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Plädoyer für eine Welt als Klang

Rolf J. Goebels
»Rehabilitation der klingenden Welt«

von Wolfgang Bock



 

Eine andere Akzentuierung

Der deutsch-amerikanische Kulturwissenschaftler Rolf Goebel, der in Alabama Germanistik lehrt, legt im Wiener Passagen Verlag einen schmalen, aber gehaltvollen Band zur Einführung in die Sound Studies vor. Was im Deutschen Klangstudien heißt, deckt im englischen Wort die Bereiche von Lärm über Geräusch bis zur Musik hin ab. Goebel hat sich in den letzten Jahren einen Namen als transatlantisch versierter Walter Benjamin- und Flanerie-Forscher gemacht. Er bildet als ein Theoretiker des Großstadt-Diskurses sozusagen das angelsächsische Pendant zu Eckhard Köhn und seinem programmatischen Buch Straßenrausch. Statt des Bezugs auf das historische Paris des 19. Jahrhunderts gilt sein Interesse den zeitgenössischen postkolonialen Diskursen; er scheut sich vor allem nicht, die Genderdebatte in seinen Horizont entsprechend mit aufzunehmen.[1] Goebel arbeitet außerdem nebenberuflich als Organist.

Was lässt sich von einem Autor mit diesem Hintergrund für ein Buch erwarten, das sich mit einem der wichtigsten Themen innerhalb der Digitalisierung und der technischen Reproduktion beschäftigt – nämlich der Intermedialität? Und damit der Aktualisierung von Lessings im Laokoon gestellter Frage, was welche Medien jeweils erfassen, was sie in Selbstreferenz von sich geben und was sie auch spezifisch ausschließen? Nun, mit Recht lässt sich erwarten, dass Goebel hier die Vorherrschaft des Auges und der optischen Metaphern zugunsten des Klangs und des Ohres genauso kritisch hinterfragt, wie an anderer Stelle den traditionellen eurozentristischen Kulturdiskurs der weißen alten Männer. Diese Hoffnung wird nicht enttäuscht; Goebel gibt sich darüber hinaus keiner ansonsten beliebten Dichotomie hin und auch keiner falschen Transzendenz und Aufhebung. Denn auch auf diesem akustisch bestimmten Feld des Kunstkampfes tummeln sich bekanntlich sowohl die Anhänger einer puren ästhetischen Produktionslogik und des Originals wie auch die neuen Medienphilosophen, die in ihrem
»Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« (Alexander Kluge) glauben, von den apologetisch betrachteten digitalen Reproduktionstechniken her das gesamte Feld des künstlerischen Ausdrucks auch historisch neu aufrollen zu können. Gegen eine traditionell-metaphysische Kunstreligion wie auch gegen die neureligiösen Züge eines universalistisch sich gebärdenden technischen Positivismus plädiert Goebel nüchtern und feinsinnig für eine distanzierte und zugleich engagierte Haltung, die vor allem auf Trennschärfe beharrt. Seine luzide geschriebenen Essays pendeln im Stil zwischen selbst literarischen Inszenierungen und soziologischen Analysen. Darin gibt er einen profunden Einblick in den Kosmos der hier vom Klang geführten Mediendebatten.

Eine Drift

Goebel geht dafür von einer bunten, comicähnlichen Zeichnung aus. Es handelt sich um Chris Wares Titelbild der Zeitschrift The New Yorker von 2013.
Darauf ist eine ferne Bühne mit einer weihnachtlichen Gesangsvorstellung von Kindern in bunten Kostümen zu sehen, nebenan spielt das kleine Schulorchester. Der Blick des Betrachters fällt von einer der leicht erhöhten hinteren Reihen des Parketts auch auf das Publikum vor ihm. Dieses besteht vor allem aus Eltern mit Smartphones, die sie in die Höhe und damit so ins Bild recken, wie Kreuzfahrtschiffe in norwegische Fjorden Panorama zustellen. Auf den Displays ist zu sehen, dass nur jeweils das eigene Kind in einem Ausschnitt aufgenommen wird. Deutlich wird, dass in dieser, das platonische Höhlengleichnis – wo die Beleuchtung von hinten erfolgt – umdrehende Urszenerie der modernen Medienwirklichkeit der gesamte Ausdruck der Veranstaltung samt den alten Medien Theater und Musik nicht in den neuen digitalen aufgehoben, sondern auf spezifische Weise verschoben wird. Der Cartoon enthält die Elemente, um diese es im Buch in verschiedenen Mischungen jeweils geht: Die Individualisierung der Aufführung durch technische Geräte; die damit einhergehende Vertauschung des klassisch passiven Publikums in eine Gruppe von laienhaften Filmemachern; die tendenzielle Übernahme der gesamten Darbietung durch die Reproduktion – diese produziert zugleich eine neue Ausschließung – und die Freiheit der neuartigen Bilder. Das sind die heutzutage allgemein werdenden Kennzeichen der performativen Kunstsituation, die hier zusammenkommen und die jeder, der Kinder hat, heute so oder so überall in der Lebenswelt, wo es um die Verbesserung durch die Digitalisierung geht, selbst erlebt.[2] Mit der Kunst passiert unter der Vorherrschaft der nicht mehr ganz so Neuen Medien nun insgesamt das, was als Effekt auch von Schönheitsoperationen bekannt ist: das Modell wird nach solchen Eingriffen nicht unbedingt schöner, es erscheint oft nur anders.

