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»Das Schöne kann man nicht malen«

Gerd-Peter Eigner: ein Leben, ein letzter Roman, ein Werdegang

Von Lars Hartmann

 

Es gilt mit drei Sätzen aufzutakten:

1.
Gerd-Peter Eigner ist einer der großen und verkannten Autoren einer langsam verlöschenden Zeit: des ausgegangenen 20. Jahrhunderts, darin auch die Vertreibung aus den ehemaligen Ostgebieten des ehemaligen Reichs eine zentrale Rolle spielt. Freilich nicht revanchistisch-revisionistisch, es ist in Eigners Buch »Der blaue Koffer« dieses Vertriebensein und das Neuankommen, das Ankommen und Wieder-Aufbrechen jenes krude Faktum – was jedoch ganz wesentlich diese Prosa und wohl auch Eigners Leben mitbestimmte. Dazu aber und zu dem, was wir Erinnerung nennen, später mehr.

2. Gerd-Peter Eigner ist ein in Deutschland – leider – relativ unbekannter Autor. Und das war – leider – schon zu Lebzeiten Eigners der Fall. Was auch daran liegen mochte, dass Eigner ein schwieriger Autor war. Vor allem aber liegt es daran, weil es eine Literatur ist, die aufgrund ihres Formbewusstseins nicht einfach und leicht zugänglich ist. Das schreckt ab. Es bleibt zu hoffen, dass »Der blaue Koffer« zur Wiederentdeckung Eigners beiträgt.

3. Wer eine schöne und gelungene Würdigung Gerd-Peter Eigners lesen will, der greife zu Alban Nikolai Herbst Nachwort in »Der blaue Koffer«. Auch sei auf die wunderbare und feine Würdigung von Herbst verwiesen, die in seinem Weblog »Die Dschungel. Anderswelt« zu lesen ist: »Gedenken an Gerd-Peter Eigner«.
Herbst zitiert dort wie auch in seinem Nachwort folgenden Satz:

»Heute muß das Kunstwerk selbst schon die Untat sein. Es ist die Gewalt, die Kunst freisetzt. Erst eine Welt, in der
(…) Herrschaft schlechthin aufgehoben wäre, oder genauer: in der Gewaltlosigkeit herrschte, – erst eine solche Welt würde der Kunst von selbst entbehren.«

Beim ersten Lesen wusste ich nicht recht, ob diese Passage von Eigner oder von Adorno stammt, so sehr ist sie im Duktus von Adornos Ästhetik gehalten, und auch Herbst weist auf das paraphrasierende, travestierende Moment hin, das Eigner hier einsetzt: Es ist dies jedoch ein Satz Eigners aus dem Anfang seines Schreibens, aus einem Essay von 1976. Und in der Tat hat sich Eigner in diesem Satz das Denken Adornos derart anverwandelt, einverleibt vielleicht sogar, auf alle Fälle aber für sich selbst fruchtbar gemacht, dass der Unterschied fluide wird. In diesem Satz wird das Verhältnis von Kunst und Gewalt thematisch, das gerade für die große Dichtung nicht nur des 20. Jahrhunderts von Bedeutung ist – insbesondere in jenen geschichtlichen Rahmungen, die auch für Adorno zentral waren, wenn wir an seine Überlegungen zur Kunst nach Auschwitz denken. Auch von diesem Punkt her ist die Dichtung Eigners zu denken. Kunst ist Gewalt, Kunst bleibt Gewalt. Aus gesellschaftlichen Gründen, aber auch aus uns Subjekten heraus.

Es soll in dieser Buchkritik aber gar nicht so sehr um Eigners Poetik gehen, und auch streifen wir die Frage nach der Identität, die bei ihm eine zentrale Rolle spielt, nur am Rande. Eigner schrieb fünf Romane, angefangen mit seinem Erstlingswerk »Golli« (1978 bei DVA erschienen) und dann 1985 mit seinem großen Wurf »Brandig«, bei Hanser, der in der Kritik der ZEIT 1986 gut besprochen wurde. Aber das nützte nichts. Eigner blieb jener Außenseiter des Betriebs. Nun also, sechs Jahre nach seinem Tod, ein monumentales Buch aus dem Nachlass, erschienen im Arco Verlag, wofür man dem Verleger Christoph Haacker, zusammen mit Alban Nikolai Herbst zugleich Herausgeber, nicht genug danken kann. Denn solches Werk zu produzieren, bedeutet unweigerlich und immer auch ein verlegerisches Risiko, was viele der großen Verlage lange und leider schon nicht mehr bereit sind einzugehen. Der Arco Verlag aber tut es. Aber das ist wiederum ein anderes Thema – wenngleich auch diese Frage nach dem Verlagswesen ganz in Eigners Sinne wäre.

