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Schimmel im
Mauerwerk |
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Wenn sich 39 Prozent der Wahlberechtigten eine einzige starke Partei wünschen und 19 Prozent eine Diktatur unter bestimmten Umständen für eine wünschenswerte Option halten, steht das bundesrepublikanische Gebäude nicht auf solidem Boden. Die Statistiker der Leipziger Autoritarismus-Studie sind zugleich Statiker der demokratischen Verhältnisse. Was sie mit dem fachlichen Blick von Architekten über den Gebäudezustand zu berichten haben, ist beunruhigend. In den Wahlerfolgen der AfD kommt eine politische Mentalität zum Vorschein, deren Untermauerung ihre empirische Untersuchung freilegt. Es schimmelt im Mauerwerk; die Sache für ein paar Stockflecken zu halten, hieße, sie schönzureden. Endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl wünschen sich 32 Prozent, und dazu kommen noch 29 Prozent, die diesem Gefühl mit ein bisschen Einschränkung zuneigen. Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen– ein Drittel der Bundesdeutschen und in Ostdeutschland fast jeder Zweite sieht dies so. 34 Prozent der Befragten sehen die Bundesrepublik durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet. In Ostdeutschland schnellt dieser Wert auf 44 hoch und nimmt man zu der offenen noch die verdeckte Xenophobie dazu, dann hat gerade mal ein Viertel der Ostdeutschen den Mut, von der Mehrheitsmeinung abzuweichen. Den Satz Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land unterschrieben vor zwei Jahren 40 Prozent der Befragten, jetzt ist es knapp die Hälfte. Seit 2002 wird die Leipziger Studie alle zwei Jahre veranstaltet. Zu ihren deprimierenden Ergebnissen gehören regelmäßig die den Antisemitismus wiedergebenden Zahlen. Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß, glauben neun Prozent der Befragten, eine Sicht, die weitere 23 Prozent mit leichter Einschränkung teilen. Die Sozialwissenschaftler unterscheiden manifest und latent bekundete Meinung. Wegen der den Judenhass betreffenden Zahlenwerte hat die Autoritarismus-Studie in der Vergangenheit stets die größte Kritik auf sich gezogen. Die latenten Antisemiten seien eigentlich gar keine, meinte zum Beispiel der Kritiker der FAZ. Ein sozialpsychologischer Zusammenhang ist ihm entgangen. In der Öffentlichkeit ist Antisemitismus tabuisiert, ihn offenherzig zum Ausdruck zu bringen, daher nicht ratsam. Die sozial konforme und die der eigenen Gefühlswelt entstammende Haltung sind nicht identisch. Der Leipziger Fragebogen arbeitet mit dem Umweg-Kommunikation genannten methodischen Mittel, um die psychische Verfassung der Individuen freizulegen. Solange man sich nicht offen zum Holocaust äußern darf, gibt es keine Meinungsfreiheit, meint ein Viertel der Befragten und gibt so Einblick in seine innere Welt. Der Hass auf die Juden äußert sich, er bleibt nicht auf der Zunge liegen. Links und rechts liegen dabei gar nicht weit auseinander, zeigt die Leipziger sich der Sozialpsychologie bedienende Soziologie. Man nehme die Frage, ob Israel eine postkoloniale Macht sei. Höchste Zustimmungswerte (mit 15 Prozent) bei den Wählern der AfD. Ihr Idol Höcke, ein Postkolonialist? Verschwörungstheorien wiederrum finden bei der sogenannten Linken genauso regen Zuspruch wie bei der völkischen Rechten. „Es zeigt sich, dass die Links-rechts-Selbsteinschätzung einen geringen signifikanten Einfluss auf die Ausprägung des Antisemitismus hat, schreiben die Autoren/innen. Der Antikolonialismus ist die Rationalisierung des Ressentiments, so muss der Leser ihre neuerliche Studie verstehen. Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg. Darauf kann sich vermeintlich Links und originär Rechts in der Größenordnung von 23 Prozent einigen. Der Antisemitismus erweist sich als unendlich wandlungsfähig. Die Nazis hassten die Juden, weil sie das heimatlose Volk seien, die illiberalen Linken hassen sie, weil Israel ihnen Heimat bietet. Jede Epoche konstruiert sich ihr eigenes Judentum. Eine ausgeprägte Krisenstimmung nehmen die Autoren/innen wahr. Es scheine so, als lebe die bundesdeutsche Gesellschaft im Vorfeld eines grundlegenden Entscheidungsmoments. Die Stimmung eines Kairos zu schüren, ist der extremen Rechten gelungen. Dabei schätzen die befragten Individuen ihre eigene wirtschaftliche Situation gar nicht als besorgniserregend ein. Sorge macht ihnen die Lage des Standortes, die die Wirtschaftswissenschaft mit Anleihe bei der Sprache der Militärwissenschaft auf allen Kanälen als katastrophal bezeichnet. Eine diffuse, das Treten nach unten veranlassende Abstiegsangst ist die Folge. Die CDU, um die Poolposition im Parteienwettbewerb kämpfend, hält es für klug, ins gleiche Horn zu stoßen. Die Autoren sprechen von einem Framing der Krise. Dass von Krise keine Rede sein kann, wenn der DAX gerade sein Allzeithoch erreicht hat, keine Inflation herrscht und qualifizierte Leute eher gesucht als entlassen werden, macht diese Untergangsrhetorik nicht harmloser, sondern gefährlicher. Die Soziologen Oliver Decker und Elmar Brähler haben wieder ein produktives Forschungsteam um sich versammelt, dem es gelingt, nicht nur für ein Fachpublikum zu schreiben. Das Team betreibt angewandte Wissenschaft, wie die Forscher und Entwickler der Unternehmen auch. Was aber ist ihr projektiertes Produkt? Eine solides, vor Schimmel und Schwamm geschütztes Demokratiegebäude.Artikel online seit 07012.24 |
Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller & Elmar Brähler |
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