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Sein & Werden
oder Wie ein alter Aussteiger junge Einsteiger motiviert

Maria Speths dreieinhalbstündiger Dokumentarfilm
über einen Lehrer & seine Migrantenkinder

Von Wolfram Schütte
 

Es kommt gewiss nicht alle Tage vor, dass ein dreieinhalbstündiger Dokumentarfilm, dem die Jury der Berlinale zwar einen Silbernen Bären zugesprochen hat, aber auch noch den Publikumspreis des Festivals gewinnt. Der deutschen Filmmacherin Maria Speth ist das dieses Jahr mit »Herr Bachmann und seine Klasse« gelungen.

Gewiss: die »Schule«, durch die jeder einmal gegangen ist & ein mitreißender Lehrer, wenn man Glück hatte, sind per se im Kino attraktiv, von der unverwüstlichen »Feuerzangenbowle« an. Oder man denke an den zu Tränen treibenden »Club der toten Dichter« (1990) von Peter Weir & den unvergesslichen Robin Williams. Oder man erinnere sich (wenn man das große Vergnügen hatte, ihn zu sehen) an Nicolas Philiberts eindreiviertelstündigen Dokumentarfilm » Sein und Haben« (2002),

In dessen Mittelpunkt steht eine einsam in der menschenleeren Auvergne gelegene »Zwergschule«, der Lehrer Georges Lopez  & seine 10-12 bäuerlichen Grund-Schüler, die täglich bei Wind & Wetter von weither mit dem Schulbus kommen & am Schuljahresende die Zwergschule verlassen werden – wie der nach 35 Berufsjahren in Pension gehende Lehrer, der dann nicht nur seine Schüler, sondern auch seine Bleibe verliert: das Schulhaus, in dem er zwanzig Jahre lebte & lehrte.

Ganz sicher hat die deutsche Regisseurin das französische Meisterwerk, das den europäischen Dokumentarfilmpreis 2002 erhalten hat & in Frankreich von über einer Million Zuschauern besucht wurde, ebenso sympathetisch gesehen wie studierend sich von ihm anregen lassen. Die erzählerischen & thematischen Parallelen sind offensichtlich, so dass der deutsche Film  teilweise wie die umfangreichere Variation des französischen » Etre et Avoir « erscheint. Das ist mitnichten problematisch, gar plagiatsverdächtig.

Philibert wie Speth behaupteten, ursprünglich ein ganz anderes dokumentarisches Vorhaben gehabt zu haben & gewissermaßen erst nebenbei auf ihre Lehrer & Schüler gestoßen zu sein. Während der Franzose einen Film über südfranzösische Einöd-Bauern vorhatte, so die Deutsche über die ländliche Industrie-Stadt Stadtallendorf, in der 70 % der Einwohner eine »Einwanderergeschichte« haben. D.h. die meisten sind in der Nachkriegszeit als heimatvertriebene Ostdeutsche hier angesiedelt worden, 24 %  haben einen »Migrationshintergrund« & ca. 5.000 von ihnen sind (vornehmlich türkischstämmige) Muslime Die Kinder kommen aus 9 verschiedenen Kulturen & unterschiedlichen sozialen Milieus.

Beide Filmmacher beginnen ihre Filme mit einer Reminiszenz an ihr ursprüngliches Vorhaben. In Philiberts »Etre et Avoir« hört man zuerst die Rufe der Bauern, die im harten Winter der Auvergne ihr Vieh auf den verschneiten Weiden zusammentreiben, bevor man sieht, wie der Schulbus die Kinder sammelt. Auch in Speths »Herr Bachmann und seine Klasse« herrscht Winter, als man ein Auto verfolgt, das in aller Herrgottsfrühe in die Kleinstadt fährt & vor einem Schaufenster hält, Bald beobachtet man den Pendler, der dem Auto entstiegen war, wie er geschäftig die Kringel für Brezeln zusammenlegt, die er in den Backofen schiebt. Es ist ein türkischer Bäcker bei seiner täglichen Arbeit.

Herrn Bachmanns Stimme hört man, bevor man ihn & seine Schüler im Klassenraum der Georg-Büchner-Gesamtschule sieht. Keine »Lehrerstimme«, eher kolloquial im jugendlichen Jargon der Gegenwart: »auf Augenhöhe« inmitten seiner Schüler & Schülerinnen, die erkennbar aus unterschiedlichen Migranten-Milieus stammen. »Herr Bachmann« (wie er sich anreden lässt) ist ein älterer »Kumpeltyp« in Jeans & T-Shirt mit Wollmütze - ein Alt-68iger Musiker & Holzschnitzer, der einst aus materieller Not das Lehramtsstudium absolvierte. Später, in einem Gespräch, bekommt man noch mit, dass er außerhalb von Stadtallendorf im Ländlichen bei einem Bildhauer wohnt – offenbar geschieden, weil auch mal von seinen zwei bereits erwachsenen Kindern die Rede ist.