Bei Eigner finden wir ein Erzählen, und deshalb auch dieser Hinweis auf jenes Motiv der Gewalt, das schonungslos und zugleich doch lakonisch und ohne jegliche moralische Belehrung oder als Tendenzliteratur jene Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg uns nahebringt. Doch zum Beginn versetzt uns der Autor zunächst einmal in die Wahrnehmungswelt eines Kindes und es scheint in solchem Anfang ein zentrales Motiv auf: »Die Frau im Rücken, die er liebt, setzte er den Stift an, um das Gaswerk mit möglichst geraden und genauen Stichen auf das Blatt zu bannen, das sie ihm mit dem Stift auf das Fensterbrett gelegt hat.« So geht der erste Satz und es ist die Frau, die er liebt, nicht die Mutter. Das Kind ist sieben Jahre: der Schrecken des Flüchtlingslagers 1949 in Wilhelmshaven, »hier in der zerbombten See- und Marinestadt«, »eine derartige Hölle«:

»In den Monaten, die sie schon da sind, gibt es alles an Geräuschen, was man sich denken kann. Und was man noch nie vernommen hat. Schrilles Gelächter, dumpfe Schläge. Stöhnen, Schreie, Flüche, Verwünschungen, Gelalle. Und vor allem, in der Nacht wie am Tag, jene rhythmisch anschwellenden Obertöne, Jubel und Schmerz, er kann es nicht unterscheiden, aus heiseren Frauenkehlen, ein Röcheln, Ersticken, Verebben, Ersterben. Alles gleichsam greifbar in unmittelbarster Nachbarschaft hinter den seitlichen Laken. Man könnte hinüberspähen durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Durch ein Loch. Aber die Geräusche, nicht allein der Zank, die Flüche, das Keifen, das Wimmern und Weinen und Gurgeln machen dem Kind Angst.«

So heißt es gleich zu Beginn auf der zweiten Seite, wenn der Erzähler die Leser in die Welt dieser Flüchtlingslager der Vertriebenen einführt: Sie waren nach dem verlorenen Krieg nicht willkommen, als sie aus Danzig, aus Königsberg, aus Ostpreußen oder, wie Eigners Mutter mit der Tochter und dem Sohn, aus Schlesien in den Westen flohen, aber sie waren eben da. Sie waren mitten im protestantischen Norden an der Küste, wie so viele Flüchtlinge, und sie waren katholisch. Auch das spielte, man darf das aus jenen Jahren heraus nicht vergessen, eine erhebliche Rolle im gesellschaftlichen Miteinander der neuen Bundesrepublik – wenngleich es Eigner nicht darum geht, einen Außenseiterroman zu schreiben, was die soziale Lage betrifft. All diese Aspekte wie die Vertreibung, Katholizismus, Kunst, Rebellion sind zwar Thema, aber sie werden nicht bekenntnisartig ausgebreitet: Eigner schreibt keine Thesenliteratur, sondern er erzählt. Und das eben macht dieses Buch so stark.

»Der blaue Koffer« heißt im Untertitel »Ein Werdegang«. Geschrieben in der dritten Person Singular. Damit aber stellt sich zugleich die Frage, wer da erzählt und spricht. Und damit tut sich weiterhin die Frage nach dem Genre dieses Buches auf. Ist es ein Roman, ist es eine Autobiographie? Ob diese Dichtung, diese Wahrheit eines Lebens nun Eigners sechster, fragmentarischer Roman ist, sei dahingestellt. Obwohl in der dritten Person geschrieben. Auf alle Fälle ist dieses Stilmittel eine Form von Distanznahme. Da es aber doch die Lebensgeschichte des Autors ist, die Eigner aufschreibt, kann man es genauso eine Autobiographie nennen, die freilich mit literarischen Mitteln arbeitet: dichterisch, teils in einer wunderbar mäandernden, fesselnden Sprache, wie da eine Kindheit und eine Jugend in Wilhelmshaven erzählt wird, wie sich die Familiengeschichte langsam herausschält: der Vater, ein Reichsbahner, 1945 von der Roten Armee erschossen. Die Fragen des Sohnes an die Mutter nach seiner Tätigkeit als Reichsbahner, wenn man an die Frachtraten vom Deutschen Reich und den eroberten Gebieten nach Polen denkt. Die unwirsche Antwort der Mutter. Die Flucht der Mutter vor der Roten Armee und die Schwierigkeit, auf der Flucht sich das nötigste zu beschaffen, ohne mit den Kindern zu verhungern, das Bombeninferno von Dresden:

»Er erinnert sich an das Feuerwerk, das er aus der Kellerluke beim Onkel Friedel in Dresden verfolgt hat, während die anderen, seine Mutter, die Schwester, die Frau des Onkel Friedel und noch verschiedene mehr, am Boden hockten und sich ganz klein machten, während es zugleich einige gab, die es nicht am Boden hielt und die mit verschränkten Händen im Rücken unruhig hin und her gingen in dem niedrigen, feuchten und eiskalten Raum. Eine seiner frühesten Erinnerungen, von der er nicht genau weiß, ob sie tatsächlich Erinnerung oder letztlich vielleicht doch eher den Erinnerungen der Mutter abgelauscht ist. Er erinnert sich an das, was sie Feuersturm nannte.«

Erinnerungen, immer wieder Erinnerungen, in eine dichterische Sprache gebracht und nicht einfach nur, um Leben zu erzählen, sondern es stellt sich die Frage, wie wir in dieser frühen Phase unseres Lebens uns erinnern. Überhaupt das Phänomen Zeit, da im zerstörten Wilhelmshaven und jener BRD des Wiederaufbaus:

»Fort Rüstersiel und Fort Mariensiel, die sie mit dem Fahrrad von der Goethestraße aus in etwa gleicher Zeit erreichen, Fort Schaar, das näher liegt, der Junge kennt sie alle. Er kennt die Unterschiede ihrer Anlage, ihre Grundrisse und bauliche Trutzburggestalt. Gewissermaßen trägt er Gestalt und Erscheinung in sich. Während er selbst außerhalb von etwas ist. Dem nämlich, das er nicht sehen und anfassen kann. Und das ist die Zeit. Er wird sie vergessen. Nicht nur die, die verstreicht, während er über den Sand und die Gräser, den jungen Sanddorn und die knospenden Sträucher streicht, sondern auch die, die einmal gewesen sein wird; das einmal Vergangene. Wie lange dauerte es an? Wirklich zwei Jahre? Drei? Wann genau begann es? Und wann hörte es auf? Haben sie, er und der Steineklopfer, sich zuerst über die Berge von Schutt und Gemäuer des Forts Schaar oder über das Fort Rüstersiel oder Mariensiel hergemacht? Er wird es nicht wissen, vergessen.«