Ein Audiorama

Bevor er zu seinen an den instruktiven Beispielen deutlich gemachten Stellungnahmen übergeht, stellt Goebel zunächst die wichtigsten Theorielinien der in den Siebzigerjahren aufkommenden Sound Studies anschaulich dar. Diese versuchen, die in der Medientheorie zwischen den Bereichen Bild, Schrift und Klang die Vorherrschaft der visuellen Modelle zu kontern. Dazu zählen unter anderem die entsprechenden Untersuchungen von Murray Schafer und von Jonathan Sterne, die an entsprechende jugendbewegte und dem Bauhaus nahestehenden Entwicklung der Zwanzigerjahre wie Skrjabins »Farblichtorgel« und Oskar Schlemmers »Triadisches Ballett« anschließen, aber auch die Geschichte und die neuen Reproduktionsmedien in den gestrengen Blick nehmen.[3] Goebel interessiert sich dann insbesondere für die Interaktion zwischen Literatur und dem Verhältnis von Bild, Text und Klang in der Auseinandersetzung um das Leitmedium. Hier spielen die Theorien von Marshall McLuhan, Friedrich Kittler, Irina Rajewski oder Jochen Hörisch als Referenzen im Hintergrund eine Rolle.

Für eine postkoloniale Gerechtigkeit des Ohres

In diesen kulturwissenschaftlichen Studien bleibt immer auch der postkoloniale und gendertheoretisch unterfütterte Großstadtdiskurs präsent, der nun als Lärmhintergrund und Musik der Stadt in die moderne Literatur eingeht. Dem optischen Spaziergänger, der sein Auge dem der Kamera angleicht, wird so ein akustisch gestimmter Flaneur an die Seite gestellt, wie damit der lichte Tag durch die Wahrnehmung der lauten Nacht ergänzt wird. Neben die Stadt als Film kommt so eine Stadt als Hörspiel oder als Pendant zu Landschaft als soundscape zu stehen. Im Weiteren konzentriert Goebel sich auf das Verhältnis von Literatur und Sprache zur Musik und beiden zu den Reproduktionstechniken, so wie dieses von dem deutschen Medienwissenschaftler Friedrich Kittler (1943-2011) für das Jahr 1900 in Richtung auf die Medien Grammophon, Schreibmaschine und das Radio verschoben wurde. So reizvoll es ist, sich eine solche vermeintlich vom geisteswissenschaftlichen Seinsüberstand freie autonome Kunstwelt auszumalen, soweit folgt auch Rolf Goebel Kittlers Vorgaben. Er ist aber auch Manns genug, diese dort wieder zu verlassen, wo sie in die Irre gehen. Goebel weiß, dass die Interpretation und die Sinndebatte auf diese Weise nicht aus der Welt geschafft werden können, indem man sie einer vermeintlich neutralen Technik überlässt. Mit anderen Worten, er will sich nicht wie Kittler damit zufriedengeben, den zweiten geisteswissenschaftlichen Positivismus mit dem ersten, technizistischen, auszutreiben.

