Glanz@Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
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Lebenswerk

 


Das Ganze ist nicht alles
Theodor W. Adorno (1903-1969)

»Das Grauen besteht darin, daß wir zum ersten Mal heute in einer Welt leben, in der man sich das Bessere gar nicht mehr vorstellen kann«  Erinnert von Martin Warny

Als Theodor Wiesengrund Adorno 1969 in Visp starb, sagte Max Horkheimer, Freund, Mitstreiter an dem Projekt der kritischen Theorie der Gesellschaft und langjähriger Leiter des Instituts für Sozialforschung, über ihn: „Wenn ein geistiger Mensch in unserer Zeit des Übergangs den Namen des Genies tragen darf, dann gebührt er ihm." Das von Horkheimer gewürdigte Genie Adornos besteht nicht zuletzt in dessen universaler Vielseitigkeit, seiner Meisterschaft auf vielen Gebieten, der Philosophie, Soziologie, Psychologie und Musikwissenschaft und – nicht zu vergessen – der musikalischen Komposition, all dies vereint sub specie einer kritischen Gesellschaftstheorie, die ihres Gegenstandes gerade auch in der Analyse ästhetischer Artefakte sich versichert.

„Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie", so lautet auch der Titel eines der zahlreichen aus Anlaß des 100. Geburtstages erschienenen biographischen Versuche. Gegen beides – den traditionellen Geniebegriff wie die Mode des „Biographismus", die er als bürgerliche Verfallsform denunzierte – hat sich Adorno immer wieder kritisch gewandt. In einem Brief an Leo Löwenthal schreibt Adorno 1942: „ Im Grunde geht es dabei darum, daß der Begriff des Lebens selber als einer aus sich entfaltenden und sinnvollen Einheit gar keine Realität mehr hat, so wenig wie der des Individuums, und daß die ideologische Funktion der Biographien darin besteht, daß an irgendwelchen Modellen den Menschen demonstriert wird, daß es noch so etwas wie ein Leben gebe, mit all den emphatischen Kategorien von Leben, und zwar gerade in empirischen Zusammenhängen, welche die, die kein Leben mehr haben, mühelos für die ihren reklamieren können." Die Rede von der verlorenen Realität der Identität des individuellen Leben mit sich selbst führt bereits mitten ins Zentrum der kritischen Theorie, und sie hat dann doch ihren Kern auch in den Erfahrungen, die Adornos Biographie wie sein Werk prägten. Die behütete Kindheit in Frankfurt am Main, wo Adorno 1903 als Sohn des Weingroßhändlers Oscar Alexander Wiesengrund und der vor ihrer Ehe unter ihrem Mädchennamen Calvelli-Adorno della Piana als Sängerin erfolgreichen Mutter Maria geboren wird, lässt Adorno als ein Kind des bürgerlichen Zeitalters, des „langen 19. Jahrhunderts" erscheinen. Doch früh schon empfindet der junge Adorno die Brüchigkeit dieser Lebensform, die der vom Tauschhandel und Marktgesetzen durchherrschten Profitsphäre, in der sich die Familienväter bewegen, eine von Musik und Literatur geprägte familiäre Binnenidylle entgegensetzt, der schon jenes utopische Moment, jenes letztlich nicht zuletzt von den geschichtlichen Katastrophen des 20 Jahrhunderts gebrochene Glücksversprechen, dem Adorno in seinen Texten immer von neuem nachgeht, eingeschrieben ist. Das Glück der Kindheit, das Amorbacher Urlaubsidyll, das vierhändige Klavierspiel gemeinsam mit der Mutter: stets kommt Adorno, so zuletzt auch noch in seiner „Negativen Dialektik", darauf zurück als auf das, was sich dem falschen Ganzen entzieht, was als Nichtidentisches noch dem Erwachsenen ein Glück verheißt, das zurück in die Kindheit scheint. In einer Erinnerung an die Amorbacher Sommerfrische hat Adorno dieses Utopische in der Metapher des „Niemandslandes" festgehalten: „Zwischen Ottorfszell und Ernsttal verlief die bayerische und die badische Grenze. Sie war an der Landstraße durch Pfähle markiert, die staatliche Wappen trugen und in den Landesfarben spiralig bemalt waren, weiß-blau der eine, der andere, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, rot-gelb. Reichlicher Zwischenraum zwischen beiden. Darin hielt ich mit Vorliebe mich auf, unter dem Vorwand, an den ich keineswegs glaubte, jener Raum gehöre keinem der beiden Staaten, sei frei, und ich könne dort nach Belieben die eigene Herrschaft errichten. Mit der war es mir nicht ernst, mein Vergnügen darum aber nicht geringer. [...] Das Land aber, das sie umschlossen und das ich, spielend mit mir selbst, okkupierte, war ein Niemandsland. Später, im Krieg, tauchte das Wort auf für den verwüsteten Raum vor den beiden Fronten. Es ist aber die getreue Übersetzung des griechischen – Aristophanischen, das ich damals desto besser verstand, je weniger ich es kannte – Utopie." Solche Erinnerung ist der Vorschein des Nichtidentischen; die Verdinglichung hingegen petrifiziert die Subjekte ebenso wie deren Erinnerung als Garant für eine – illusionäre? – Identität im Biographischen. Adorno: „Jedes Verdinglichen ist ein Vergessen."