Eigner reflektiert aufs Erzählen, aber es ist dies kein Reflexionsroman oder irgendein postmodernes Spiel mit Identitäten oder mit den Namen – jener Gerd-Peter Eigner, der ursprünglich Sobczyk hieß, aber polnische Namen ließ man im deutschen Westen besser weg und nannte sich anders –, sondern immer wieder dieses erlebte Leben, was da aus jeder Zeile sich auftut: detailreich und auf eine wunderbare Weise besessen fast erzählt Eigner davon, wenn es um seine Kindheit geht. Die Spanne dessen, was Eigner berichtet, reicht von der Zeit des Zweiten Weltkrieges bis ins Jahr 1976: die neue Wohnung, der neue Lebensgefährte der Mutter, der aber nur Mitbewohner genannt wird – Geschlechtsverkehr zwischen ihm und der Mutter oder irgendwelche Zärtlichkeiten werden niemals erwähnt. »‚Nennt ihn Onkel‘, sagt die Mutter. ‚Onkel Walter.‘« Der Junge verachtet im Lauf der Jahre diesen Mann namens Walter. Das Spielen der Kinder auf der Straße, in den Ruinen und Trümmern, in der Nachkriegszeit in Wilhelmshaven, das Sich-herumtreiben, Kinder, die sich selbst überlassen waren, des Jungen Amt als Messdiener in der katholischen Kirche, seine Wunsch, Priester zu werden, was die Mutter ihm – im Blick auf mögliche Mädchenbekanntschaften – wohlweislich ausredete, die ungeheure Hingabe des Jungen an dieses Kirchenamt, die Sorgen der Mutter um die Schulleistungen des Jungen, die zunehmend erbärmlicher wurden, eine unerfreuliche Schulzeit, sein Sitzenbleiben, seine Beharrlichkeit, wenn es darum ging, den eigenen Willen durchzusetzen, und vor allem: die ersten Bekanntschaften mit den Mädchen, Fummeln, anfassen, Feuchtigkeit im Schenkelinnenbereich und eine Zeit mit Freunden im Erwachsenenalter, die sich für Literatur begeistern, was den Jungen prägen wird: jener schwule Dramaturg am Theater, der sich auch für den Jungen interessiert, aber auf einer Ebene des Anschauens, nicht des Berührens – dieser falsch verstandene Sinn von »platonisch«. Insofern eine Erziehung des Herzens und des Körpers auch, darin die Bisexualität des Autors eine Rolle spielt. Jungs, die sich an Jungs ausprobieren. Aber manchmal, später, auch Männer. Genauso aber und viel mehr noch die Mädchen. Seine Lust nach Sport als Turmspringer und Boxer, aber auch seine musische Art: Das Spielen von Geige und Klavier, zaghafte Versuche des Schreibens, später dann. Und ein Lehrer, der das Talent dieses Jungen erkennt, während viele andere Lehrer, jene aus der alten Zeit, die nun in der neuen sind, es übersehen – auch das wird für Eigner eine Rolle spielen, später dann, wenn er als Lehrer in Bremen mit devianten Jugendlichen arbeitet. Zunächst aber Eigners Ausbruch aus der häuslichen Enge, ein Sommerurlaub in Frankreich mit Trampen, Abbruch des Abiturs, raus wieder nach Frankreich für ein Jahr, in Paris in ärmsten Verhältnissen in einer Mansarde unterm Dach lebend, dann die Rückkehr nach Deutschland, das Wirtschafsgymnasium und ein Studium der Soziologie, und später dann, als er bereits als Lehrer wirkt, wieder ein Ausbruch, nach Nordafrika: die Geschichte reicht bis ins Jahr 1976, als der Autor auf dem Bremer Marktplatz aus seinem ersten Roman »Golli« rezitiert und er es mit der Polizei zu tun bekommt, weil solche Kundgebungen und Lesungen auf einem öffentlichen Platz in Bremen verboten sind – zumal mit einem Klingelbeutel daneben. Was bleibt, ist eine Geldstrafe, zu zahlen an das Land Bremen. Diese Schuld aber mochte der junge Dichter nicht begleichen. Denn er ist stur.

Jener Werdegang des Erzählers weist zugleich auf das Motiv der Entwicklung, auch wenn diese Prosa im klassischen Sinne kein Bildungsroman ist, der Plan ist hier allenfalls der Zufall des Lebens und eine Ablehnung des Autors gegenüber bestimmten Autoritäten, die er nicht anerkennen kann. Sondern vielmehr schildert in dieser Prosa ein Autor, wie er zu dem wurde, was er ist: nämlich ein Schriftsteller. Der Weg dorthin freilich war ein mühsamer. Und es endet das Buch ähnlich absurd-lächerlich wie Flauberts »LʼÉducation sentimentale«:

»Der Schriftsteller begleitet Ingo in dessen Vereinslokal, drückt ihm einen Fünzigmarkschein in die Hand, bittet ihn, den genannten geschuldeten Betrag an die Landeshauptkasse, 28 Bremen 1, Schillerstraße 22 (Haus des Reichs – Anbau) zahlen zu gehen oder zu überweisen und übernimmt die gemeinsame Zeche. Dann ist er erneut und, abgesehen von einem kurzen Besuch wenige Jahre darauf, um den Koffer zu holen, für immer weg.«

Herrliche Lakonie. Was aber bleibt, ist dieser blaue Koffer mit den Erinnerungen darin – auf ihn komme ich später noch zu sprechen.