Im Klassenraum sitzt er zwar erhöht an einem Pult; aber sein Unterricht ist gar nicht »von oben herab«, eher unautoritär. Zwar besteht er hin & wieder darauf, dass die Jungs & Mädels seinen geäußerten Ordnungs-Wünschen entsprechen & bestraft auch, indem er »Täter« mal des Klassenraums verweist; dabei liebt er es doch, unter ihnen allen sich aufzuhalten, quasi einer von ihnen zu sein & sie zu  Wettbewerben im Zeichnen & Poetisieren aufzufordern oder  mit ihnen auch Musik zu machen wie auch sie zu Geschicklichkeitsspielen anzuregen & dabei mit ihm in Konkurrenz zu treten.

Vor allem aber liegt ihm daran, den Zehn- bis Zwölfjährigen so viel Freiheit wie möglich zu vermitteln, zusammen mit gegenseitigem Respekt & persönlicher Achtung. Immer ist seine gesprächsweise Kritik anreizend-anregend & förderlich formuliert. Jeder darf alles sagen, muss dann aber auch auf Herrn Bachmanns Rück-Fragen sowohl antworten als auch begründen, was & warum er das Gesagte denkt & geäußert hat.

Hierbei wird man  durch Speths erzählerische, dynamisch-dramatisierende Montage Zeuge, wie Toleranz gewissermaßen im »herrschaftsfreien Diskurs« (Habermas) unter den Jugendlichen aufblüht – besonders, weil der Lehrer diese jungen Menschen immer dazu animiert, sich selbst im wechselseitigen Gespräch über ihre Ansichten, Meinungen oder Vorurteile zu verständigen & ggf. in der allgemeinen Diskussion sich zu »kurieren«. Was nicht heißt, dass alle aufgetretenen Konflikte gelöst & alle damit zufrieden wären. Es bleiben auch Fragen & Verhalten offen; die Kinder geben sich unterschiedlich & manche gar nicht preis.

Solche »Selbstaufklärung« untereinander (statt autoritärer Erziehung durch Lehrer-Macht) hatte auch Georges Lopez in seiner »Zwergschule« praktiziert. Man hört & sieht in beiden Fällen am ebenso liebevollen wie respektvollen Verhältnis zwischen den Vorschulkindern & ihrem Klasse-Lehrer (et vice versa), dass eine solche quasi familiale Pädagogik zur individuellen Würde im Kollektiv der lernenden jungen Menschen erzieht.

Ein Höhepunkt des Films, der gemeinsame Erlebnismomente der Klasse im Verlauf eines Schuljahres wie eine fortlaufende Romanerzählung vor einem ausbreitet, ist jener Zeitpunkt, an dem »Herr Bachmann« mit den Schülern über seine Benotung ihrer Leistungen sprechen muss, aufgrund deren sich ja entscheidet, wer in die Realschule oder ins  Gymnasium wechselt (wohin 8 oder 9 Kinder dieser  Klasse von ca. 20 Vorschulkindern gegangen sind).

In diesem kritischsten Augenblick des gesamten Schuljahrs »erntet« aber »Herr Baumann«, was er durch sein pädagogisches Verhalten in ihnen allen »gesät« hatte: Neidlose, offene Selbsterkenntnis & Fairness. Behutsam wägt der Lehrer dabei mit jedem Einzelnen vor allen anderen ab – auch durch Vergleichen untereinander -, ob & warum seine Beurteilung gerechtfertigt ist, so dass sie auch von den Betroffenen verstanden & akzeptiert wird.

Der innerste Kern von »Herrn Bachmann und seine Klasse« ist natürlich deren miteinander verbrachte Zeit: in der Schule & auf einer offenbar verregneten Klassenfahrt. Als Zuschauer & -hörer dabei zu sein, ist ein aufwühlendes, herrliches Erlebnis  der Anteil nehmender Menschenkunde. Dazu gehörte auch jene rührend-komische Passage, in der der Lehrer  einen konservativ-autoritären Vater dazu bringt, doch noch verschämt stolz zu werden über seine singende Tochter, die Popsängerin werden will – obwohl er strikt dagegen war.

