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Kommunikation: gestört

Zwei Bücher über »Die Öffentlichkeit und ihre Feinde« und
ü
ber den wachsenden Einfluss linker Identitärer«.

Von Gregor Keuschnig
 

Der Dramaturg und Autor Bernd Stegemann widmet sich in seinem neuesten Buch "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde" mit aller gebotenen Ausführlichkeit dem aktuellen Status quo dessen, was man Kommunikations- oder auch Diskursgesellschaft nennt und beschreibt, wie Entwicklungen aus den USA auch in Deutschland immer mehr Fuß fassen. Die gleiche Thematik behandelt "Generation beleidigt", ein viel beachtetes Buch der französischen Journalistin Caroline Fourest, die sich eindeutig als Aktivistin u. a. für LGBTQ-Rechte stark macht und aus einer feministischen Position heraus argumentiert. Stegemann begnügt sich nicht mit einer Zustandsbeschreibung, sondern führt aus, wie dies den Umgang mit den tatsächlichen, existentiellen Problemen des Anthropozäns (Klimawandel, Umweltverschmutzung, soziale Ungleichheit, Migrationsströme) nicht nur hemmt, sondern verunmöglicht. Sein Buch steht im Zentrum dieser Besprechung.  

Zunächst unterscheidet er zwischen den gängigen Konzepten der spätmodernen Gesellschaftsbeschreibung: "Auf der einen Seite gibt es die Systemtheorie, die erklärt, dass jedes System einen blinden Fleck braucht, um funktionieren zu können, und die zugleich reflektiert, dass Fortschritt nur dadurch möglich ist, dass alle Systeme wechselweise ihre blinden Flecken kritisieren. Auf der anderen Seite stehen die Mythenerfinder und Fundamentalisten, die ihren eigenen blinden Fleck verleugnen und jeden Hinweis darauf als Angriff auf ihre Identität zurückweisen."

Neoliberalismus und Individualismus

Wie konnte es soweit kommen? Stegemann charakterisiert die Postmoderne als "Erzählung eines radikalen Individualismus". Damit war, spätestens nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/90, der Weg frei für das, was er "Neoliberalismus" nennt. Er verwendet den Begriff nicht in seiner ursprünglichen Bedeutung, dem ordo-liberalen Wirtschaftssystem à la Walter Eucken. Neoliberalismus ist für ihn Synonym für den entfesselten, grenzenlosen, globalisierten Kapitalismus, der unterschwellig die Prioritäten in Gesellschaft und Politik bestimmt. Er wird zur Urquelle einer sich immer weiter spaltenden Gesellschaft, deren Folgen bis hinein in die öffentliche Diskurse spürbar sind.

Neoliberalismus verbinde "ein hohes Maß an staatlicher Organisation mit einer größtmöglichen Freiheit ökonomischer Kräfte. Der Markt soll frei sein für die Interessen des Kapitals, und die Menschen sollen als Konsumenten und Arbeitskräfte diesem Markt möglichst gewinnbringend ausgeliefert sein". Damit wurde der Individualismus, der nach dem Krieg in Deutschland für ökonomischen Fortschritt sorgte, gekapert. "Der Mensch kann sein Leben frei führen, doch seine Stellung innerhalb der ökonomischen Ordnung ist unfrei. Als Staatsbürger ist er frei, als Arbeitskraft und Konsument ist seine Freiheit materiell begrenzt." Die "Legitimation des Kapitalismus" liegt darin, dass der Unternehmer die Arbeit anbietet, die der Arbeitnehmer dann ausführen darf, um entsprechend des Systems zu konsumieren. Deutlicher: Der Abhängige des Kapitals wird auch noch zum Konsumentendasein vergattert, damit die Maschine weiter arbeiten kann. Das Perfide daran: Er findet es noch gut, spielt mit. Stegemann vermeidet zwar weitergehende klassenkämpferische Rhetorik, lässt diese Deutung allerdings zu.

Tatsächlich hat sich das ökonomische Denken inzwischen tief in den Alltag eingenistet. Die Sprache tut ihr übriges. Worte wie "Vielfalt, Grenzenlosigkeit, Diversität oder Innovation" hätten zwar "einen optimistischen Klang, doch dahinter verbirgt sich eine Belastung für den Einzelnen." Die Auswirkungen dieser Politik würden, so die These, längst subkutan akzeptiert und nicht mehr befragt, weil sie als solche nicht mehr wahrgenommen würden.