Das Ungeheuerliche dieser Geschichte besteht gar nicht so sehr in den einzelnen Episoden jener Kindheit, einer Jugend in Nachkriegsdeutschland, wie sie im ersten und zweiten Teil geschildert wird, sondern in der detaillierten Erinnerung. Ist all das erzählt und erfunden, erzählt und wahrgesprochen? Eine bloße Fiktion zumindest ist es nicht, es ist eine Autofiktion, es ist im Grunde das, was man dem Genre Biographie zuschlägt, aber doch in eine besondere sprachliche Form gebracht, für die bei Eigner unabdingbar das Wort Dichtung zu gebrauchen ist, eine Art des Erzählens, die insbesondere in den 1970er Jahren im Kontext jener Literatur der Neuen Subjektivität Konjunktur besaß. Auch Eigners Buch fällt dort hinein, wenngleich später geschrieben und postum veröffentlicht. Deren Gegenpol in der polemischen Aufladung, aber ebenso detailreich doch wie bei Eigner, sind Thomas Bernhards Kindheitserinnerungen. Was Eigner schreibt, ist erlebte und gelebte Kindheit, freilich in eine besondere literarische Form gebracht: mäandernde, fließende Sätze und Satzperioden hypotaktischer Struktur wechseln mit einem parataktischen Stil, eine Art Stakkato, das Effekt erzeugt, aber Eigner strapaziert diesen Ton nicht über, hier bei der Kinderlandverschickung der Schwester: »Die Mütter küßte die Schwester. Die Schwester stieg in den Bus. Sie saß schmal, die beiden geflochtenen braunen Zöpfe traurig an ihren Ohren hinunterhängend, am Fenster. Ihr Mund noch kleiner und dünner als sonst. Als fürchtete sie, niemals zurückzukehren.« Das ist dieser knappe Hemingway-Stil, auf den der Erzähler immer einmal wieder zu sprechen kommt, wenn es um seine Schreibversuche und ums Nennen seiner literarischen Helden geht. Wozu auch der leider vergessene Hans Henny Jahnn gehört – was in den Fragen des Schwulseins und der Berührung mit schwuler Kultur in diesen Jahren keine unerhebliche Rolle spielen mag. Literatur und lesen, Dichtung, schreiben und leben spielen für den Erzähler von früh an schon eine wichtige Rolle. Das Kind ist ein genau beobachtendes Kind.

Fein und genau auch beschrieben wird das Trampen des Erzählers mit einem Schulfreund in den Ferien von Wilhelmshaven durch Deutschland und dann nach Frankreich, gelobtes Land, nach Paris und von dort an die Mittelmeerküste. Und wie ein Münchhausenstück wirkt die Rückreise des jungen Erzählers, als er jenen Millionär trifft, der ihn, einmal wieder an der Straße trampend, diesmal zerlumpt und ausgeraubt zudem von Arabern am Strand von Nizza, im roten Cabriolet-Sportwagen, einem Chevrolet Corvette, mitnimmt, mit ihm nach Italien, nach Genua und dann nach Venedig fährt und ihn in die mondäne Welt jener 1950er Jahre einführt. Sie teilen in einem der Luxushotels ein Zimmer, der Chevrolet Corvette-Mann macht erotische Avancen. Aber auf angenehme Art. Es handelt dieses Buch also auch von variablen sexuellen Präferenzen, aber ohne daraus ein Gewese zu machen: Es wird erzählt, es geschieht, beiläufig und in diesem Sinne vor allem: normal. Am Ende dieser wunderbaren Tramp-Reise in den Sommerferien, mit 17 Jahren, geht es erst per Zug von Venedig nach München und dort mit dem Flugzeug, Zwischenlandung in Düsseldorf, nach Hamburg, wo das Flugzeug in erhebliche Turbolenzen gerät. Und er »sagte sich, daß er, wenn sie denn schon alle gemeinsam abstürzen müßten, er wenigstens etwas von seinem Leben gehabt habe.« Das zumindest kann man von dieser Reise sicherlich sagen. Ein Schelmenstück, sich durchzuschlagen, zusammen mit einem Freund, aber auch eine schicksalhaft traurige Liebesverwicklung mit einer wunderbaren Frau, die nicht verraten werden soll. Und wie das so ist, wenn ein junger Mann sich in eine Frau verliebt, älter als der Erzähler und schon mit einem Kind, eine Französin und wenn der junge Mann dann nach jener Trennung, weil er nach Hause und wieder zur Schule muss, endlich nach Paris zurückkehrt und nicht das vorfindet, was er sich erwartet hat. Und vor allem: Ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte des Aufbruchs, Ende der 1950er Jahre, wie sie in dieser Form nicht alltäglich sich zuträgt und wie sie als Ausbruch aus einer Welt der Enge und der Begrenzung sich dennoch vielfach in dieser Form zugetragen hat, wenn ich mich an die Eltern einer Freundin erinnere, die aus der Generation der 1940er sind: die nach Spanien und nach Frankreich sich aufmachten.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, davon der dritte Teil zum Ende hin teils fragmentarisch ausfällt und die Spannungsbögen doch mit einigen Auslassungen und willkürlich aufgebaut sind. Da das Buch keine von Eigner autorisierte Fassung ist, stand sicherlich noch eine Überarbeitung durch den Autor an – wozu Eigner nicht mehr gekommen ist, da er 2017 starb. Aber dieses Skizzen- und Tagebuchhafte des letzten Teils gereicht dem Buch keineswegs zum Nachteil. Anschaulich wird diese Phase des Lebens gerade durch den Detailreichtum und das genaue Erzählen von Eigner, ein schier unerschöpflicher Vorrat an Erinnerungen wird aus jenem blauen Koffer hervorgeholt. Vor allem im dritten Teil, wo Eigner die abenteuerliche Zeit in Frankreich erzählt.

