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Eine Philosophie der Emotionen

Heidemarie Bennent-Vahle empfhielt: »Gelassen bleiben«
vor allem, wenn der Druck zunimmt


Von
Peter Vollbrecht

 

Mit jeder Publikation, sei es eine Monographie, ein Aufsatz, Essay oder Kolumne, schreibt sich die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle tiefer hinein in eine Philosophie der Emotionen. Die Texte kreisen alle umeinander, beleuchten sich gegenseitig und bilden ein vielperspektivisches Werk mit einem gewichtigen ethischen Schwerpunkt. Wie zu leben sei, diese antike Frage stellt die Autorin in das Licht gegenwärtiger philosophischer, psychologischer und pädagogischer Diskurse. Sie artikuliert sich dabei unaufdringlich als weibliche Stimme – ihre 1985 erschienene Dissertation gilt als eine Pionierarbeit der deutschsprachigen Genderforschung – und beeindruckt mit ausgedehnter fachlicher Expertise. Irritierend dagegen der Buchtitel (»Gelassen bleiben – auch wenn der Druck zunimmt«), der fälschlicherweise die Erwartung weckt, man habe es mit einem Beitrag aus der Ratgeberliteratur zu tun.

Doch das geht in die Irre - philosophisch kochkarätig ist schon der Auftakt der gut 200-seitigen Studie: Knapp und pointiert stellt Bennent-Vahle das seit ein, zwei Jahrzehnten wieder aufgeflammte Interesse an der antiken Tugendethik dar. Die Tugenden – Besonnenheit, Klugheit, Mäßigung, Gerechtigkeit und Mut etwa - stabilisieren nämlich die Gefühlswelt und bereiten sie ethisch auf. Tugenden hat man keineswegs durch Überlegung, wenngleich man durchaus über sie nachdenken kann. Aber Tugenden übt man ein, sie bilden sich durch eine ethische Praxis, und damit stehen sie immer auch im Gesamtkonzert aller Tugenden, niemals stehen sie allein. Die Tugend der Gelassenheit stellt die Autorin in einen engen Kontakt zu den Tugenden Besonnenheit und Mut – woraus sich im Übrigen auch der Untertitel des Buches motiviert: »Eine philosophische Ermutigung«.

Doch weshalb braucht es Mut zur Gelassenheit? Die Autorin scheint mir auf diese Frage zwei Antworten zu geben. Die eine zieht sich als roter Faden durch das Denken Bennent-Vahles überhaupt, es ist der Wind ihres Denkens, um ein Wort von Hannah Arendt mitgehen zu lassen. Sie erschließt sich auf den vielen Schauplätzen menschlichen Handelns, dort lotet Bennent-Vahle die existenzielle, moralische wie auch unmoralische Praxis des sozialen Lebens aus. Man könnte auch sagen, eine der Antworten bildet den Generalbass, den die Autorin ihren differenzierten philosophischen Analysen unterlegt. Dabei stellt sie des Lesers Gelassenheit angesichts mancher Redundanzen auf die Probe. Heute, so tönt der Grundton der Studie, erfordert Gelassenheit Mut, weil sie eine unzeitgemäße Tugend ist. Mit ihr stellt man sich quer zum Zeitgeist einer »hochgeputschten Wettbewerbsgesellschaft«, in der sich die Individuen einem »Profilierungszwang« unterwerfen, mit dem sie Stärke und Coolness demonstrieren. Gelassenheit ist das Antidote zum »emotional versierten Erfolgsjunkie«, der »gezeichnet ist von den Blessuren einer ungastlichen, ihm dauerhaft zusetzenden Lebenswirklichkeit«. Immer wieder brilliert Heidemarie Bennent-Vahle mit treffgenauen Beschreibungen des an sich selbst überlasteten Menschen unserer Zeit. Unser Leben gewinnt an Reflektiertheit, an Souveränität und Freiheit, wenn es mit klug dosierter Gelassenheit geführt wird: »Gelassenheit ist dabei der eigentliche Schlüssel zu höheren Einsichten.«

Mut aber braucht es zur Gelassenheit auch aus anthropologischen Tiefen heraus. Da ist zunächst – die eigene Endlichkeit, der Tod. Jeder ist einsam mit ihm. Wie anders ist umzugehen mit ihm, wenn nicht – gelassen? Ein großes, ja das größte Thema der Stoa, die dem Tod allerdings nicht Gelassenheit, sondern eine »kühle Abgeklärtheit und Teilnahmslosigkeit« entgegenbringt. Bennent-Vahle schaut kritisch auf das Schlüsselwort der stoischen Philosophen, die ataraxia, die Seelenruhe, die in entscheidenden Partien anders konfiguriert ist als die Gelassenheit. Die stoische Gelassenheit verdanke sich einer Philosophie der Unempfindlichkeit, der apatheia, sie ist ein Kältestrom, wohingegen die emotionale Gelassenheit im Wärmestrom des Mitgefühls stehe. Eine weitere existenzielle Herausforderung mit anthropologischer Tiefe, an der sich die Tugend der Gelassenheit zu bewähren hat, besteht in dem, was die Autorin den »Widerfahrnischarakter unserer Existenz« nennt. Darunter versteht sie den Umstand, dass Menschen niemals ihr Eingebundensein in die Welt objektivierbar überschauen können, ja dass uns die Augen auch im Blick auf uns selbst verbunden sind. Wir werden auf uns selbst in unseren wesentlichen Orientierungsbemühungen zurückgeworfen, wir kommen aus unserem eigenen Spiegelkabinett nicht hinaus. Die Opazität unserer Existenz ist auszuhalten, ja sogar auszutragen, und dazu bedarf es des Mutes zur Gelassenheit. Soweit zum Generalbass des Buches.