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen"; „Das Ganze ist das Unwahre": diese berühmten Kernsätze aus den „Minima Moralia" haben hier und in der Erfahrung des Exils zwischen 1933 und 1949, als Adorno aus den USA nach Frankfurt am Main zurückkehrt, ihren biographischen Kern. Das Ganze als undurchschauter ideologischer Verblendungszusammenhang, der den Einzelnen unmündig macht, indem er ihm schon die bloße freie Einsicht in die Möglichkeit des Heraustretens aus dem als naturwüchsig von den Subjekten empfundenen oppressiven Zusammenhang des Ganzen verwehrt. Aber ein solches sich dem falschen Ganzen Entziehen wäre ja möglich und Freiheit im antezipatorischen Vorgriff denkbar ja nur, wenn es sich erwiese, daß das ganze eben nicht Alles ist, daß es gleichsam eine Perspektive gäbe, die mit dem Ganzen nicht identisch ist, aus der heraus das Ganze als das Unwahre zu erkennen wäre. Bei Hegel ist das Ganze bekanntlich das Wahre, das das Wirkliche und somit auch das Vernünftige ist. Die Widersprüche, an denen der Geist im Gang seiner Entwicklung zum Bewußtsein seiner Freiheit sich abarbeitet, sind am Ende dieses Entwicklungsganges, das zugleich das Ende der Geschichte darstellt, in einer widerspruchsfreien Totalität aufgehoben, die schlechthin Alles in sich einbegreift, weil sie Alles auf den Begriff seiner selbst gebracht und mit sich selbst und dem Ganzen vermittelt identisch gemacht hat. Von Hegel ausgehend und zugleich dessen systeminhärenten Totalitarismus kritisierend, beharrt Adorno auf dem Nichtidentischen, dem nicht begrifflich zugerichteten Objekt wie dem seiner Verdinglichung qua Absolutierung sich widersetzenden Subjekt, das sich dagegen verwahrt, mit dem unwahren Ganzen identifizierend in Eins gesetzt zu werden und so seines emanzipatorischen Anspruchs auf Glück sich zu begeben. Dieses Nichtidentische ist dasjenige, von dem, wie im Bilderverbot der jüdischen Religion, die auch diejenige Adornos war, nicht gesprochen werden darf anders als in der Weise der Negation. Negative Dialektik besteht hier unerbittlich auf dem Einkassieren der Hegelschen Versöhnung; Negativität verharrt in der ganzen Schwärze ihrer Unversöhnlichkeit, um gerade in diesem Fehlen jeder Hoffnung ein utopisches Moment die Nacht der Negativität erhellen zu machen. Einstweilen aber bleibt Alles dunkel: „Freiheit hat sich in die reine Negativität zusammengezogen, und was zur Zeit des Jugendstils in Schönheit sterben ließ, hat sich reduziert auf den Wunsch, die unendliche Erniedrigung des Daseins wie die unendliche Qual des Sterbens abzukürzen in einer Welt, in der es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod". Ein Aufheben der Negativität bedeutete nichts als eine falsch versöhnliche Affirmation ans Bestehende, das als ebenso undurchschauter wie eben darum scheinbar unentrinnbarer gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang die Beziehungen der Subjekte untereinander bis in ihre innerste Vermitteltheit nach dem merkantilen Prinzip des Tauschverhältnisses organisiert. Das Ganze in seinem Vermitteltsein transparent zu machen, ist nach Adorno eben die Aufgabe der Dialektik: die in der denkenden Arbeit am Begriff sich vollziehende Auflösung von dessen gleichsam ontologisch verfestigter Statik des an sich Seienden, die Einsicht in die Vermitteltheit des Objekts durchs Subjekt ebenso wie die, daß das Subjekt ohne das Moment der Objektivität einfach nichts ist.

