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»Travail attractif«

Auf der Suche nach einer »guten Arbeit« versammelt diese 7-bändige
»Matrix der Arbeit« umfangreiche Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit.


Von Peter Kern
 

Einen theoretischen Text, der politisch-programmatisch sein will und aus der Feder eines Sozialdemokraten stammt, hat man seit Peter Glotz‘ Zeiten nicht mehr gelesen. Wer war nochmal dieser Herr? Er war der letzte analytische Kopf der SPD. Die Autorinnen und Autoren dieses Buchs haben ihr Mammutwerk in einem der Partei nahestehenden Verlag veröffentlicht. Das ist an sich schon sehr bemerkenswert. Das politische Personal der Parteizentrale ist vom Tagesgeschäft wohl völlig an- und aufgefressen. Hoffentlich kommt es dazu, diese Arbeit zu lesen. Vielleicht hat es auch an solchen Texten keinen Bedarf, und glaubt, nur Wahlkampfstrategen nötig zu haben. Man hat es sich abgewöhnt, von der einmal reformistisch gescholtenen Partei noch eine Reformprogrammatik zu erwarten.

Das voluminöse siebenbändige Werk hat ein Institut für Geschichte und Zukunft der Arbeit vorgelegt. Es ist eine kollektive, Frauen und Männer umfassende Arbeit von Ökonomen, Wirtschaftsstatistikern, Historikern, Klimaforschern, Arbeitswissenschaftlern und Betriebspraktikern. Letztere haben wohl als sogenannte Personalvorstände gearbeitet, ein großer Gewinn für die Bände, denn so wird der bloß akademische Blick mit Erfahrungswissen angereichert.

Das Werk muss als ein Manifest gelten. Ein Manifest mit 4.000 Seiten Umfang? Das bekannteste, das kommunistische, weist gerade mal 40 Seiten auf und hat Epoche gemacht. Und doch ist die Assoziation ein bisschen gerechtfertigt. Denn diese Bände teilen dieselbe Hoffnung auf das den Produktivkräften innewohnende Vermögen, ein Weltalter ohne Hunger, Ausbeutung, Herrschaftsverhältnisse, Ressourcenknappheit und Raubbau an der Natur freizusetzen.
Die alte Ausbeutung des Manchesterkapitalismus gibt es doch gar nicht mehr, sagen die Einverstandenen und machen aus der Feier der Technologien eine Feier des sie anwendenden Kapitalismus. Das dem Kapital zugeschriebene Vermögen ist aber eines der lebendigen Arbeit, das sich in den Werkzeugen vergegenständlicht hat. Das ist die Analysis, die Rechenart dieses Buchs. Was der Seite der Lohnarbeit zugehört, soll nicht fetischisierend der Gegenseite zugeschrieben sein.
Das Manifest holt langen Anlauf, bis es in der Gegenwart ankommt, hat es sich doch nicht weniger vorgenommen als eine Monographie der menschlichen Arbeit. Mit dem frühen Homo, der ein erectus und ein sapiens geworden ist mithilfe von Bewusstsein, Sprache und Werkzeug, fangen die Bände an. Er wird durch alle Epochen begleitet, von der Steinzeit mit der entsprechenden Axt bis in die computergesteuerte Gegenwart. Man erfährt dabei so einiges über ihn. Die Bände haben Lesebuchcharakter; sie weisen sorgfältig erstellte Diagramme, Schautafeln und manchmal auch Fotografien auf. Man will in keiner Wissenschaftscommunity Eindruck schinden, sondern man verfolgt erkennbar einen pädagogischen Zweck. Selbst Anekdotisches hat seinen Platz. Wer sagt denn, dass Aufklärung nur mit Bierernst geht? Großkonzerne der frühen Neuzeit waren die Ost- und die Westindien- Kompagnie und ihr Importgut, Kaffee und Tee, machten dem verbreiteten Bierkonsum Konkurrenz und sorgten für die Fixheit, welche die angehenden Kapitalisten von ihren angehenden Lohnarbeiter glaubten erwarten zu dürfen. Solche Geschichten hinter der Geschichte erzählt das Buch.