Der eigentliche Reichtum des Buches erschließt sich einen Augenaufschlag weiter, nämlich dort, wo Bennent-Vahle die abendländische Ideengeschichte auf Gelassenheitsdiskurse hin durchforstet. Sie stößt auf die schon erwähnte Philosophie der Stoa, mit der sie sich über die gesamte Buchlänge hinweg die hauptsächlichste Auseinandersetzung liefert, mal anerkennend, mal ablehnend, denn in der Stoa erkennt sie eine emotionsfeindliche, der Hybris der Rationalität verfallende Denkschule. Auch sei sie sozialphilosophisch unterbelichtet, weil »der Katalog stoischer Forderungen der leiblich sinnlichen Eingebundenheit des Menschen nicht gerecht wird.« Mit Seneca und Marc Aurel komme man wohl voran, nicht aber zum Ziel. Gesucht wird ein Gelassenheitskonzept, das den heutigen sozialen Anforderungen gerecht wird und zudem die Erkenntnisse moderner Sozialwissenschaften aufgreift.

Und so streift Bennent-Vahle weiter auf den philosophischen Boulevards, die von der mönchischen Gelâzenheit in modernere Gefilde führen, zur schottischen Aufklärung und ins zwanzigste Jahrhundert, wo Martin Heidegger einen echten Meilenstein des Gelassenheitskonzeptes hinterlassen hat. Heidegger nahm seinen Ausgangspunkt dabei in seinem ambivalenten Verhältnis zur Technik. Einerseits hält er dem technikaffinen Bewusstsein eine Seinsvergessenheit vor, andererseits aber gehört die Technik zur Welterschlossenheit des modernen Menschen. Heidegger balanciert seine ambivalente Haltung zum technologischen Zeitalter mit einer Gelassenheit zu den Dingen aus, einem schwebenden Zustand zwischen der zupackenden Hybris des technologischen Dämons und einem hörenden, rezeptiven Zugang zur Welt der Dinge. Letzterer hört auf das Sein, die Technik befiehlt ihm. Das Gleichgewicht von Sagen und Hören wäre eine brauchbare Formel der Gelassenheit, wäre da nicht eine entscheidende Schwäche in der Heideggerschen Gelassenheitskonzeption, die Bennent-Vahle einklagt: es ermangele ihr an zwischenmenschlicher Abstimmung. Heidegger kenne keine soziale Hermeneutik der Gelassenheit. Doch darauf komme es an, womit Bennent-Vahle den weiteren Kurs ihres eigenen Gelassenheitsdiskurses vorgibt.

Wichtige Anregungen entnimmt sie dem Heidegger-Schüler Otto F. Bollnow, der einen »Geist der Verträglichkeit« empfiehlt, um Gegensätze zu überwinden. Eine ähnliche Tonlage schlägt Helmut Plessner an mit seinem Gelassenheitskonzept einer »Weisheit des Taktes«, dem Bennent-Vahle eine frühere Publikation gewidmet hatte (Weltverflochtenheit, Verletzlichkeit und Humor 2022). Darunter ist eine soziale Haltung zu verstehen, die die Vulnerabilität des Menschen zu einer Ethik des Schonens ausgestaltet, in der ein beidseitiger Respekt das Prius hat über das Durchsetzen eigener Positionen. Plessner spricht in diesem Zusammenhang, auf Schillers schöne Seele anspielend, vom »Ethos der Grazie«, eine Formel, der die Autorin nicht nur ein philosophisches Faible abgewinnen kann.

Heidemarie Bennent-Vahle ist eine ethische Optimistin. Ethische Optimisten glauben an den intrinsischen Zusammenhang von Moral und Glück. Dorthin führt sie ihre Leserinnen und Leser im Schlussteil des Buches. Gelassenheit, so ihre Überlegung, öffne auch für ein Genießen des Augenblicks, ja mehr noch: im »gelassenen Innehalten« transzendiert das Bewusstsein das Ego und weitet sich auf ein großes Wir hin. »Nichts schafft so intensive Gegenwart, wie das im Heraustreten aus uns selbst fühlend und denkend anverwandelte Leben.« In der Gelassenheit schwingen das Ich, das Du und das Wir in Resonanz, und Bennent-Vahle versammelt am Schluss ihres Buches die wesentlichen Resonanztheoretiker: Hartmut Rosa natürlich, auf den die Theorie resonanter Weltbeziehungen zurückgeht, dann aber auch Autoren und Autorinnen, die ebenso für eine Ethik jenseits festgezurrter Normen stehen: Hannah Arendt, Emanuel Levinas, Ute Guzzoni und andere Gegenwartsstimmen mehr. »Gelassenheit meint das Einüben eines vernehmenden Weltbezuges, meint das Einschwingen auf ein sich neu besinnendes Denken, meint die Bereitschaft sich auch in größere, vielgestaltige Zusammenhänge einzufügen, als deren Teil man sich vorfindet.«

Artikel online seit 27.01.25
 

Heidemarie Bennent-Vahle
Gelassen bleiben – vor allem, wenn der Druck zunimmt
Eine philosophische Ermutigung
Verlag Karl Alber
226 Seiten
29,00
9783495993088

 


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