Zwar machen wir im Lauf der filmischen Erzählung auch Bekanntschaft mit einer hochschwangeren Kollegin & einem jüngeren befreundeten Lehrer (beide mit »migrantischem Hintergrund«), aber vom Rest des Kollegiums (& was es von der Pädagogik Bachmanns hält) erfährt man nichts.

Was vielleicht auch gut ist & zum Kalkül der Filmemacherin gehörte, die durch den Film ja keinen Konflikt in der Schule provozieren oder hinterlassen wollte. Es wäre gewiss verwunderlich, wenn Bachmanns anti-autoritärer Marsch durch die Institution der Schule in Begleitung eines Filmteams unumstritten (gewesen) wäre.

»Herr Bachmann und seine Klasse« ist aber nicht »bloß« die Langzeit-Beobachtung einer »pädagogischen Provinz«, in der ein politisch- & existentiell gescheiterter »Aussteiger«, der zum Lebens- & Lehrens-Künstler wurde, einen prekären Bereich unserer Gesellschaft beispielhaft kultiviert. Das 21.000 Einwohner zählende Stadtallendorf im Hessischen ist ein besonderer Ort. Er hat für die jüngste deutsche Geschichte symbolische Bedeutung.

Während des Nationalsozialismus wurde das unscheinbare Allendorf zum Standort der größten Munitionsfabrikation Europas. Während des 2. Weltkriegs  lebten & arbeiteten dort zeitweise 17.000 Menschen, deren »Migrationshintergrund« durch ihre Zwangsrekrutierung bedingt war. Ein Dokumentationszentrum erinnert an diese Nazi-Zeit, Bachmann besucht es mit seiner Klasse.

So wie der Film den Besuch dokumentiert & dabei historisches Filmmaterial integriert, wird die filmische Erzählung immer wieder durch kurze Momentaufnahmen der jetzigen Innenstadtstraßen mit ihren türkischen Geschäftsschildern oder Einstellungen auf mehrstöckige Wohnblocks unterbrochen. Sie haben die Aufgabe, das heutige Erscheinungsbild am Erlebnisort Stadtallendorf anzudeuten; aber dienen auch gewissermaßen als optische Zwischenspiele, um den primären Schulstoff zu gliedern - gleichsam wie Absätze in einem längeren Text.

Aus über 200 Stunden Filmmaterial hat Maria Speth in dreijähriger Schnittarbeit die 217 Minuten ihres »Herr Baumann und seine Klasse« destilliert und zu einer spannenden Erzählung verdichtet. Es ist ihr künstlerischer Stolz, allein durch ihre Montage nur das dokumentarische Material  von sich sprechen zu lassen (ohne dass die Filmemacherin in Erscheinung tritt, indem sie z.B. auch nur zusätzliche Fakten schriftlich hinzufügt), Wie es Flaubert vom Romancier verlangte, hinter dem autonom erscheinenden Text zu verschwinden, so ist es die künstlerische Intention Maria Speths als Schöpferin des Films unsichtbar zu bleiben.

Das ist auch in der Evokation von schulischem Alltag hervorragend gelungen. Offenbar haben Herr Bachmann & seine Klasse die Präsenz von Kamera- & Tonmann bei ihrem intimen Umgang & Zusammenspiel nicht irritiert, so dass die Regisseurin das von ihr ausgewählte dokumentarische Material »nur noch« episch zu organisieren braucht.

Jedoch scheint mir die Einbettung der Haupthandlung in Gegenwart & Vergangenheit, Ort & Umgebung nur skizzenhaft, womöglich zu diskret angedeutet, um seine metaphorische Bedeutsamkeit entfalten zu können.

Der Film hätte nichts von seiner künstlerischen Autonomie & Qualität verloren, wenn Maria Speth alle jene stadtgeschichtlichen Fakten über das Besondere an Stadtallendorf  (wie vielleicht auch Details ihrer Produktionsarbeit), die im Presseheft nur den Rezensenten zur Verfügung stehen, in einem vorgeschalteten Insert dem Publikum bekannt gemacht worden wären. Das volle Verständnis für den Mosaik-Charakter dieses filmischen Poems über Sein & Werden im Deutschland unserer Tage wäre dadurch befördert worden; & das Publikum hätte begriffen, welche Arbeit Maria Speth leisten musste, um das Wunder von »Herr Baumann und sein Klasse« uns vor Augen & Ohren stellen zu können.   

Artikel online seit 16.09.21
 

 

 


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