Die „Dialektik der Aufklärung", von Horkheimer und Adorno gemeinsam im kalifornischen Exil geschrieben und erst spät in Buchform erschienen, will eine „Urgeschichte der Subjektivität" geben. Im Verlaufe dieser Geschichte befreit die in diesem Akt der Autonomisierung sich setzende Subjektivität sich vom mythischen Zwang und wirft sich mit den Mitteln instrumenteller Vernunft zum Absoluten auf, das Natur seiner Herrschaft unterwirft und im Begriff verdinglichend stillstellt, nur um zu erleben, wie die so verdinglichte Natur in der Gestalt seiner verdrängten um so furchtbarer auf den Menschen zurückschlägt und ihn mit einer Herrschaft überzieht, der er qua Vernunft sich entronnen wähnte. Berühmt und ein zentrales Element kritischer Theorie auch die Kritik an der Kulturindustrie, der in der „Dialektik der Aufklärung" ein ganzes Kapitel gewidmet ist und die wesentlich der amerikanischen Erfahrung der Exilanten sich verdankt. Notorischerweise exemplifiziert Adorno seine Kritik am Beispiel des Jazz als Synonym für Unterhaltungsmusik. Am Beispiel des „Jazzsubjekts" führt er vor, wie die Kulturindustrie Kultur als Ware, als lügnerischen Schein inszeniert, der über die wahren gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse täuschen soll. Der Jazzmusiker vermeint gerade über diejenige Freiheit idiosynkratischen Ausdrucks zu gebieten, die der Scheincharakter der Kulturindustrie ihm gerade nimmt, indem diese ihm suggeriert, sie sei zu kleinem Preis zu haben. Der wahre Preis aber, so Adorno, ist immer der einer Ware; der Schein der Rebellion gegen das kulturell Approbierte verwehrt dem Jazzmusiker die Einsicht in die Tatsache, dass noch diese Rebellion gegen das Establishment diesem selbst dient und ihn zum Sklaven macht, indem es ihn verdinglicht. Adorno artikuliert die Beschädigung des Subjekts als Objekt der Unterhaltungsindustrie: „Aus Angst fällt es heraus und opponiert; aber die Opposition, als die eines vereinzelten Individuums, das gerade in seiner Vereinzelung als bloß sozial determiniertes sich darstellt, ist Schein." Adornos Jazzkritik ist berüchtigt und hat ihrerseits viel Kritik erfahren. Man kann behaupten, Adorno habe vom Jazz nichts verstanden. Ob er etwa die Arbeiten von Musikern wie John Coltrane, Ornette Coleman, Charles Mingus oder Archie Shepp wahrgenommen hat, ist nicht bekannt; ob er sein Diktum über den Jazz daraufhin überprüft und die Notwendigkeit einer Abgrenzung dieser Musikform von der Unterhaltungsmusik eingesehen und ihr emanzipatorisches Potential zediert hätte, einigermaßen hypothetisch.

In den bedeutenden Werken der autonomen Kunst der Moderne, in der Musik Schönbergs und Alban Bergs, in den Texten von Proust, Kafka und Beckett, findet sich nach Adorno mimetisch das ausgedrückt, was in den Texten der Philosophie nur in der Form der begrifflichen Paradoxie zu bezeichnen ist: eben das Andere, Nichtbegriffliche, kurz: das Nichtidentische, der Vorschein einer Freiheit, die in den Kunstwerken verwahrt und utopisch-vorgreifend versprochen ist. Und Mimesis gilt nicht nur in der Kunst: im mimetischen Verhalten, dem nachahmenden dem-anderen-sich-ähnlich-Machen, entsteht zwischen den Subjekten ein herrschaftsfreier Raum, in dem Menschen menschlich miteinander umgehen können und der gleichmachende Begriff seiner identifikatorischen Macht beraubt ist. Nur in der Mimesis ans Nichtidentische, so Adornos düsteres Diktum, lebt das Leben noch, ansonsten gilt: „Leben verwandelt sich in die Ideologie der Verdinglichung, eigentlich die Maske des Toten." Ästhetizismus aber ist im Angesicht des Grauens denunziert. Berühmt ist Adornos Ausspruch: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Die theoriekritische Pointe aber, die in dem nachfolgenden Nebensatz steht, wurde meist überlesen: „und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben". Selbstverständlich ist für Adorno, dass noch die kritische Theorie, die vor dem Grauen des Holocaust nicht verstummt, von diesem nicht dispensiert bleiben kann.

Tragisch mutet Adornos Verhältnis zur Studentenbewegung an, die von seinen gesellschafts- und ideologiekritischen Schriften wesentlich inspiriert wurde, ihn dann aber wegen seiner Praxisfeindlichkeit zu kritisieren begann, was kurz vor Adornos Tod 1969 dann zur Sprengung seiner Vorlesungen und der Besetzung des Instituts für Sozialforschung führte, das Adorno von der Polizei räumen ließ. Von Jürgen Krahl, der bei Adorno promovierte und seinen akademischen Lehrer bei aller öffentlich vorgetragenen Kritik sehr verehrte, ist folgende Anekdote überliefert: „Als wir vor einem halben Jahr das Konzil der Frankfurter Universität belagerten, kam als einziger Professor Herr Adorno, zum Sit-in. Er wurde mit Ovationen überschüttet, lief schnurstracks auf das Mikrofon zu und bog kurz vor dem Mikrofon ins Philosophische Seminar ab; also kurz vor der Praxis wiederum in die Theorie". Adorno selbst aber schrieb noch kurz vor seinem Tod: „Der Sprung in die Praxis kuriert den Gedanken nicht von der Resignation, solange er bezahlt wird mit dem geheimen Wissen, dass es doch nicht gehe."
 


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