Der tönende Bleistift – Literatur und Klang

Goebel legt nach seinem Überblick entsprechende als Montagen gebaute Essays über die Frage des Verhältnisses von Bild und Text, Schrift und Musik, Literatur, Philosophie und Klang vor. Jeweils soll die fragile Korrespondenz zwischen den einzelnen Medien untersucht werden. Nicht also für ein eurozentristisches Menschenrecht des Auges, wie der Hamburger Kunstwissenschaftler Aby Warburg es für seine Zeit gefordert hat, sondern für eine heterogene und postkoloniale Sinnengerechtigkeit des Ohres setzt Goebel sich ein. Stärker als die optischen Medien lebt die Musik vom Inkommensurablen, also vom Unsagbaren. Gegenüber der optischen Erfassung der Welt, die mit Kontrolle und Distanz verbunden ist, besitzt der Bezug auf das Akustische den emphatischen Vorteil, auf eine andere Zeitwahrnehmung zu verweisen, eine direkte Verbindung zwischen Subjekt und Objekt herzustellen, die ins Objekt- und Subjektlose tendiert und zugleich ein akustisches hors champs, ein exzentrisches Feld, dass von den Reproduktionsmedien nicht erfasst wird, zu belassen, dass zugleich die Illusion nicht aufrechterhält, dieses jemals erfassen zu können.

Mit diesem Vorgehen untersucht Goebel deutsche und japanische Sprichwörter, die dem Sehen gegenüber dem Hören einen Vorrang geben und setzt sie etwa mit Anne Dudens Begriff der »Klanghieroglyphen« in New York in Beziehung. Er verweist auf die Melancholie des Verklingens, die von den technischen Medien nicht eingefangen werden kann. Anhand eines Haikus des im 17. Jahrhundert in Japan lebenden Dichters Basho seziert er den reinen und quasi subjektlosen Klang, den dort ein in den Teich springender Frosch macht:

Ein alter Teich
ein Frosch springt hinein –
der Laut des Wassers.

Einen wichtigen Teil des Buches bildet die Debatte der romantischen Musiktheorie. Diese sieht in einer »Urmusik« ein idealistisches Gegenstück zur chaotisch vorliegenden Welt, deren organische teleologische Entwicklung dorthin aber durch den Sprachsündenfall unterbrochen wird. Hier diskutiert Goebel die Entwürfe von Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. Schopenhauer hatte im Klang ein Analogon zum Ding an sich sehen wollen – eine Vorstellung, die Nietzsche zunächst übernimmt und sie mit Wagners fragwürdigen deutschen antisemitischen und antifranzösischen Kulturmodell verbindet, sich dann aber von Wagner, wie von jedem rein musikalischen Effekt distanziert. Vielmehr setzt auch Nietzsche auf das Geistige in der Musik; er kehrt aber dann doch wieder zum Klangphänomen zurück und oszilliert zwischen beiden Perspektiven. Das wichtige Kapitel endet mit dem Verweis auf Franz Kafkas Erzählung »Kinder auf der Landstraße«. Dort versucht eine Gruppe von Kindern vor einem Wald singend sich mit den Reisenden in einem vorbeifahrenden Zug mimetisch zu verbinden. Das besitzt bei Kafka hier mitschwingende Anklänge an ethnographische Motive, wenn beispielsweise die Aborigines Australiens in ihren song-lines oder die Sami Nordeuropas in ihren joiks Menschen, Landschaften und auch technische Vorgänge nicht nur darstellen, sondern singend zu erschaffen glauben. Auf jeden Fall tritt der Klang auch in der Romantik nicht nur passiv in die Welt ein, sondern erhebt selbst Anspruch auf Schöpfung. Die Resonanz, mit der der Jenenser Soziologe Hartmut Rosa in seinen Büchern gerade Erfolge feiert, stammt aus diesem Verhältnis und geht auch als Metapher auf klangliche Relationen zurück.

Bei Goebel folgen anschließend Überlegungen zu Rilkes Meditationen über das »Ur-Geräusch« und seinen Abschnitten, die als Prosagedichte in seinem Paris Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge auftauchen ebenso wie zu Heideggers Klanghermeneutik, für den der reine Lärm eine Abart des von Kierkegaard so bezeichneten »Geredes« darstellt. Thomas Manns ironisches Lob des Grammophons im Roman Der Zauberberg ist ebenso Gegenstand eines Essays, wie auch Walter Benjamins Beobachtungen zu den musikalischen Motiven der »Monstreorchester« in den Pariser Passagen als Vorläufer der Kulturindustrie. Grundsätzliche Überlegungen zur Konvergenz von Musik und Sprache schließen sich anhand eines Stücks über den Dresdner Lyriker Durs Grünbein an, bevor Goebel in seinem vorletzten Kapitel wieder auf das Motiv der technischen Reproduzierbarkeit von Klängen zurückkehrt: Kafkas Visionen einer umfassenden Kommunikation anhand des Parlographen – einer akustischen Büromaschine, mit der seine Verlobte Felicia Bauer 1913 arbeitete – bilden den Ausgang für Überlegungen zur Weiterentwicklung des autonomen Hörens mithilfe des walkmans, über den iPod zum iPad und iPhone in Verbindung mit Steaming-Diensten wie Spotify. In den heutigen konsumtiv bestimmten To-Go-Szenarien gerät die Welt zum Stummfilm, der für die eigenen Ohren beschallt wird, während die sichtbaren und immanenten Klangverhältnisse der gesehenen Gegenstände nicht mehr im Überohr erklingen können. Der »Rest« solcher neuen »Transitionskultur« ist oft genug nicht nur Schweigen (wie noch bei Hamlet), sondern auch liegengebliebener Müll oder ein stehengelassener Elektroroller.

