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Dialektik der Reformer

Phantastische und digitale Schatten und ihr Echo.
Über Markus Gabriels
»Fiktionen«

Von Wolfgang Bock

 

Das Eine und die Vielen:
Von Wunderwesen und Ansammlungen

In seiner berühmten Einleitung in Die Ordnung der Dinge zitiert Michel Foucault aus Jorge Luis Borges (1899–1986) chinesischer Enzyklopädie über die Dinge, die dem Kaiser gehören. Darunter befinden sich auch Fabelwesen und solche Tiere, die mit einem kleinen Pinsel gemalt werden können. Foucault fragt danach, wie das gedacht werden könne und eröffnet damit einen Reflexionsraum des Staunens über die Realität fiktionaler Gegenstände.[1] Die Texte des phantastischen Realisten Borges bilden ebenfalls den Ausgangspunkt von Markus Gabriels Buch. Aber anders als der Franzose will er den Reflexionsraum wieder schließen, indem er eine Distinktion zwischen real und irreal einführt. Seine Definition, wonach die »Wirklichkeit« immer fiktionale Anteile besäße (S. 117) leitet ihn am Ende nach vielen Seiten zu dem Schluss, dass das Irreale irreal bliebe und das Reale real: aus Borges erzähltem Buenos Aires ließe sich so wenig über die Stadt lernen wie aus Prousts Paris über Paris oder aus Manns Venedig über Venedig (S. 114). Am Ende bleiben sie nur Fiktionen und eine einheitliche Welt gebe es nicht. Was zu beweisen war: Warum es die Welt nicht gibt, heißt bereits sein Buch von 2015 und das meint natürlich nicht, dass es keine Welt gebe, sondern nur keine einheitliche.[2] Das ist ein rhetorischer Effekt, den er auch in diesem Buch wieder bemüht.

Gabriel hat sich damit eine zu schwere Hypothek aufgeladen, dass er sein bescheidenes Buch nun auch noch so nennt, wie das berühmte Werk des argentinischen Poeten von 1944, nämlich Fiktionen. Das allerdings scheint Methode zu sein: think big. Ein falscher Wiedergänger also, ein Zwerg als Riese, ein Scheinriese. Denn Gabriel hält diesem Schatten nicht stand, der Anzug ist ihm zu groß. Was der aus welchen Gründen auch immer gehypte Senkrechtstarter der deutschen Philosophie gegen diese für ihn zu großen Formen aufzubieten versucht, sind zunächst Ansammlungen die zu Geltungsansprüchen werden: Das Buch beginnt im Vorwort mit Summen von Namen und Verweisen auf Freunde und Forschungskollegen, Aufzählungen und Worttabellen von Orten und Ländern, in denen der junge Autor bereits gefühlte Tausende Forschungskolloquien abgehalten und Hunderte Gastprofessuren bekleidet hat. Dieser Kreis von Namen der Mitdiskutierenden ist so groß, dass man als Leser auch gleich die eine oder die andere Kollegin oder den alten Schulfreund darunter entdeckt.

Schreibweisen, Darstellungen und Unhintergehbarkeiten

Der Effekt, der mit solchen Schreibweisen erzielt werden soll, ist klar: wenn eine solche Menge von Forscherinnen und Forscher des transatlantischen und transkontinentalen Betriebes zwischen Chile, USA und China das ebenso unterstützt wie der Suhrkamp Verlag, der sich von diesem Namengestapel Leser erhofft, dann muss wohl etwas daran sein. Auch, wenn dem Leser nach den ersten Sätzen aufgrund seines eigenen Urteils allein schon über solche Aufzählungen große Zweifel kommen. Goethe oder ein praktischer Ethiker wie Adolph von Knigge hätten hier wohl noch daran erinnert, dass man die Absicht merke und verstimmt sei. Wer an dieser Stelle weiterliest, muss schon hart gesotten sein oder er hat ein professionelles Verhältnis zum Buch. Eine solche Transgression, weiterzulesen, obwohl man denkt, warum eigentlich, stellt nicht zuletzt bereits zu Beginn der Lektüre die Methodenfrage: Ist diese große Windmaschine wirklich nötig? Täte es nicht auch ein einziger konsistenter Gedanke? Oder muss es um Freunde gehen, die in einem Restaurant dann und dann den Realismus 2.0 erfunden, dessen Zeugnisse bis heute aber leider nur auf Italienisch vorliegen etc., wie es in Warum es die Welt nicht gibt heißt?[3]

