Glanz@Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
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Porträt

 


Claude Simon
Le Grand Seigneur
von Martin Warny

Claude Simon, der am 6. Juli 2005 im Alter von 91 Jahren in Paris starb, gehört zu den bedeutendsten Prosaschriftstellern des 20. Jahrhunderts und zusammen mit Samuel Beckett, Alain Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute und Robert Pinget zu den Begründern des „Nouveau Roman“.
Was für viele wichtige Autoren gilt, trifft auch für Claude Simon zu: Im Grunde hat Claude Simon Zeit seines Lebens, platonisch gesprochen, an einem einzigen „idealen“ Buch geschrieben, dessen konkrete Abschattungen und Manifestationen jeweils seine veröffentlichten Romane darstellen. Im Verlag DuMont, der sich mit seiner Simon-Edition erhebliche Verdienste um die Literatur erworben hat (ob es Claude Simon allerdings viele neue Leser zugetragen hat, bleibt fraglich: er gilt allgemein als „schwierig“), ist soeben eine Neuübersetzung seines im Original 1962 erstmals veröffentlichten Romans „Der Palast“ („Le Palace“) erschienen, dessen Handlung im spanischen Bürgerkrieg spielt.
Wie Picasso und Miró, zu deren malerischer Ästhetik die Poetik Simons eine große Affinität zeigt, engagiert sich Claude Simon für die Republik, und der spanische Bürgerkrieg, den er als Augenzeuge während seines Aufenthaltes in Barcelona im Jahre 1936 kennenlernt, gehört zu den großen wiederkehrenden Themen in seinem Werk, so in den Romanen „Geschichte“ („Histoire“, 1967, deutsch 1999) und „Jardin des Plantes“ (1999), und als eigentliches Thema in dem jetzt von Eva Moldenhauer – wie immer atemberaubend großartig – neu ins Deutsche übertragenen Roman „Der Palast“. Claude Simons Romane enthalten sehr viel autobiographisches Material, vieles von dem, was der Erzähler – oder das Medium, durch das hindurch Erzählen geschieht – berichtet, ist dem faktischen Erleben des Autors nachgebildet, und die rekurrierenden Themen Kolonialismus, (Bürger-)Krieg und Kriegsgefangenschaft verweisen stets auf Simons Vita. Aber ganz so einfach ist es denn doch nicht.

Claude Simon, wie gesagt, gilt als schwierig, und man sollte gegen dieses Verdikt nicht allzu laut protestieren: es stimmt, und stimmt doch auch wieder nicht. Geübte Simon-Leser sind gewohnheitsmäßige Wiederholungstäter zwanghafter Natur; sie können sich der rauschhaften Wirkung des Opiats nicht entziehen, die die Simon’schen Texte spätestens nach einigen Seiten unweigerlich zu entfalten beginnen. Mäandernde Sätze, der perspektivischen Ausfaltung des zu Beschreibenden, des zu Vergegenwärtigenden folgend, aus sich selbst heraus sich erneuernd, in immer neuen Anläufen immer andere Ansichten des Gegenstandes mitteilend, ohne dass der so entstehende Text je zu einer auktorialen Sicherheit gelangte darüber, wie es denn nun gewesen sei. Thema des Nouveau Roman seit Faulkner: die Uneinholbarkeit des Vergangenen, dessen beschreibende, erzählende Darstellung jederzeit den „Makel“ der Subjektivität an sich trägt.

Der Titel des Romans „Histoire“ ist programmatisch: Simons Romane sind ein epistemologisches Programm, das die Unmöglichkeit durchbuchstabiert, „Geschichte“, als Gegenstand privaten Erinnerns wie wissenschaftlicher Reflexion, so wiederherzustellen, „wie es war“. Geschichte ist ein prinzipiell unabschließbarer hermeneutischer Prozess, der existentiell in die Gegenwart hineinreicht (Faulkner: „The past is never dead. It is not even past“). Schwer errungene Rekonstruktionen, oft entstellt vom neurotischen, durch schockhafte Erlebnisse präformierten und in entsprechend entstellte Versionen ausmündenden Erleben des Erzählers, ob Simon nun, wie in „Georgica“ („Les Géorgiques“, 1981), die Geschichte eines von Napoleon geschassten Revolutionsgenerals schreibt oder die Farbe einer Mauer in einem bestimmten Licht aus der Erinnerung zu evozieren versucht; Weltgeschichte und Privatestes sind oft ununterscheidbar ineinander verzahnt.