Den Abschluss des Buches bildet ein Korollarium, das Goebels Argumentationsgang noch einmal zusammenfasst und als ein Manifest der sound studies gelesen werden kann. Dieses läßt sich nicht von der technischen Übermacht erdrücken, sondern ist an Freiheit orientiert. Goebel endet sein Plädoyer für eine Welt als Klang mit einer Flanerie-Metapher:

Diese schleifenartige Hin- und Her-Bewegung der Höraktivität zwischen technischen Klangmedien und direkt-unvermittelter Wirklichkeit gilt es, wieder in ihr Recht zu setzen in einer Zeit, in der einem durch das schier unendliche Überangebot an audiovisuellen Medienreizen das authentische Hören geradezu vergeht.[4]

Vom Verschwinden der äußeren Welt

In der heutigen Welt des digitalen Sounddesigns, wo das Geräusch zum Gegenstand bald so frei gewählt werden kann, wie der Klingelton fürs Handy, fällt auch in solchem Sound-Universum freilich tendenziell die Außenwelt fort. Die Selbstdefinitionen des Users ersetzt sie tendenziell so wie die eigene Sexuelle- und Genderidentität im »I am, what I am«. Dass die Außenwelt aber nicht einfach weg definiert oder die Sinnfrage auf die Gerätetechnik verschoben werden kann, das zeigt Rolf Goebel genau. Umgekehrt lässt sich die akustische Welt heute ohne Reproduktionsmedien nicht mehr denken. Es sei denn, man stellt sich wie bei Søren Kierkegaard in einer Dystopie eine große Klimakatastrophe als Wirbelsturm und Überschwemmung vor, die mit einem Schlag auch alle internetfähigen Geräte auslöscht. Dann muss man wieder hinhören, welches Geräusch die Gegenstände von sich aus machen, ohne elektrisch verstärkt zu sein. Und die Musik, die auf Instrumenten dann ohne Strom gespielt wird, wird das, was sie einmal war und eigentlich auch heute noch ist: eine Variante der menschlichen Stimme. Diese ahmt ihrerseits nicht nur die Welt mimetisch nach, sondern sie singt ihr damit zugleich immer auch die eigene Melodie vor. Wie jede andere Kunst, ist auch die Klangkunst eine Nachahmung der Natur, die zugleich ein Vormachen ist. Nicht unmöglich aber, dass die Welt von sich aus schweigt – so wie in Kafkas Version von Odysseus Sirenenepisode die Undinen des Mittelmeers. Die gängigere Variante ist freilich, im Reden nichts zu sagen; dafür machen die Dinge umso mehr Lärm. Ob daraus Musik und Klang wird, untersucht Rolf Goebel in seinem Buch.

Zwischen Priesterbetrug und Synästhesien

Dafür durchläuft er verschiedene Stationen der Klangstudien in der Literatur. Und er tut damit genau das, was Kittler mit seiner hypostasierten Medienaffinität vermeiden will: er kontextualisiert den Zusammenhang, mit dem man stärker zu der Deutung gelangt, die von Kittler und seinen Apologeten gerade kategorisch ausgeschlossen werden soll. Die Benennung dieses Kontextes ist hier so notwendig wie die Bemerkungen dazu in Herders Sprachtheorie, die sich mit den Lauten der Schafe beschäftigt. Beide Male geht es um den theologischen Hintergrund der Metapher: Herder ist ein Pastor, Kittler aber ein Anhänger eines Medienmessianismus. Dagegen ist Goebel ein Kritiker der reinen Lehre. Er schreibt vor allen Dingen selbst auf ironisch-mimetische Weise so wie Rilke, Heidegger, Benjamin oder Kafka, wenn er sich mit ihnen befasst und spricht ihnen so ihren musikalischen Krebs vor. Das erinnert auch an Lars Gustafssons Aufsätze, der in seinen Büchern verschiedene Philosophien jeweils als Onkelgeschichten ausgibt.