"Um die Folgeprobleme für die Natur und die sozialen und psychologischen Nöte", soll sich, so interpretiert Stegemann die Adepten des Neoliberalismus "die Biopolitik kümmern." Mit Biopolitik meint er eine Regierungsform, "die sich aktiv um das Leben der Bevölkerung kümmert." Insbesondere in der Corona-Zeit ist diese stark ins Zentrum gerückt, was am Rande angesprochen wird.

Generell dürfte der notfallversorgende Sozialstaat gemeint sein, der bei Stegemann ansonsten verblüffend wenig zur Kenntnis genommen wird. Im übrigen kennt man seine Schlussfolgerung eher unter dem griffigen Bonmot, dass die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden. Woran dies liegt, bleibt bedauerlicherweise unerörtert. 
Gerade die Corona-"Biopolitik" könnte ein Gegenargument zu Stegemanns Neoliberalismus-These setzen. Die Wirtschaft tritt weitgehend zu Gunsten der "Gesundheit" der Bürger zurück. Lockdowns existieren, um das Zusammenbrechen des Gesundheitssystems zu verhindern, was bedeuten würde, dass Ärzte in ethische Dilemmata geraten könnten. Um dem Staatsbürger diese Bilder und die damit einhergehenden Diskussionen nicht zuzumuten, tritt das Primat der Wirtschaft zurück. Stegemann konnte oder wollte diesen Aspekt nicht aufnehmen.

Rechts-populistisch und links-identitär

Sein Buch argumentiert mit einem Kniff. Der Neoliberalismus wird von ihm zur dominierenden Ideologie im Diskurs der populistischen und links-identitären Bewegungen erklärt. Die Erfolgsgeschichte des Neoliberalismus habe "zu einer dialektischen Wendung geführt, bei der die Mittel seines Erfolges – die Atomisierung der Gesellschaft und Auflösung aller Zusammenhänge in relative, nur noch vom Markt zu entscheidende Ereignisse – die Grundlage dessen zerstört haben, was heute angesichts des Anthropozäns dringend nötig wäre." Populismus und rechts- wie linksidentitäre Politikentwürfe schreiben diese Atomisierung weiter fort, um der eigenen Gruppe Aufmerksamkeit zu verleihen und ihre Wünsche durchzusetzen. Stegemann referiert die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser mit ihrer These vom "progressiven Neoliberalismus", der "positive Werte wie Freiheit, Gleichheit und Offenheit für die Durchsetzung von Renditeinteressen" und, so führt Stegemann später aus, für politische Machtinteressen verwendet. (Letzteres ist ein wichtiger Punkt, der häufig übersehen wird.) Erstaunlich, dass von der sich dezidiert links definierenden Fourest dieser Aspekt in ihrem Buch nirgends thematisiert wird.

Identitätspolitik nutzt, so die Stegemanns These, die perfide Individualisierungsstrategie des Neoliberalismus. Identitätspolitik bedeutet, dass Subjekte ihren "jeweiligen Ethnien, Nationen und sozialen Verbänden" zugeordnet werden. Caroline Fourest definiert Identitätspolitik als "Bereitschaft, eine auf Minderheiten ausgerichtete Politik zu betreiben, die sich auf 'Rasse', Geschlecht und Gender bezieht". Diese subjektive Identität wird zum (macht-)politischen Inhalt gemacht. Ziel sei es, so Stegemann wieder, "einzelnen Stimmen mehr Gewicht und anderen weniger Gewicht zu verleihen". Es geht darum, "wessen Interessen in welcher Form öffentlich verhandelt werden dürfen." Und wer dies entscheidet.