Das Erzählen Claude Simons folgt dem vielschichtigen Prozess des Erinnerns gerade auch in seiner Diskontinuität, seinen Brüchen und Abschweifungen. Unvermittelt und einander oftmals überlagernd gehen so Szenen des Krieges (immer wieder die Straße in Flandern, die traumatische Urszene des Simon’schen Schreibprojektes, der als Mitglied einer Kavallerieeinheit im 2. Weltkrieg unter Beschuss deutscher Flieger gerät und als einziger überlebt) über in ebenso drastisch-pornographische wie sinnlich-poetische (gerade in den gynäkologisch konkreten Beschreibungen der Geschlechtsorgane) Darstellungen des Liebesaktes, Erinnerungen des Fleisches gleichsam, die Erkenntniswert haben, und die sich dann wiederum in ungeheuer dichten und subtilen Evokationen beispielweise alter Postkarten und ähnlichen Assoziationsmaterials spiegeln. Im tiefsten Inneren, dem clandestinen Zentrum der Simon’schen Texte, findet sich dann immer wieder, wie vorbildlich in Faulkners „Absalom, Absalom“, ein den Text als dramatischer Nucleus eigentlich in Gang setzendes empörendes Ereignis – eine Beleidigung, ein Rechtsbruch, ein Missbrauch  –, das die Wut des Erzählens antreibt und von den Erzählerstimmen eingekreist wird; analog findet sich auch im syntaktischen Zentrum, der innersten Falte der hoch komplexen Struktur der oft über Seiten hin ohne jegliche Interpunktion sich erstreckenden Simon’schen Sätze, der semantische Kern, auf den hin und von dem weg das Erzählen sich organisiert.
Die Technik, die Simon anwendet, um die an Picasso gemahnende Vielflächigkeit des szenisch Dargestellten zu erreichen, ist die des Films: das unbestechlich und scheinbar emotionslos beobachtende Kameraauge, der Schnitt, die Überblendung, Kamerafahrten und verschiedene Ausleuchtungen der Szene. Hier liegt auch die Nähe der Simon’schen Texte zum Genre des Kriminalromans bzw. –films: im unablässigen Einkreisen, dem perspektivisch motivierten Versuch, das Ganze aus den fragmentarisch disparaten Schnitten und Ansichten zu gewinnen, steckt ein kriminalistisches „who dunnit“, das sich allerdings – hierin Robbe-Grillet, insbesondere dessen Roman „Der Augenzeuge“ eng verwandt – stets entzieht, weil sich das Ganze, die Aufklärung, das Zur-Strecke-Bringen des Täters, im phänomenologischen Oszillieren des Gegenstandes verflüchtigt. Wo die Unmöglichkeit – oder Unaufrichtigkeit – linearen Erzählens eingestanden und das nichtlineare Erzählen als das unserer Wahrnehmungsweise adäquatere Medium avanciert wird, schwindet auch die Hoffnung auf Gewissheit, den epistemologischen Anspruch des cartesischen Denkens.

Sein schriftstellerisches Credo formuliert Claude Simon in seiner Nobelpreisrede, indem über die Suche des Schriftstellers nach seinem Weg sagt: “In dieser Suche bewegt sich der Schriftsteller nur mühsam voran. Indem er sich wie ein Blinder vorantastet, gerät er in Sackgassen, wird zu Boden geworfen und fängt wieder von vorn an. Und wenn wir um jeden Preis einen erbaulichen Sinn finden wollen in dem, was er treibt, so liegt er vielleicht darin, dass wir in allem, was wir tun, um vorwärts zu kommen, stets Treibsand unter den Füßen haben.“ Wer Simon liest, begibt sich auf unsicheren Boden und ist aufgefordert, auf dem schwankenden Boden des Textes sicheren Stand zu suchen – der Gewinn solchen Sicheinlassens wird nicht ausbleiben.