Man vergönnt es dem jungen Autor, der die Chuzpe besaß, während des Zivildienstes ein Studium der Literatur an der Fernuniversität Hagen zu absolvieren und anschließend einen Studiengang wählte, den man gleich mit einer Doktorarbeit abschließen konnte. Die Mühen der Ebene fehlen also. Wie in Roland Barthes Analyse der französischen Reiseführer Les Guides Bleues strebt auch Gabriel anscheinend von Gipfel zu Gipfel, von einer Kathedrale der Wissenschaft zur nächsten. Bescheidenheit ist seine Sache nicht. Wenn man Gabriel heißt, dann möchte man vor das Tor des Paradieses. Der Erzengel Gabriel ist ein Feuerengel, er zerstört in der Bibel die Städte Sodom und Gomorrha: »Gott ist meine Stärke« bedeutet sein hebräischer Name. Und Markus ist der Evangelist des ältesten Evangeliums, sein Zeichen ist der Löwe, auch nicht gerade ein bescheidenes Tier.

Fußstapfen der Retter und Reformer

In dieser Hinsicht besitzt Markus Gabriel einen prominenten Vorläufer, in dessen Fußstapfen er auch bei Suhrkamp tritt. Peter Sloterdijk war ab 1983 ebenfalls angetreten, um das philosophische Establishment durch neuartige Formulierungen zwischen Psychologie und Literatur aufzumischen. Und Sloter bedeutet Retter, der Sloterdijk ist der Rettungsdamm gegen die Flut. Der empirische Sloterdijk indessen kennt seine Motive und weiß auch, was ihn mit Arnold Schwarzenegger und dessen Mission als Terminator verbindet. Alle drei sind Sendboten der Gewalt, die eine Revolution anstreben, aber nicht politisch, sondern wörtlich als Neuentwurf – im Falle von Gabriel also ebenfalls jemand, der die Philosophie narrativ neu aufmischen will.[4] Dafür braucht es neben einem Kandidaten aber auch immer ein geneigtes Publikum – Leser und Zuschauer. Sie sind also irgendwie erwartet worden. Allen dreien ist es gemein, die Medien für die spärlichen Sendetermine für philosophische Gedanken im deutschen Fernsehen verwenden zu können.

Gegen Positivismus und der Rede der Postmoderne vom verschwindenden Subjekt

Nun ist es aber so eine Krux mit dem Neuen. Die Welt wird ja nicht wirklich neu erfunden, sondern der Kreis der Objekte, die in den Kanon übernommen werden, erweitert oder eingeengt, Tabuschranken eingerissen und übersprungen.[5] Oft genug erfolgt das zum Schlechten, aber immer zur persönlichen Profilierung. Viele Gedanken sind also bereits zuvor gedacht worden und einen wirklichen Fortschritt versuchte schon Karl Heinz Haag 1974 im Kampf gegen den Positivismus und für das heterogene Objekt luzide auszuloten.[6] Gabriels Verfahren liegt daher eher in einer Verfremdung und Entstellung, einen bekannten Gedanken also effektvoll und verblüffend und in einem bestimmten Tonfall neu darzustellen. Bereits Platon und Aristoteles setzen auf die Mimesis: keine Nachahmung soll diese sein, sondern Darstellung. Das macht Sloterdijk, indem er die Frankfurter Schule und ihre Motive genüsslich ausweidet und leicht verschoben unter der Perspektive von Bhagwan und der Sozialpädagogik wiedergibt. Auch Gabriel schließt hier, wenn auch anders, an, wenn er gegen den Hang zum Szientismus und Positivismus eine sich heute im wissenschaftlichen Betrieb selbst gegenüber der Naturwissenschaft epistemologisch klein machende Geisteswissenschaft selbstbewusst und wortreich nach vorne rücken will. So gebe es »eine humanistische Unhintergehbarkeitsthese« gegen den Positivismus, den er allerdings nicht so nennt, sondern lieber vom »naturalistischen Druck des gegenwärtigen Weltbildes« (S. 18) spricht. Eine neue Darstellung eben, die in der Sache aber auf das Gleiche hinausläuft. Anders aber als die Frankfurter, die mit Recht auch das Subjekt selbst in Gefahr sahen, hat Gabriel damit anscheinend keine Schwierigkeiten. Denn immer müsse es ja auch in Zukunft ein Subjekt geben, das Daten und Informationen registriere. Keine Funktionen und kein noch so radikaler Konstruktivismus könnten das übergehen, wie der Epilog deutlich macht.