Das Denken dahinter ist nicht nur totalitär, sondern selber diskriminierend. Der Mensch ist nicht fähig, aus dieser Identität in irgendeiner Form zu entfliehen. Stegemanns Beschreibungen dieser "Politik" erinnern von Ferne an die Zunft- und Ständegesellschaften des Mittelalters oder an die gesellschaftlichen Barrieren des 19. Jahrhunderts, in denen Bürgertum und Adel getrennt bzw. sozial kaum durchlässig waren. Heutzutage wird die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Minderheit zur Grundvoraussetzung um gesellschaftliche, politische oder ästhetische Sachverhalte kommentieren zu dürfen. Wer dann nicht der gleichen Ethnie, Hautfarbe und/oder (sexuellen) Orientierung angehört, gilt nicht mehr als satisfaktionsfähig. Aus dem Gefühl, diskriminiert zu werden, wird ein allgemeingültiger Geltungsanspruch abgeleitet. Welche Blüten dies treiben kann, ist bei Fourest in zahlreichen Beispielen aus den USA, aber auch Frankreich und Belgien, intensiver beschrieben als bei Stegemann. Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Übersetzung eines Gedichts einer schwarzen Autorin zeigen, dass dies längst keine Einzelfälle mehr sind.

Die derart entstehende "Wokeness", eine proaktive Suche nach "Verstößen gegen die politische Korrektheit […], um sie anschließend skandalisieren zu können", erzeugt Dissonanzen in der Öffentlichkeit. Dabei ist mit dem (moralischen) Aufschrei weder eine Korrektur bzw. Beseitigung von Missständen beabsichtigt noch ein diskursiver Austausch gewünscht. Ziel ist die "öffentliche Vernichtung". Argumente werden, wenn sie überhaupt noch berücksichtigt werden, entweder mit Tautologien beantwortet (es ist so, weil es so ist) oder ad hominem gegen den gerichtet, der sie vorbringt. Er hat zu schweigen und, wenn er dazu nicht bereit ist, wird versucht, ihn zum Schweigen zu bringen. Aus Gegnern werden Feinde. Das Resultat ist bisweilen das, was gemeinhin "Cancel Culture" genannt wird.

Versuche "moralischer Reinheit"

Diese Mechanismen haben, wie vor allem Fourest eindringlich schildert, längst im universitären Bereich vor allem in angelsächsischen Ländern Einzug gehalten (aber nicht nur). Die Folge ist eine rigide Form der "unversöhnlichen Parteilichkeit" (Stegemann). Dies färbt auch bereits auf Leitmedien ab. Öffentlich-rechtliche Medien vergeben Sendezeit an Identitätsaktivisten und diskutieren, ob bestimmte Protagonisten überhaupt noch zur Kenntnis genommen werden sollen.

Stegemann decouvriert die sich hier zeigenden Allmachtsphantasien und Widersprüche (die er "blinde Flecken" nennt). Er analysiert die Situation deutlich unaufgeregter als Fourest, die zum Teil aus persönlicher Erfahrung heraus schreibt und für die Protagonisten Bezeichnungen wie "Inquisitoren", "Gedankenpolizei", "Epidermis-Besessene" oder "Kultur-Taliban" findet. Diese harte Sprache ist auch darin begründet, dass auf der Welle des "Antirassismus" in ihrem Heimatland Frankreich auch muslimisch-fundamentalistische Kräfte surfen, die jede Kritik an der Durchsetzung universalistischer Werte als "Islamophobie" denunziert. 

Die Form der Eliminierung unliebsamer Ansichten "unterscheidet sich von archaischen Tabuisierungen dadurch, dass sie kein gesamtgesellschaftliches Interesse mehr verfolgt, sondern die individuelle Empörung zum allgemeinen Maßstab erklärt", so Stegemann. Beabsichtigt ist eine Form intellektueller, politischer und, was die Kunst angeht, auch ästhetischer "Reinheit". Und hier findet er tatsächlich wieder zu seinem Gegner zurück, dem Neoliberalismus: "Dass immer mehr Künstler in der Spätmoderne für sich selbst […] nach einer Position der moralischen Reinheit streben, zeigt, wie erfolgreich die neoliberale Ideologie ist."

Stegemann belässt es nicht bei der Beschreibung des Ist-Zustands. Er verschränkt Individualismus, politische Korrektheit und Cancel Culture zu Phänomenen der "neoliberalen Spätmoderne". Sie sind, so die These, verantwortlich für die mehrfach gestörte Kommunikation in der Öffentlichkeit.