Der Homo sapiens trat vor 300 Tausend Jahren auf. Er muss demnach als ein Jungspund gelten, denn seine Vorfahren, die Primaten, hatten 80 Millionen Jahre auf dem Buckel. Was er den Primaten voraus hatte, ist das präzise Greifen mittels Daumen und Finger, die über das Auge vermittelte Koordination der Hand. Anthropologie geht in dieses Lehrbuch ein, und ein kräftiger Schuss Materialismus. Der ist an dieser Stelle zu kräftig geraten; dass die Sprache mit dem Vermögen des Menschen entsteht, die Natur zu bearbeiten, ist keineswegs ausgemacht. Ihre Entwicklung mag einer eigenen Logik folgen, die nicht identisch ist mit der Logik der Naturbeherrschung.

Das Buch liefert keine reine Technikgeschichte und blendet Herrschaftsverhältnisse nicht aus. Die Produktivität des Ackerbaus liefert zum ersten Mal ein über das zum Überleben hinausgehendes Mehrprodukt, und ruft die Mächte auf den Plan, die es sich aneignen. In den Flusstälern Chinas, Afrikas, Indiens, Ägyptens und Mesopotamiens beginnt die neolithische Revolution mit der Sesshaftigkeit, dem Ackerbau und der Tierhaltung. Den aus dem Säen, Ernten und Lagern resultierenden Überschuss eignen sich die Priester, die  militärischen Führer und die technisch versierten Herrschaften an. Kanalbauten zu planen und zu überwachen, ist wohl die früheste Form des Staates.

Den Epochen der Menschheitsgeschichte ist jeweils ein Band gewidmet. Den entstehenden Imperien gehen diese Bände nach. Die erkenntnisleitende Frage ist die nach der Ökonomie der Imperien. Die Bewässerungssysteme am Nil und am Tigris lassen die sogenannten Hydraulischen Gesellschaften entstehen. Der maritime Handel mit Schiffsflotten macht die oberitalienischen Stadtstaaten und ihre Medicis reich. Der Sklavenhandel ist ein vom Kaufmannskapital betriebenes zirkuläres Geschäft. Die Handelshäuser liefern Textilien und Waffen nach Afrika, bekommen dafür Sklaven, setzen diese auf den Baumwollfeldern der Südstaaten ein, lassen den Rohstoff in den englischen Fabriken weben, und dann überschwemmen sie mit billiger Massenware Afrika und die ganze Welt. Dem Handelskapital werden die Märkte im Bedarfsfall freigeschossen. Der frühe Kapitalismus kennt schon das Hilfsmittel des späteren: Und bist Du nicht willig, gebrauch ich Gewalt. Man verschafft sich Zugang zu den Märkten, wie beispielsweise im dem Freihandel gewidmeten Opiumkrieg. Der Preis eines Sklaven notiert um 1800 bei 400 Dollar, ein Lohnarbeiter um 130 Dollar im Jahr; der versklavte Mensch amortisiert sich also schon nach drei Jahren.

Solche Kurszettel der Vergangenheit sind doch bloß für einen Historiker von Interesse, wird man vielleicht einwenden und auf den Fortschritt in der Geschichte der Menschenrechte verweisen. Wie weit ist es aber damit her? Das heutige weltweite Zentrum der Baumwollplantagen liegt im Nordosten Chinas, in der Provinz Xinjiang. Dort herrscht laut UN und ILO, der International Labor Organisation, Zwangsarbeit. Die Staatsgewalt steckt die Uiguren in Umerziehungslager, angesiedelt in der Nähe von Textilfabriken. Die in Europa bekannten großen Markenhersteller verarbeiten in Xinjiang geerntete Baumwolle. (Vgl. zdf.de, 05.05.22) Mit dem Fortschritt der Menschenrechte ist es also nicht so weit her.

