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Drehbuch-Spekulation

Überlegungen zu Ilker Cataks vieldeutigem Film »Lehrerzimmer«

Von Wolfram Schütte
 

Die Schule, vor allem das gespannte Verhältnis von Lehrern & Schülern, ist eines der beliebtesten Genres des Kinos. Man braucht nur z.B. an »Die Feuerzangenbowle« oder den »Club der toten Dichter« zu denken, um sich, ganz willkürlich & oberflächlich, die Geschichte & thematische Vielfalt des Themas im Film vor Augen zu stellen. Erst kürzlich war das dreistündige semidokumentarische »Herr Baumann und seine Klasse« ein Überraschungserfolg des deutschen Films – nicht zuletzt dank der sympathischen Titelperson.

Der 1984 in Berlin geborene Ilker Catak hat zum Zentralort seines Schul-Films das »Lehrerzimmer« genommen. Dort treffen sich täglich die »Lehrkräfte« in der Zeit zwischen ihren Unterrichtsstunden in den jeweiligen Klassenräumen. Für Schüler ist das Lehrerzimmer normalerweise tabu – wenn nicht, wie hier, zwei Klassensprecher einbestellt wurden, um sie zur Denunziation eines ihrer Klassenkameraden drängend zu überreden.

Der brillante Film, der in irgendeinem Gymnasium spielt, nimmt die Schule als Modellfall für die derzeitige Gesellschaft insgesamt. Aber das Lehrerzimmer ist nur ein Ort, an dem sich das Thema von Ilker Cataks »Lehrerzimmer« entfaltet. Als der Film auf der jüngsten Berlinale Premiere feierte, sah die deutsche Kritik (neben der überwältigend präsenten Hauptdarstellerin Leonie Benesch, die in fast jeder Einstellung im Zentrum steht), wie der »Idealismus« dieser Carla, einer gerade von der Universität in den Alltag eines Gymnasiums gekommenen Junglehrerin, mit jeder ihrer »Gutmenschen«-Taten tiefer in die Bredouille bei Schülern, Eltern  & Kollegen kommt.

Carla hatte mithilfe ihres Laptops die allseits beliebte Schulsekretärin Frau Kuhn als Diebin identifiziert & damit die lange Zeit rätselhaften Diebstähle in der Schule zwar beendet, aber zugleich alle gegen sich aufgebracht. Liegt es gar daran, dass zum »Schutz der Betroffenen« der Konfliktfall nicht »an die große Glocke gehängt« wurde?

Die ebenso faszinierende wie zunehmend bedrückende Atmosphäre des Films entsteht aus der gnadenlos fortschreitenden Isolation der jungen Frau im Kosmos der Schule. Ilker Catak ist mit »Lehrerzimmer« ein klaustrophobisches Drama über den Fluch der guten Tat gelungen.

Aber diese »Lesart«, die durch die Blickkonzentration auf die Handlungsweisen der Mathematik-& Sportlehrerin Carla naheliegend ist – der Film spielt ausschließlich in der Schule -  lässt aber auch noch eine ganz andere Interpretation zu, weil das Drehbuch (Johannes Dunker/Ilker Catak) & die Montage diese Möglichkeit akzentuieren. Und zwar dadurch, dass die freigestellte Sekretärin & ihr Sohn – der intelligenteste Schüler Carlas – die Junglehrerin entschieden öffentlich »bekämpfen«.

Als die Direktorin der Diebin ihre Verfehlung vorhält, leugnet diese wutempört – obwohl das Indiz ihres Diebstals auf dem Laptop zweifelsfrei zutreffend ist. Später verlangt ihr Sohn von Carla, sie solle sich bei seiner Mutter öffentlich entschuldigen, andernfalls werde sie schon sehen, was passiert. Da Carla seiner Erpressung nicht nachgibt, kann sie nur wehrlos zusehen, wie er seine Klassenkameraden auf dem Schulhof gegen sie aufwiegelt: strukturell eine Wiederholung dessen, was seine Mutter bereits auf einem Elternabend gegen die Lehrerin unternommen hatte, um sie zu diskreditieren.

Auch später taucht die entlassene Diebin in der Schule wieder auf: im Regen stellt sie sich mit Fahrrad geradezu demonstrativ drohend vor die Glasscheibe der Turnhalle, in der Carla unterrichtet. Carla hatte im Verlauf des Konflikts den Sohn der Diebin auf ihre Seite zu ziehen versucht. In der Klasse wurde er von seinen Mitschülern gemobbt. Carla hatte ihm einen »Zauberwürfel« geschenkt – wohl auch, um der Sippenhaftung entgegenzuwirken & ihm ihre Wertschätzung zu zeigen. Er schlägt das Geschenk aus & brütet vor sich hin. Erst am offenen Ende des eskalierten Konflikts taucht der Zauberwürfel wieder in der Hand des Schülers auf. Indem er Carla gegenüber nun demonstriert, dass er das Rätsel des Zauberwürfels lösen kann, könnte damit auf der symbolischen Ebene angedeutet werden, dass er seine »Verhexung« durch die Mutter auflöst - & sich von ihrem Verhalten lossagt..

Diese Interpretation ginge von einer allegorischen Erzählstruktur aus – was so verwunderlich nicht wäre, weil »Das Lehrerzimmer« einen Modellfall darstellt & alle Personen nur als Akteure in der Schule im ungelöst bleibenden Konflikt miteinander zeigt. Die Empörung der durch die moderne Technik überführten Diebin ist nicht die letztlich hilflose Leugnung der Ertappten. Von ihrem schlechten Gewissen: keine Spur. Im Gegenteil: der gewissenlose rigorose Angriff auf den allgemeinen Konsens der Empirie & deren Logik.

Eher setzt Frau Kuhn à la manière de Trump ganz bewusst ihre »alternative Wahrheit« ein, um das Vertrauen in die Wahrheit erwiesener Fakten zu untergraben. Es ist »das Böse« (im metaphysisch-fundamentalen Sinn), dem die liberal-demokratische, humanistische Lebenswelt (die in der Schule die Tagesordnung ist) nichts faktisch entgegensetzen kann, das zugleich ihren eigenen Toleranz-Geboten entspricht. Ilker Cataks »Lehrerzimmer« zielt als dramatisches Modell mitten in das prekäre Zentrum unserer liberalen Demokratie & stellt die Frage, wie die liberale Demokratie mit ihren, sie ausnutzenden Feinden umgehen soll, bzw. muss, um sich selbst gegen den praktizierten Nihilismus des anything goes zu behaupten.

Artikel online seit 17.04.23
 

Das Lehrerzimmer
1 Std. 38 Min. / Drama
Regie: İlker Çatak
Drehbuch: İlker Çatak, Johannes Duncker Besetzung: Leonie Benesch, Michael Klammer, Rafael Stachowiak  

 

 


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