Was aber ist nun dieser ominöse blauer Koffer? Er ist real – denn es gibt ihn –, aber er ist auch eine Chiffre fürs Aufbewahren, fürs Erinnern und für das Erzählen. Es ist ein kleiner Koffer, eher schon von der Größe einer Aktentasche, der Koffer ist alt und aus harter Pappe, die Kanten der Pappecken mit Metall vernietet, dazu zwei Metallschlösser. Und im Koffer befinden sich Notizen und Erinnerungen der Mutter aus der Zeit vor der Flucht – von der wir allerdings nicht viel erfahren, allenfalls in Andeutungen und über jene Familiengeschichten.

»Er ging zur Mutter hinüber, fragte sie, was das für ein alter Koffer sei. Sie sagte, es sei der Koffer von zu Haus. Ob er sich nicht erinnere? Mit dem sei sie gekommen, aus Schlesien, Oberschlesien. Der Walter habe ihn schon wegschmeißen und ihr einen neuen kaufen wollen. Aber man schmeiße nichts weg, sagte sie, das man aus der Heimat mitgebracht habe. Letztlich sei es das Letzte, was sie noch besitze. Der junge Mann zögerte plötzlich weiterzufragen. Tat es dann aber doch. Ob sie ihm ihren Koffer ausleihen könne? Warum nicht? Er solle nur den Inhalt in den Sekretär tun.«

Im Besitz des Jungen, wird der Koffer mit einer blauen Ölfarbe gestrichen und pfleglich behandelt: der Koffer wird zu seinem Heiligtum, zu seinem Tabernakel. Der blaue Koffer kommt mit auf Reisen, nach Hamburg, nach Frankreich dann, zum Trampen in den Ferien und später dann, um in Paris ein Jahr lang zu leben. Dieser Koffer wird ein Aufbewahrungsort. Ein wenig aber verhält es sich mit diesem Koffer auch wie mit dem Festhalten des Augenblicks: der Koffer ist ein Anlass, diesen Anlass ausfüllen kann jedoch nur der Dichter und jener der der Sprache bzw. der Kunst mächtig ist. Gleich zum Beginn des Buches soll der Junge im Flüchtlingslager etwas malen, weil die Mutter und eine Freundin etwas zu besprechen haben, was nicht für die Ohren des Kindes bestimmt ist. Es heißt dort:

»Was Schönes. Er kann nichts Schönes malen. Niemals würde er es wagen, etwas Schönes zu malen. Auch nicht zu zeichnen mit diesem Stift. Das Schöne kann man nicht malen. Das Schöne bewegt sich, verändert sich jeden Augenblick. Es schillert. Und fließt. Es flutet. Und dann ist alles immer auch noch eine Frage des Lichteinfalls und der Haltung.«

