutschen Fernsehgeschichte ist, hat sich spekulativ »am weitesten aus dem Fenster gelehnt«. Obwohl sein mehr als 50stündiges Haupt- & Lebenswerk gar nicht mehr im Kino seine Heimat hatte, hat Reitz sich die tiefgründelnsten  Gedanken zur Rolle & Bedeutung des Kinos im menschlichen Leben gemacht. »Es geht darum«, schreibt er in seinem Zeit-Essay, »den immer seltener gewordenen geschützten Offline-Raum zu erleben. Irgendwo müssen wir wieder zu uns selbst kommen, unerreichbar sein und uns in unserem Körper, in der Gegenwart des Lebendigseins wieder finden. Im Kino (…) lassen wir uns gemeinsam mit gänzlich Fremden vom Rhythmus der Filmerzählung erfassen. Wir lachen, weinen, tauchen ein in das, was uns andere Menschen mit Bildern erzählen. Wir geraten in eine Stimmung, die nur in einem Saal mit vielen erwartungsvoll gestimmten Menschen entstehen kann und uns über die banalen Alltagsnöte hinaus erhebt. Im Kunsterlebnis Kino sind wir wieder einmalige Individuen. (…) Das Kino der Zukunft«, fährt er mit Blick auf die Corona-Krise fort, »muß eine Antwort auf die Tatsache finden, dass der Film nicht mehr der einzige Grund zum Kinobesuch sein wird. Wir werden ein Kino erfinden müssen, das dem jeweiligen Film einen optimalen Aufritt im Wahrnehmungsraum der Gesellschaft bereitet.« Um diesen künftigen Wahrnehmungsraum für Filme zu eruieren & zu ermitteln, schlägt er ein »öffentlich-rechtliches Kino-Experimental-Zentrum vor, (…) das einmalig in Europa wäre« – aber  meines Erachtens erst am St. Nimmerleinstag eröffnet würde.

Michael Kötz, erfahrener & enthusiastischer Film-Festivaldirektor in der »Metropolenregion Rhein-Neckar«, macht sich über die »Erlebnisform Bewegter Bilder aller Art«, in der »wir uns ein Märchen erzählen … wie dereinst auf dem Marktplatz unter der Linde« weitläufig Gedanken & skizziert »drei Formen des Kinos der Zukunft«. Die erste Variation sollte edel & teuer, exclusiv »mit Garderobiere, Sekt und Begrüßung durch den Intendanten« sein, die zweite Form »gestaltet volksnah große Kinozelte wie kulturelle Lagerfeuer für alle, auch in Form von Filmfestivals« (wie er selbst erfolgreich seines auf der Rheininsel in Ludwigshafen installiert hat, das dieses Jahr wg. der Pandemie ausgesetzt wurde.) Kötzens drittes Lichtspielhaus der Zukunft, »besteht in Clubkinos, Hinterzimmern, Kellern und Lokalen«, mit einem speziellen Programm für ein spezielles Publikum »sinnlich-intellektuell anspruchsvoll, vielleicht auch wild und unbotmäßig«.

Abgesehen davon, dass es diese Trias von Kinoformen in manchen Städten (wie z.B. Frankfurt a.M.) schon gibt – in anderen aber keine einzige davon -, besteht die Pointe des phantasierenden Festivaldirektors, der bei Alexander Kluge über »Casablanca« mit Lacanschem Besteck promoviert hatte, darin, dass er alle 3 Kinotypen öffentlich subventioniert sehen möchte. Und zwar ausdrücklich nicht primär wg. der gezeigten »Filmwerke«, sondern: »weil die Gesellschaft diese Kinos unbedingt haben möchte«, damit »wir uns hier gemeinsam mit den Traumwelten befassen, die unser Leben viel mehr ausmachen als wir denken, nämlich als Gemeinschaftswesen, die allein vor einem Bildschirm buchstäblich nur verkümmern«.

Als jemand, der mit dem Kino großgeworden ist, mit & in ihm beruflich & privat mehr als 60 (!?) Jahre regelmäßig verbracht hat, möchte ich so gerne mit Michael Kötz davon träumen, dass die Gesellschaft die Kinos unbedingt haben möchte. Wie Edgar Reitz wünschte ich, dass dieser »Wahrnehmungsraum der Gesellschaft« geschützt, bewahrt oder neu konzipiert würde nach dem Abflauen von Corona.