Kritik an Mechanismen kontern Identitäts- und Korrektheitsadepten, die Stegemann "Profiteure der doppelten Standards" nennt, damit, die Phänomene entweder zu beschwichtigen oder schlichtweg zu leugnen. Auch hier werden Parallelen zum Neoliberalismus erkannt, der sich vor Kritik geschützt hat, "indem er die Ursache der Ungleichheit unsichtbar gemacht hat". "In der Debatte um Political Correctness" wird der Trick der Leugnung "seit vielen Jahren praktiziert. Wer eine Sprachregulierung als zensierenden Eingriff bezeichnet, dem wird automatisch entgegnet, dass es Political Correctness gar nicht gibt. Wer etwas anderes behauptet, hängt einer politisch verdächtigen Meinung an.". Ähnlich funktioniert das Prinzip der Leugnung von Cancel Culture.  

Wie sollen so die existentiellen Probleme bekämpft werden?

Die Konsequenzen für die Gesellschaft sind immens, weil sie der existentiellen Probleme der Erde, wie dem des Klimawandels, nicht gerecht werden. Unterdessen geht nämlich die "systemisch gewordene Gier nach Wachstum" ungebremst voran. Die Menschheit sei "taub für die warnenden Signale der Ökologie". Eine Gesellschaft, die hierauf nicht angemessen reagieren kann, weil sie kommunikativ gestört ist, wird die Probleme nicht lösen.

Stegemann schließt in der Kritik ausdrücklich auch beispielsweise Bewegungen wie "Friday for Future" ein. Deren Protestkommunikation wiederhole die Streitstruktur und verfestige dadurch die Widersprüche. Zwar konzediert er, dass sie "zu den Mitteln der Komplexitätsreduktion greifen" müsse und attestiert hier insbesondere zu Beginn der Aktivistin Greta Thunberg durchaus eine richtige Wahl des Protestes. Inzwischen würde jedoch von wohlsituierten Gymnasiasten und Studenten nur noch eine "rechthaberische Subjektivität" gepflegt. Er sei eben "kein Streik derjenigen, die in der ressourcenintensiven Industrie oder im Niedriglohnsektor arbeiten, oder derjenigen, die arbeitslos sind. Es sind die Vertreter immaterieller Werte, deren Lebensgrundlage von kognitiver oder emotionaler Arbeit abhängt, die demonstrieren. Mit einem Wort: Die Klimabewegung ist der neue Ausdruck eines alten Klassenverhältnisses."

Was müsste geschehen? "Wären die Protestierenden den Weg des eigenen Opfers weitergegangen und hätten z. B. einen Konsumverzicht vorgelebt, wären ihre Aktionen wie ein Meteorit in die Konsumgesellschaft eingeschlagen." Dies sei jedoch unterblieben – stattdessen verschanzten sie sich hinter utopisch anmutenden Maximalforderungen und einem eher unterkomplexen Wissenschaftsbegriff.

Zwar ist Stegemann nicht abgeneigt, die naturwissenschaftlichen Fakten in Bezug auf den Klimawandel als Basis für den Protest einzubinden. Aber er kann nicht ausblenden, dass die Wahrheiten der Naturwissenschaften, "die als Kronzeugen für rational geführte Diskurse herhalten" "immer nur so lange gelten, bis sie widerlegt worden sind". "Die" Naturwissenschaften (die ja keine homogene Masse sind) drohen, mit der Kommunikation dieser Wahrheiten "in die Fallen der strategischen Kommunikation" zu tappen. Denn "jedes Argument [erhält] durch seine Übertragung in die Politik eine zweite Dimension. In dieser wird danach gefragt, wessen Interessen in der Tatsache vertreten werden.". Hierin liegt ein nicht unerhebliches Problem – eben auch in der diskursiven Auseinandersetzung um "die" Wissenschaft.