Wer die Probe machen will, dem sei geraten, mit „Der Palast“, einem der „leichter zugänglichen“ Romane des großen Claude Simon, zu beginnen. Und wer noch ein Exemplar antiquarisch ergattern kann, dem sei das irgendwann in den neunziger Jahren erschienene und wahrscheinlich längst vergriffene Claude Simon gewidmete Heft der Zeitschrift „Du“ empfohlen, in dem Interviews mit dem Autor sowie handschriftliche Romanpläne, Fotos und Postkarten aus Simons Besitz einen unnachahmlichen Einblick in die Werkstatt des Schreibens geben.

Claude Simon
Sechs große Romane
Insgesamt 1675 Seiten. Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Gebunden, in Kassette
€ 98,00 (D) / sFr. 155,00
ISBN 3832179674
 

Sie sind Reisen durch die Erinnerung – im Fluss seiner Worte, Sätze und Bilder.
»Simons Romane wurden zu Partituren, die an große, vielstimmige Symphonien erinnern. Sie werden nachklingen, auch wenn nun die Stimme des Autors, der am 6. Juli 2005 in Paris 91-jährig starb, für immer verstummt ist.« Neue Zürcher Zeitung
Die Claude Simon-Kassette enthält die bisher im DuMont Literatur und Kunst Verlag erschienenen Bücher:
Jardin des Plantes »Claude Simon hat ein Buch aus Stein und Blut geschrieben … Die Brillanz des Ganzen ist so maßlos wie sein Schrecken.« Jürg Laederach, Die Woche
Geschichte »Die Lektüre von Geschichte kann gefährlich werden: Sie kostet Zeit, und leicht verschwinden Jahresproduktionen neben einem solchen Buch. Meisterwerke kennen keine Rücksicht.« Die Zeit
Der Wind »Der Wind, der Claude Simon bekannt machte, … enthält schon jene sich tief in den Leser einbrennenden Bilder … hier ist es das Bild der jungen Frau, hart, knabenhaft und verschlossen.« Süddeutsche Zeitung
Die Trambahn »Die Trambahn ist ein subtiles und elegantes Meisterwerk, luzide übersetzt – ein leichtes und großes Lesevergnügen.« Elke Schmitter, Der Spiegel
Die Straße in Flandern »Ein höchst faszinierendes Buch, ein erzählerischer Monolith, ein sprachliches Kunstwerk.« Frankfurter Rundschau
Das Gras »Claude Simon versteht wie kein anderer, eine Familiensaga so lebensnah aus bloßen Assoziationen zu entfalten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

Claude Simon
Das Haar der Berenike
DuMont Speicher
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Erzählung. 62 Seiten.
€ 7,50 (D) / sFr. 13,90
ISBN 3832179607

Ein Prosastück in neunundsechzig beschreibenden lyrischen Skizzen, wie eine Miniatur: Frauen am Strand, Fischer auf ihren Booten am Strand, nachts die Boote ins Wasser schiebend, in einem Haus, Maultiergespann, Docks, Kaianlagen, Arbeiter, ein Bordell, Huren, Strandgut, Fußspuren am Strand.
Das Haar der Berenike entstand zu einer Kunstmappe um Bilder des katalanischen Malers Joan Miró. Das Haar der Berenike erscheint zusammen mit der deutschsprachigen Erstausgabe von Claude Simons frühem Text Versuch des Ordnens von Notizen aus dem Jahr 1962.


Claude Simon
Der Palast
Roman
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
DuMont
206 Seiten. Originaltitel: Le Palace
Gebunden
€ 21,90 (D) / sFr. 38,50
ISBN 3832179615
 


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