Das gelte gerade auch für phantastische und fiktionale Welten. Auch die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität obläge diesem Subjekt. Und die Welt, die es als einheitliche nicht gäbe, könne in verschiedene Sinnfelder eingeteilt werden, die Gabriel Sinnbildontologien nennt und praktischerweise gleich bürokratisch als SFOs abkürzt. Von der Krise des Subjekts, das von der Dialektik der Aufklärung angefressen werde, ist bei ihm ebenso wenig die Rede wie von der Infragestellung desselben durch die Logik der Postmoderne. Hier ist Gabriel so einfach bräsig affirmativ wie die Sozialdemokratie, deren Programm sich bekanntlich immer noch in einem schlechten Frühlingsgedicht zusammenfassen lässt. Entsprechend wiederholt er immanent Wilhelm Diltheys praktisches Diktum aus dem 19. Jahrhundert als unhintergehbar: »Die Natur erklären, den Geist verstehen wir« und Kants Kategorientafel der philosophischen Urteile auch über vermeintliche naturwissenschaftliche Fakten gleich mit.

Romantik, Physik, Digitalisierung

Solche Denkmodelle der ontologischen Felder und des Phantastischen, das ja existiert, weil es jemand denkt, übernimmt Gabriel – wo nicht aus der Romantik, in der Friedrich Schlegel davon ausgeht, das alles, was gedacht werden könne, auch selber denke – so doch auch aus der modernen Physik mit ihren Feldvorstellungen und den atomaren und subatomaren Begriffen. Und auch mit solchem Transfer steht er nicht allein: Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa feiert große Erfolge bei Suhrkamp mit seinen tabellarischen und ebenso dicken Büchern über Resonanz, bei denen es ebenfalls um physikalische Phänomene geht, die von romantischen Physikern wie Johann Wilhelm Ritter (1776-1810) und Ernst Florens Friedrich Chladni (1756-1826) angereichert sind und die Leitbegriffe für die soziale Welt abgeben sollen.[7]

Der wichtigste Hintergrund, auf dem Gabriel und seine Kritik des Phantastischen Realismus in der Erkenntnistheorie ungenannt aufbauen kann, sind die Welten der Computer, die ja ebenfalls scheinhafte Dinge und Wesen produzieren, die virtuell, aber zugleich ebenfalls wirklich sind. Der Schein trügt eben nicht, auch wenn er in der Kybernetik und der Telematik nicht ästhetisch, sondern irgendwie realistisch beispielsweise bei Vilém Flusser daherkommen will, was schon Jean Baudrillard vielfach kritisierte.[8] Hier läuft Gabriel mit seiner so radikal scheinenden These vom Realitätsgehalt des Phantastischen also offene Türen ein, wenn man den Namensalat und die narzisstischen Zitationsmanierismen beiseiteschiebt, seine eigene Terminologie öffnet und auf andere Diskurse und Felder überträgt. Hier macht er also die Wirklichkeit und Interpretation des Artifiziellen im Fiktionalen gegen eine allzu enge Vorstellung von Realität stark. Und damit hat er prinzipiell recht, auch wenn ihm etwas Bescheidenheit, genealogischer Sinn und Trennschärfe nicht schlecht anstehen würde. Denn dass der Schein eben nicht trügt, die Metaphysik die Voraussetzung der Physik bildet und die Frage warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, haben nicht nur andere vor ihm gedacht. Sie sind, bleiben sie abstrakt, auch philosophische Binsenweisheiten. Und sie werden auch dann nicht besser, wenn man sie wie Gabriel erst aufstellt, um sie am Ende doch wieder als falschen Schein, falsche Metaphysik und falsches Nichts außer Kraft setzen zu wollen. Der neue Realismus soll gewinnen.

Wider den Postmodernismus?