So ist es auch mit den Notizen, Karten, Heften, Briefen, Photographien und Utensilien, die aus dem Koffer hervorgeholt werden. Und so ist es auch mit solchen Reflexionen: sie geraten, wenn man über sie nachdenkt, ins Changieren: Sind diese Sätze noch die Überlegungen eines Kindes – möglich ist es, denn gerade Kinder haben ein gutes Gespür für solchen Widersinn, für Bedeutsames und sie hinterfragen manchen Satz, der für den Erwachsenen selbstverständlich ist. Oder hat hier der Autor eine Szene aufgeladen – ex post facto gleichsam, indem erlebtes Leben, der gelebte Augenblick des Kinders, der Kinderwelt, des kindlichen Ausschweifens in den Kinderüberlegungen in die Deutung vergangenen Lebens einfließt, um gerade durch solche Poesie aus der Perspektive des Erwachsenen das Denken eines Kindes anschaulich zu machen? Eigner vermag es in dieser wunderbaren Prosa solche Fragen immer wieder reflexiv einzuholen und uns zugleich die Absurdität mancher so dahingesagter Erwachsenenrede vorzuführen. Es sind diese existenziellen Kinderfragen, die Eigner in seinem Erzählen veranschaulicht, so bei einer Kinderlandverschickung:

»Daß ihn aber dort auf dem Bauernhof überhaupt die Frage umtrieb, was er einmal werden würde, was er einmal werden wolle, welchen Beruf er ergreifen und in welchen Gegenden und Orten der Welt er einmal das verrichten würde, was er sich schon seit geraumer Zeit vorgenommen hatte, muß mit eben dem Ort dieser Kinderlandverschickung selbst zu tun gehabt haben. In der Kinderlandverschickung festigte sich etwas in ihm.«

Wie man zu dem wird, was man ist. Es sind diese Details, wenn einem Kind plötzlich etwas aufgeht, wo eine scheinbar nebensächliche Frage, die sich viele Kinder stellen, existenzielles Gewicht plötzlich bekommt. Dieser blaue Koffer ist dazu ein Medium. Aber auch das Schreiben selbst ist es, etwa wenn er einem Mädchen, in das der Erzähler verliebt zu sein scheint, Briefe schreibt:

»Da er, das lag auf der Hand, ihre Hausnummer hatte, schrieb er ihr Briefe. Die sie, was ihn hoffen ließ, beantwortete. Allerdings so, daß er den Eindruck gewann, sie wolle ihn nicht. Was ihn umso unnachgiebiger machte. Er setzte wieder – und wie nie auf Briefe. Die ihr, wie sie zurückschrieb, gefielen und sogar, so schrieb sie, ergötzten. Obwohl sie, schrieb sie, sie auch unsicher machten. Und erschreckten. Die Gewalt! So eine Gewalt! So eine Maßlosigkeit! Das halte sie, schrieb sie, nicht aus. Worauf er zurückschrieb, um zu erklären, daß es allein darauf ankomme. Auf die, ja, vielleicht nicht Gewalt, aber doch die Intensität, auf das Gefühl. Wenn man nicht in allem, was man tue, aufs Ganze gehe, dann sei es das Leben nicht wert.«

Gerd-Peter Eigners Prosa ist von genau solcher Intensität und diese Intensität zeigt sich ebenso in seinem Leben: eine ungeheure Hartnäckigkeit, auch in Sachen Dichtung. In »Der blaue Koffer« ist es nicht primär das Politische, auch wenn es als Unterstrom diese Dichtung mitbestimmt, sondern es sind vor allem diese privaten Verhältnisse, die uns Eigner erzählt: jene 1950er und 1960er Jahre der Bundesrepublik, als Jugendliche plötzlich Blue Jeans trugen, Rock 'n' Roll und Jazz hörten und durch Europa zu reisen begannen.

Zu guter Letzt, Sie haben lange durchgehalten, liebe Leserinnen und Leser, möchte ich mit dem wohl schönsten Satz von Eigner enden, der mich fasziniert und der doch die Logik des Poeten uns zeigt:

»Irgendwann wollte sie ihre Briefe zurück. Er schrieb ihr, daß er im Gegenzug seine zurückhaben wolle. Bevor er die aber nicht habe, schicke er ihr nichts. Soviel wenigstens hatte sie verstanden: Nämlich daß er eine Moral besitzt. Sie schickte ihm seine Briefe zurück. Er ihr, die Kehrseite der Moral, die er hatte – und die, fand er, auch eine ist – die ihren nicht.«

Artikel online seit 13.02.23
 

Gerd-Peter Eigner
Der blaue Koffer
Ein Werdegang
Arco Verlag
600 Seiten
32,00 €
978-3-96587-042-0

 

 


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