Die aktuelle Form der Proteste wird vom Autor nicht per se abgelehnt, jedoch plädiert er zusätzlich für "eine neue Form der geistigen Einstellung", der ein "weiter Blick für die ökologischen Zusammenhänge" schaffen soll. Die Hürden "innerhalb einer cartesianisch-kapitalistischen Logik die Erde anders denken zu wollen" seien hoch. Das klingt nach Systemwechsel – aber das Wort fällt nicht. Man ist überrascht, wenig später von "Demut" zu lesen, die es bräuchte, "um sich der Ökologie zu nähern". Zwar gehöre "den Lauten, den Panischen, den Auftrumpfenden" immer noch die Welt. Aber dabei ginge die Erde "kaputt". Demut sei die "psychologische Antwort auf die Transzendenz der Ökologie". Das ist aller Ehren Wert – aber ist es die Lösung?

Alternativen?

Stegemanns Thesengeflecht ist interessant, aber er macht es bisweilen ein bisschen einfach. So fragt man sich, worin das Gegenmodell des von ihm teilweise zu Recht kritisch beäugten Individualismus liegen könnte. Denn aus guten, vor allem historischen Gründen, betrachtet man kollektivistische Gesellschaftsentwürfe spätestens in den 1960er Jahren mit großen Vorbehalten. Wie tief diese verankert waren (und immer noch sind) zeigte sich während des Prozesses der Wiedervereinigung 1989/90 und, sogar noch stärker, 2006, als kurzzeitig ein neues nationales Selbstbewusstsein durch die deutsche Fußballnationalmannschaft während der Weltmeisterschaft im eigenen Land aufkam. Alleine die Neigung vermehrt deutsche Fähnchen zu zeigen wurde sofort argwöhnisch getrachtet und sogar diffamiert. Als der grüne Politiker Robert Habeck 2010 in einem Buch für einen neuen, linken Patriotismus plädierte, machten speziell linke Kritiker eine Wiedereinführung des preußischen Nationalismus mit Pickelhaube aus. Wie auch immer: Politische Entwürfe für Gemeinsinn und Allgemeinwohl gelten immer noch als problematisch und suspekt. Was weitgehend sanktionslos bleibt ist der Bezug auf sich selber. Und daran hat der "Neoliberalismus" nicht den größten Anteil

Denn auch die Adepten eines eher fürsorglichen Staat vermögen nicht mehr zu überzeugen. Zu stark das Versagen in sozialistischen Modellen. Und auch die aktuelle Lage in der Pandemie und das virulente Staatsversagen in Deutschland was das vorausschauende Handeln angeht, dürfte eher ein abschreckendes Beispiel für eine Revitalisierung eines allzu dominanten Staates sein. Wenn Politikern in Anbetracht ihrer Unterlassungen nichts weiter bleibt, als die Bevölkerung einzusperren, dürfte kein neues, intellektuell produktives Gemeinwesen entstehen.

Auch dass die Religion als Bindungsglied längst nicht mehr existiert, ist Fakt. Dies war der Weg von der Aufklärung zur Moderne (die inzwischen mit der großzügigen Auslegung der Religionsfreiheit ihre Probleme hat – hierzu einiges bei Fourest). Vereinzelt gab es Entwürfe, säkulare und zugleich gemeinsinnstiftende Ideale zu etwas Neuem zu formen. Die gängigste Form, das Modell der deliberativen Öffentlichkeit, verwirft Stegemann: "Das deliberative Verfahren ist […]  keine neutrale Methode, sondern als Verfahren schon Teil einer bestimmten politischen Haltung". Am Ende wird das Urteil gefällt: "Bei der deliberativen Öffentlichkeit handelt es sich […] weniger um eine zutreffende Beschreibung der realen Öffentlichkeit als vielmehr um eine Wunschvorstellung." Auch der aus gleicher Quelle herangezogene Verfassungspatriotismus vermochte nicht Bindungskräfte innerhalb der Gesellschaft zu erzeugen. Hinzu kam schließlich, dass die immer stärkere Fokussierung auf die Europäische Union (nicht zuletzt durch die in zahlreichen Staaten eingeführte Gemeinschaftswährung) nicht den gewünschten Effekt eines "europäischen" Verständnisses erzeugte, sondern innerhalb der Finanzkrise 2008f ins Gegenteil umschlug. Es ist eben schwierig, politische Utopien von oben zu "verordnen".