Eigentlich geht es bei Goebels Gegenstand aber um Mediensynästhesien, wie sie in der Sprache in Begriffen wie Klangfarbe, Farbklängen oder Klangbild vorliegen. Nicht nur gleichen sich ikonologische Bildanalyse und Hermeneutik strukturell, sondern Bilder werden ebenso gegenläufig gelesen wie Texte angesehen – und auch Partituren werden als Noten geschrieben und können gelesen werden, ohne dass ein akustischer Ton dabei erklingen muss. Walter Benjamin fordert bekanntlich ebenso wie sein Freund Rilke, auch das Nie-Geschrieben-wordende der Natur zu lesen. Und auch stimmt es nicht, dass nur Töne im Rahmen einer Programmmusik Bilder evozieren; auch sichtbare Verhältnisse wie der Goldene Schnitt in Architekturen oder die Abstände der Planeten, sind umgekehrt in der Lage, Töne zu evozieren. Nicht nur einstürzenden Neubauten machen ein Geräusch, sondern auch die stehenden Häuser. Musik kann ebenso geistlich sein, wie sie in ihrer Überwältigung Anklänge an Kants Erhabenes besitzt. Dass diese Effekte existieren, soll nicht in Abrede gestellt werden; die Frage mit der Goebel sich beschäftigt ist, ob es ein einziges Leitmedium oder aber eine polyvalente Erzählsituation in der Musik, in der Polyperspektive der optischen Medien oder auch der Literatur geben sollte (wie sie beispielsweise Olga Tokarczuk in ihrer diesjährigen Nobelpreisrede gefordert hat, die etwas unter dem Rummel um Peter Handke gelitten hat).

Hors champs

Entsprechende Überlegung zum Verhältnis zwischen Sehen und Hören stellt auch der erwähnte japanische Dichter Basho an. Er hatte neben seinem berühmten Froschgedicht eben auch folgendes geschrieben:

Wenn ich genau hinschaue,

sehe ich die Nazuna

in der Hecke blühen.

Nicht nur ist auch das ein Lautgedicht, sondern der Blick und das angesehene Objekt bringen beim Rezipierenden einen Ton im Sinne von Chladni oder Leadbeater zum Klingen. So sind die Grenzen zwischen den einzelnen Medien Schrift, Bild, Klang flüssig; ja, es handelt sich um keine Grenzen, sondern um Schwellen eines anderen Ganzen einer synthetischen Wirklichkeit, die von Kant immer durch die Vernunft gebildet wird. Auch das muss man nicht glauben und kann den einzelnen Sinneseindrücken jeweils so eigene Welten zugestehen, wie auch die jeweils gewählte Überblicksmetapher für das Gesamtphänomen aus den Bereichen des Hörens, des Sehens und des Fühlens immer auch etwas anderes zur Folge hat. Nicht der unwichtigste Aspekt an Bashos Gedicht jedenfalls ist, dass es sich bei der hier erwähnten Nazuna um eine kleine Pflanze handelt, die normalerweise nicht in den klassischen japanischen Kanon des Schönen aufgenommen ist. Das Deutsche kennt dafür das Wort Unkraut. Um einen solchen akustischen Augentrost kümmert sich Rolf Goebel und zieht in seinen funkelnden Essays einen ganzen Garten solcher heterogener Klangmetaphern heran. Wenn man sein Buch in die Hand nimmt, es schüttelt und genau hinhört, kann man die einzelnen Blumen klingeln hören.

[1] Vgl. Eckhardt Köhn, Straßenrausch: Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933, Berlin: Das Arsenal 1989 und Rolf J. Goebel, Benjamin heute: Grossstadtdiskurs, Postkolonialität und Flanerie zwischen den Kulturen, München: Iudicium 2001.

[2] »All together now«, Titelblatt der Zeitschrift New Yorker von Chris Ware vom Januar 2013, https://www.newyorker.com/culture/culture-desk/cover-story-all-together-now, zuletzt aufgerufen am 5. 2. 2020.

[3] Vgl. etwa Murray Schafer, Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Mainz 2010 und Jonathan Sterne, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Re-production, Durham-London 2003.

[4] Goebel, Klang, a.a.O., S. 120.

Artikel online seit 06.02.20
 



Rolf J. Goebel
Die Rehabilitation der klingenden Welt
Klang im Zeitalter technischer Medien.
Eine Einführung
Passagen Verlag
138 Seiten
978-3-7092-0279-1
15,90 €

 

 

 


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