Der andere große Gegner neben dem naturalistischen Weltbild und dem Positivismus, den Gabriel berechtigterweise angreift, dem er aber dialektisch eben auch seine Effekte verdankt, ist der Postmodernismus: »Die sowohl naturalistische als auch postmoderne Selbstbeschädigung der modernen Subjektivität muss überwunden werden.« (S. 21) ist sein Credo. Wobei allerdings nicht klar ist, worauf er sich da bezieht. Denn beispielsweise J.-F. Lyotard hat den Begriff bereits doppeldeutig angelegt, einmal als chronologische Periode nach der Moderne, zum Zweiten als diachrones Refugium der Motive, die als Reste neben dem Prozess der Modernisierung liegengeblieben seien. Andreas Huyssen gar denkt sich die Postmoderne als reduzierte Aneignung der Moderne durch amerikanische Intellektuelle nach dem Zweiten Weltkrieg. Terry Eagleton jedenfalls, auf den Gabriel sich zuvor berufen will, bildet hier sicherlich keine ernsthafte Referenz.[9] Und die Behauptung, es gebe alle diese Dinge noch weiter, die die Postmoderne infrage stelle, auch nicht. Auch das Verhältnis erscheint wieder aus der Physik entlehnt: Carl Friedrich von Weizsäcker macht in einem Interview darauf aufmerksam, das trotz aller neuer Erkenntnisse in der Makrowelt der Astronomie und im subatomaren Bereich der Mikrowelten, die mittlere Mesowelt für die Menschen weiterhin existiere.[10] Trotzdem aber zündet die Atombombe und obwohl die Sonne auf und untergeht, ist die Erde immer noch keine Scheibe. Das von Gabriel groß angekündigte Projekt Realismus 2.0 ist mit solchen Voraussetzungen und trotz großen summarischen Wortgeklingels eben kein konsistentes Argument gegen die Dialektik der Aufklärung und auch nicht gegen das postmoderne Denken und seiner Krise des Subjekts. Eher spricht Gabriels Versuch, ein verfreundetes konstellatives Schwarmsubjekt als polyvalenten Autor aufzubieten, für die postmoderne These vom Verschwinden des Subjekts.[11]

Die Kunst, dicke Wälzer zu schreiben

Insgesamt wäre etwas Bescheidenheit angebracht und vielleicht auch die Rückkehr zu der aphoristischen Schreibweise der Romantiker und ihrer kleinen Form. Denn man kann darüber streiten, ob Gabriel es mit Sloterdijk sprachlich aufnehmen kann. Wo dieser doch auch poetische Kraft besitzt, verfällt jener oft genug in eine bürokratische Sprache, mit manieristischen Definitionen, Abkürzungen und Neologismen. Und auch die Ziele beider scheinen neben der einenden Geltung verschieden zu sein: wo Sloterdijk auf eine fragmentarische poetologisch bestimmte Welt abzielt, scheint Gabriel einem Ideal der Systematisierung zu folgen, wie wir sie beispielsweise von Niklas Luhmann kennen. Auch hier wird wohl erst Schluss sein, wenn sein Konzept der diversen Welt durch alle Gebiete der Philosophie hindurchgedrückt sein wird: Ontologie, Ästhetik und nun Ethik sind bereits beackert.

Jedenfalls teilt Gabriel nicht allein den Zug der Akzentuierung der Darstellung mit Sloterdijk, sondern auch noch denjenigen, der schon Vater und Sohn Dumas auszeichnete, die eine kleine Armee von Schreibern in ihrem Keller beschäftigten: die mechanische Art der Produktion von Texten. Der Verweis auf die Freunde und Mitforscher bei Gabriel mag hier durchaus gerechtfertigt sein. Goethe war schon deswegen verstimmt, weil er mit der Absicht die Apoldaer Strumpfstrickmaschine auch im Schreiben im Hintergrund wahrnahm. Sloterdijk jedenfalls hält sich zugute, dass sein Opus Magnum eine 3000 Seiten starke Sphären-Trilogie über Kugeln, Blasen und Schäume sei, die man erst einmal gelesen haben sollte, um überhaupt ein Wörtchen mitzureden. Der Kritiker ist da anderer Meinung und würde hier eher das einleitende Vorwort von knapp 100 Seiten, in dem schon alles über Sphären gesagt ist oder die Einleitung der ausgekoppelte Studie Im Weltinnenraum des Kapitals nominieren.[12] Wohlgemerkt, die Kritik richtet sich nicht gegen dicke Bücher generell, sondern gegen unnötig dicke Bücher. Ähnliches gilt auch für Gabriels Fiktionen und seine Einleitung von knapp 30 Seiten, in der bereits alles Wesentliche des Buches zu finden ist. Besser wird es also mit zunehmender Seitenzahl keinesfalls. Auch Gabriel legt sein bombastisches Forschungsprojekt in Fiktionen auf 600 Seiten aus und kündigt zudem noch viele Folgebände an. Er scheint seine Drohung tatsächlich wahrzumachen, wie sein inzwischen erschienenes Buch über Moralphilosophie nahelegt. Er und seine Leute sind ja noch jung und tatsächlich könnten noch viele Seiten oder Megabytes vor ihnen liegen.[13]