Der Fortschritt der Arbeitsproduktivität ist dagegen immens. Der Warenkorb von 1800, beinhaltend Kleidung, Behausung, Nahrung und Energie, ist um das Vierzigfache angewachsen. Produzierte Rom zu seinen Glanzzeiten 300 Gramm Weizen pro Stunde, waren es um 1800 schon ein Kilogramm und sind es gegenwärtig 200 Kilogramm. Eisen zu verwenden für die Werkzeuge des Handwerks, des Kriegs und des Landbaus hat den Produktivitätsschub ausgelöst. Die Geschichte des Werkzeugs schreibt das Buch zu einer Geschichte der Maschine fort. Die Wind- und die Wassermühlen der beginnenden Industrialisierung sind der frühe Maschinenbau gewesen. In den sogenannten Satanic Mills der englischen Midlands erlebte das menschliche Wesen seinen Tiefpunkt, zu ermessen an dem für Kinder erlassenen Sozialgesetz, das um 1800 als große Reform galt: Ein Zehnstundentag und keine Nachtarbeit, und zehn Jahre musste man alt sein als Hilfskraft fürs Spinnen und Weben. Die Arbeitszeiten der Erwachsenen gingen bis auf 100 Stunden die Woche hoch und die Profitraten auf 40 Prozent.

Der Verbrennungsmotor, so erfahren wir, hat die Grenzen der menschlichen und der tierischen Muskelkraft gesprengt. Er löste eine technische Revolution aus, denn die neue Energiequelle steigerte den Mengenoutput pro Arbeitsstunde immens. In dieser gängigen Definition von Produktivität kommt das Wesen einer Ökonomie zum Ausdruck, die für die Bestimmung des Fortschritts bloß quantitative Parameter zur Verfügung stellt. Längst ist dieser Ökonomie die Gegenrechnung aufgemacht. Der Siegeszug der bürgerlichen Produktionsform kam einer Eroberung gleich, den die Fauna und Flora erleiden musste, schreiben die Autorinnen und Autoren. Und die Destruktivkräfte werden ihr Zerstörungswerk fortsetzen, sollte es der Menschheit nicht gelingen, der mit dem „fossilen Irrweg“ entstandenen ökologischen Krise zu steuern.

Dazu bieten die Produktivkräfte alle nötigen Potenzen. Es ist kein Gürtel enger schnallen, dem das Institut für Geschichte und Zukunft der Arbeit das Wort redet. Den Wegwerfkonsum bedenkt es dagegen mit aller Kritik. Vermutlich werden 30 Prozent der produzierten Kleidung nie getragen; denn die Menschheit des globalen Nordens ist gehalten, dem mehrmals im Jahr ausgerufenen Modetrend zu folgen. Die Influencer sind als die Trendanheizer angestellt, die Näherinnen schuften bei niedrigstem Lohn in den Sweatshops Pakistans und der Online-Handel optimiert die Distribution der modischen Ware. Millionen Beschäftigte des Globalen Südens stellen Wegwerfartikel und Billigelektronik her.

Die der Zukunft gewidmeten Kapitel handeln von der Notwendigkeit, der Armut entgegen zu steuern. Zehn Prozent der Menschheit besitzen gerade mal vier Dollar am Tag und damit das Existenzminimum. Wer das Doppelte verdient, und das sind 36 Prozent der Menschen, ist von einem respektablen Leben natürlich noch weit entfernt. Die Wirtschaftsstatistiker des Instituts haben gerechnet: Das Fünfzehnfache des Existenzminimums, dazu ärztliche Versorgung und Bildung, sind für ein menschenwürdiges Leben verlangt. Einem Viertel der Menschheit, dem in den OECD-Staaten lebenden Teil, ist ein solches vergönnt, und es war die Arbeiterbewegung, die ein humaneres Leben erkämpfte.  Die so gerne vom enger geschnallten Gürtel reden und dabei die Ökologie als Vorwand benutzen, wollen das System der Tarifbindung und der Sozialversicherung aushebeln. Sie sind an ihren floskelhaften Sprache leicht zu erkennen; das Wort von der Vollkaskomentalität taucht in den liberal-konservativen Reden und Schriften zuverlässig auf.