Allein mir fehlt der Glaube. Die öffentlich betriebenen Kulturveranstaltungen Oper, Schauspiel, Museen können mit drastisch reduziertem Publikum zwar weiterhin – wenn gewiß auch rudimentär besucht werden – wenn auch in  akustisch fragilen Räumen & mit schütterem Applaus für die Darbieter. Aber wie ein großes Orchester & ein Opern-Ensemble (gar der Chor-) oder ein Schauspiel-Ensemble unter den unabsehbar lange waltenden Abstandsnötigungen existieren & arbeiten sollen, entspricht einer Problemfülle, die noch nicht einmal die NASA (für eine neue Mondlandung) logistisch & faktisch lösen könnte.

Für das Kino der Corona-Gegenwart & -Zukunft ist außer der Reaktivierung des Auto-Kinos als akustischer Kapsel mit freiem Blick auf eine Großbildfläche nichts der gegebenen Situation Adäquates bislang erfunden  worden. Ganz zu schweigen von der nationalen & internationalen Film-Produktions- & -Vertriebsindustrie, die kapitalistisch organisiert ist & für alle in ihr Arbeitenden zumindest so gewinnorientiert sein müsste, damit in deren laufende Produktion privat (oder öffentlich) investiert werden könnte.

Die technische & wirtschaftliche Entwicklung in den hochkomplexen Gesellschaften Europas tendiert generell im Zuge ihrer umfassenden Digitalisierung dazu, dass der Gesamtbereich der Gesellschaft in allen ihren Teilen, nur von einem Treibstoff – der Elektrizität – so lebendig gehalten wird wie der menschliche Körper vom Blut. (Eine prekäre, hoch-riskante Eindimensionalität.)

Die Hoffnungen der Freunde des Kinos, wonach seine Existenz gewissermaßen anthropologisch in unser aller Verlangen nach regelmäßigen Gemeinschaftserlebnissen in Räumen begründet sei – Gotteshäuser, Stadien, Theater, Kino -, ignorieren den Prozess der Zivilisation. Wenn er nicht auf einen generellen Ausgang aus der Archaik des kollektiven Selbsterlebens in fortschreitender Individualisierung & Subjektivierung hinausläuft, so doch zumindest in eine doppelte, wechselnde, kontroverse gesellschaftlichen Existenzform von Gemeinschafts- & Individualerleben – wobei zugleich beides als vermeintlicher Kontrast chimärisch sein könnte.

Denn so hoch »Individualität« als »Selbstverwirklichung« gehandelt wird, so allgewaltig setzt sich in ihr der Konformitätsdruck der auf Konkurrenz, Gewinn, Macht fixierten Gesellschaft durch.

Wenn der Hunger nach kollektiven Kinoerlebnissen so stark wäre, wie alle jene Enthusiasteni hoffen, dass er die Corona-Verbote überdauert & danach massen- & dauerhaft gestillt werden will, hätte es nicht zuvor schon das Jahrzehnte währende Kinosterben gegeben; & es hätten die jetzt bereits Kino losen Gesellschaftsregionen die Errichtung kommunalen Kinos so nachhaltig verlangt wie Gemeinden oder Stadtteil die Ansiedelung von Supermärkten.

Wie viele immer noch Gläubige längst ohne den (rituellen, kollektiven) Besuch ihrer »Gotteshäuser« (privat-)gläubig gut zu leben vermögen, so sind viele, die früher einmal ins Kino gingen – als Film alternativlos nur dort zu sehen & hören war – längst damit zufrieden, was sie, neben & in Konkurrenz mit Anderem, in den TV-Programmen angeboten bekommen. Für die gebildeteren, zumeist älteren unter den bisherigen Kinobesuchern – die vor allem in den Großstädten in den anspruchsvolleren »Arthouse«-Filmtheatern sich drängten & ballten – so stark, dass wieder strenge Sitzplatzregelungen nötig wurden –, sind alle die alternativen Möglichkeiten, die via Internet ins heimische Haus geholt werden können, willkommen, um die für sie hoch gefährdenden Schäden der Pandemie zu meiden.

Gewiss fehlt der emotionale & geistige Austausch mit Gleichaltrigen über das Kino-Erlebnis, zu dem man sich, oft zu zweit, in der Großstadt entschlossen & manche Bewegungsmühe auf sich genommen hatte. Aber solange  es nicht mehr so sicher wie in der Vergangenheit (& einer ungewissen Zukunft) im Kino ist – falls es einmal wieder geöffnet wird -, sollten die Erben heutiger Kinogänger, die zur aktuellen Risikogruppe zählen, nicht am Ende in deren Todesanzeigen lakonisch schreiben müssen: »Im Kino gewesen. Gestorben.«     

1 Siehe meine »Hoffnungslose Verteidigung des Öffentlichen Raums« (Glanz und Elend 2.10.19)

Artikel online seit 10.06.20
 

 


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