Insofern ist der Individualismus, der jetzt im rechts-populistischen wie auch links-identitären Lager die skurrilsten Blüten treibt, das Produkt der seit Jahrzehnten fortschreitenden und nach dem Zusammenbruch des Kommunismus endgültig erfolgreichen Entkollektivierung von Individuen. Die Konfrontationen, die jetzt entstehen, werden nicht zuletzt aufgrund der digitalen Medien in Echtzeit auf dem kommunikativen Markt sichtbar, sofort virulent und von Leitmedien aufgenommen und teilweise sogar forciert.

Für Stegemann ist es der "Neoliberalismus", der diese Spaltungstendenzen geradezu erzeugt. Er ist Verursacher nicht nur für die Atomisierung des Diskurses sondern damit am Ende sogar für die Handlungslosigkeit was die globale Umweltzerstörung angeht. Sicherlich, man muss nicht Koch sein, um festzustellen, dass die Suppe versalzen ist. Aber welche anderen Rezepte bieten sich an? Wie wird der notwendige Bewusstseinswandel, von dem gegen Ende die Rede ist, herbeigeführt? Neben Demut fällt das Wort "Transzendenz". Auf der letzten Seite steht dann, leicht raunend, pathetisch: "Die Transzendenz der Ökologie zeigt sich uns nicht von sich aus, und wir haben die kulturellen Mittel verlernt, mit denen frühere Gesellschaften versucht haben, das Transzendente in die menschliche Gegenwart zu holen." Und das natürlich ohne Gott. Bliebe die Frage, wie man all das Verlernte wieder Erlernen und positiv einbringen kann, ohne in einen Klima- oder Umwelt-Dogmatismus zu verfallen.

Fourests Schluss sieht anders aus. Sie will den identitären "Tribalismus" mittels "konstruktiver Kritik" und dem uneingeschränkten Eintreten für universalistische Werte bekämpfen, den "Selbsthass" der Protagonisten angreifen. Man müsse dahingehend überzeugen, dass sich "antirassistisch" nennende Identitätspolitik (die in Wirklichkeit reiner Rassismus sei), nur den rechtsidentitären Kräften in die Karten spielen würde. Diesen Prozess könne nur durch eine universalistische Linke geschehen, die multikulturalistisch denke und agiere. Konservative will sie nicht dabei haben, sie würden nur ein zurück in eine monokulturelle Welt anstreben. Fortschritt bedeute nicht, so Fourest, "schweigen zu lernen, sondern besser reden zu lernen." Stegemanns unterschwellige Klassenrhetorik kommt bei ihr nicht vor, vermutlich weil die den weithin ausgelobten "Rassenkampf" als das dringlichere Problem als den einstigen "Klassenkampf" verortet.

Die Vorgänge, die beide Autoren beschreiben, sind mehr als nur Verirrungen harmloser Wirrköpfe. Frankreich und Deutschland sind dabei noch nicht auf dem Hysterieniveau der USA. Aber auch in Deutschland stellt sich zunehmend die Frage, wie man mit Menschen redet, die keinem Diskurs, keinem Argument gegenüber offen sind und somit jeglichen politischen Kompromiss a priori negieren, indem sie Maximalforderungen stellen, von denen sie nicht abrücken. Stegemann beschreibt, was dies für die gesellschaftlichen Herausforderungen in Zeiten von Klimawandel, Umweltzerstörung und – aktuell – Pandemie bedeutet. Es geht am Ende um mehr als nur ein paar lächerliche Sprachregelungen oder wer ein Gedicht übersetzen darf. Es geht darum, wie man gemeinsam existentielle Probleme löst. Oder ob man dies lautstarken Minderheiten – ob von rechts, von links oder aus der "antirassistischen" Ecke – überlässt. Das wäre, so zeigen beide Bücher, keine Alternative.

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Artikel online seit 27.03.21
 

Bernd Stegemann
Die Öffentlichkeit
und ihre Feinde

Klett-Cotta
384 Seiten
22,00 €
978-3-608-98419-4

Caroline Fourest
Generation Beleidigt
Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei.
Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Eine Kritik

Critica Diabolis 284
Aus dem Französischen von Alexander Carstiuc, Mark Feldon, Christoph Hesse
144 Seiten
18.- Euro
978-3-89320-266-9

Leseprobe

 

 


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