Die Vielen und das Eine: Lautes Lesen, das Lob der Parataxis und der Naivität

Gegen solche enzyklopädische Hypertrophie und ontologisch-physikalische Windbeutelei gibt es ein einfaches Mittel: sich den eigenen Text einmal laut vorzulesen. Das dürfte schon einmal etwas dauern bei 600 Seiten. Aber es trennt notwendig die Spreu vom Weizen. Der Karikaturist Tom hat einmal einen Cartoon über die notorische Musikgruppe Die Prinzen veröffentlicht (die darin Die Söhne des Königs genannt werden). Darin wurden sie von einer Fee nach ihrem sehnlichsten Wunsch befragt. Und sie antworteten ganz naiv: »Nicht mehr singen zu müssen?« Solche Naivität ist nicht zu verurteilen, sondern lebenspraktisch zu fördern. Denn Philosophie kann auch Lebensregeln mitteilen (wobei man allerdings bei dem deutschen Foucault-Übersetzer Wilhelm Schmid ex negativo lernen kann, wie man es nicht machen soll[14]). Gabriel sollte sich vielleicht Formaten überlassen, die wie ein Barockgedicht daherkommen, das mit Nominalverben arbeiten: »Wollen / Wagen / Wissen / Schweigen«.

Der Titel seines Buches macht es jedenfalls schon vor. Das Buch heißt wie das Vorbild von Borges einfach nur Fiktionen. Freilich ist es, wie gesagt, selbst ein Simulakrum und spricht als Echo ein größeres Werk mit diesem Namen nach. Während Borges aber beispielsweise davon handelt, dass der Kommentator des Don Quixote das Buch eigentlich schreibe und verbessere, verschlimmbessert und reduziert Gabriel das Original durch Hypertrophie. Soviel zum vermeintlichen Ende der Postmoderne und den »neuen Realismus«.


[1] »Dieses Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. […] Dieser Text zitiert ‚eine gewisse chinesische Enzyklopädie‘, in der es heißt, daß ‚die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen‘. (Jorge Luis Borges, »Die analytische Sprache John Wilkins«, in: ders., Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966, S. 212) Bei dem Erstaunen über diese Taxonomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird — die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit das zu denken.« (Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003).
[2] Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin: Ullstein 2015.
[3] »Der zweite Grundgedanke dieses Buches ist der Neue Realismus. Der Neue Realismus beschreibt eine philosophische Haltung, die das Zeitalter nach der sogenannten ‚Postmoderne‘ kennzeichnen soll (das ich, streng autobiographisch gesprochen, im Sommer 2011 — genau genommen am 23.6.2011, gegen 13:30 Uhr — bei einem Mittagessen in Neapel zusammen mit dem italienischen Philosophen Maurizio Ferraris eingeläutet habe.)« (Ebd., S. 9-10).
[4] Vgl. Peter Sloterdijk, »Sendboten der Gewalt. Zur Metaphysik des Action-Kinos. Am Beispiel von James Camerons ‚Terminator 2‘«, in: Robert Fischer, Peter Sloterdijk, Klaus Theweleit (Hg.), Bilder der Gewalt, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2001.
[5] Vgl. Boris Groys, Über das Neue: Versuch einer Kulturökonomie, München: Hanser 1992.
[6] Vgl. Karl Heinz Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt am Main Suhrkamp 1983.
[7] Hartmut Rosa, Resonanz, Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2019.
[8] Vgl. Jean Baudrillard, Die Illusion und die Virtualität, Wabern und Bern 1993 und Vilém Flusser, Digitaler Schein in: Florian Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/M. 1991, 147-159.
[9] Vgl. J-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen (La condition postmoderne, 1982) Wien: Passagen 1999; A. Huyssen, K. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek: Rowohlt 1986; Terry Eagleton, Die Illusionen der Postmoderne: Ein Essay, Stuttgart: Metzler 1997.
[10] Vgl. »Das Weltbild der Natur und die Einheit der Physik. Ein Gespräch mit Carl Friedrich von Weizsäcker«, in: Christa Hackenesch (Hg.), »Bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur«, Reinbek: Rowohlt 1984, S. 275-313.
[11] Vgl. etwa Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014, die für die Romantiker auf Dieter Henrich zurückgeht.
[12] Peter Sloterdijk, Sphären I-III, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 und ders., Im Weltinnenraum des Kapitals: Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main Suhrkamp 2006.
[13] Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten: Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin: Suhrkamp 2020.
[14] Z.B. Wilhelm Schmid, Dem Leben Sinn geben: Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen und der Welt, Frankfurt am Main Suhrkamp 2014

Artikel online seit 23.08.20
 

Markus Gabriel
Fiktionen
Suhrkamp
636 Seiten
32,00 €
978-3-518-58748-5

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