Der diese Monographie abschließende Band versucht sich mit viel Erfolg an dem Begriff Guter Arbeit. Wie die Gewerkschaften schreiben die Wissenschaftler das Adjektiv groß. Es ist der erkennbare Wunsch, gleichsam ein Markenzeichen zu setzen, ein legitimer Wunsch, wie die vom DGB veranlasste und hier zitierte Studie unter dem Titel Index Gute Arbeit zeigt. Das Bedürfnis nach humanen Arbeitsumständen ist groß, der regelmäßig erhobene Index zeigt es. Befriedigende Arbeit ist voraussetzungsvoll; mit einer paar Redensarten über New Work ist es nicht getan. Solche Arbeit ist abwechslungsreich, hat Einfluss auf die ihr zugrunde liegenden Organisation, ist ordentlich entlohnt und kommt der Entwicklung weiterer Fähigkeiten entgegen; sie vergegenständlicht sich in einem nützlichen Gut, bietet Beschäftigungssicherheit und ist in einem mäßigen Zeitaufwand zu erledigen. In der Tradition der kosmopolitischen Arbeiterbewegung war einmal von der travail attractif die Rede. Es ist also nicht weniger verlangt, als eine grundlegende Abkehr vom Taylorismus. Die Technik soll wieder Werkzeugcharakter bekommen. Der Arbeitende wendet sie an, statt von der Maschinerie angewandt zu werden.

Solche Umwälzung ist ein Gedanke von vorgestern, würden die Hymnen auf die Künstliche Intelligenz Schreibenden sagen. Der des deep learning fähige Computer schließe zur Intelligenz des Menschen auf, schreiben sie. Welch ein armseliges Bild des Menschen geht in diese technokratischen Utopie ein! Er wird in Analogie mit einem humanoiden Roboter gesehen. Ein solcher Roboter rechnet, speichert Daten und führt mit Sensorik und Aktorik Handlungen aus, deren Zweck dem dummen Ding vorgegeben ist. Freiheit, Selbstbestimmung, die großen Kategorien der Philosophie, müssen als übergeschnappte Selbstverkennung des Menschen gelten. Frankenstein lässt grüßen.

Was den Vorzug der besprochenen Bände ausmacht, ist zugleich ihr Manko. Sie zeugen von einem großen Vertrauen in die Überzeugungskraft von gut begründeten Argumenten, umfänglichen Datensätzen und perfekten Diagrammen. Diese mit Statistik operierende Kapitalanalyse geht wohl auf Thomas Picketty und sein großes Werk (Das Kapital im 21. Jahrhundert) zurück und sie hat zweifelsohne viele Meriten. Aber sie unterliegt einem gleichsam rationalistischen Selbstmissverständnis. Sie kann die Frage nicht beantworten, wie die Verhärtung der Gesellschaftsmitglieder gegen eine grundlegende Veränderung ihres Gesellschaftsverbandes, der sie materiell gut stellt und sozialstaatlich absichert, aufgebrochen werden könnte. „Warum wählen die Menschen korrupte, nationalistische Regierungen,“ fragen an einer Stelle die Autoren. Den Versuch, solche Fragen zu beantworten, unternehmen sie nicht. Auf Erkenntnisse der Sozialpsychologie greifen sie nicht zurück. Das ist kein vernachlässigbarer Mangel, sondern er betrifft die politische Strategie. Wie muss diese angelegt sein, damit sich die Aufklärung gegen die auf allen Kanälen präsente Gegenaufklärung behaupten kann? Diese Frage gilt es zu beantworten, und da es keine sich dafür anstrengende Partei mehr gibt, müssen vereinzelte Intellektuelle dies tun.

Artikel online seit 06.10.23
 

Hrsg. Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit
Matrix der Arbeit

Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit
Verlag J.H.W. Dietz Nachf.
7 Bände im Schuber, je ca. 400 Seiten,
245,00 €
978-3-8012-4286-2

 


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