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Putins Weg ... (Ende Offen)

Giuliano da Empoli bringt uns in seinem Schlüsselroman »Der Magier im Kreml« mitreißend und glaubhaft Putins Denkungsart und Selbstverständnis nahe und schenkt uns eine Begegnung mit Jewgeni Samjatins prophetischer Dystopie »Wir« aus dem Jahre 1920.

Von Gregor Keuschnig
 

Der Magier im Kreml ist natürlich ein Roman, Geschrieben wurde er vom italo-schweizerischen Autor Giuliano da Empoli (Übersetzung aus dem Französischen von Michaela Meßner). Die einst gebetsmühlenartig vorgebrachte Erklärung, dass Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen rein zufällig seien, ist im Zeitalter des Doku-Dramas längst überholt. Stattdessen wird zu Beginn darauf hingewiesen, dass der Roman auf wahren Begebenheiten und realen Personen basiert, denen "ein Privatleben und erfundene Äußerungen zugeordnet" worden seien. Das war, wenn man sich die Weltliteratur ansieht, einige Jahrhunderte lang nicht ungewöhnlich. Shakespeare tat es mit Richard III., Schiller schrieb Wallenstein Texte zu, die er nicht wissen konnte und immer noch glauben Menschen, dass der Revolutionär Danton so gesprochen hat, wie man in Georg Büchners Stück nachlesen kann. Die Autoren konnten sich darauf verlassen, dass ihr Publikum die Fiktionalität innerhalb des historischen Umfelds verstand – und wenn nicht, war es eher bedeutungslos, weil es damals keine Horden von Schreibern gab, die zwischen Realität und Schriftstellerei nicht unterscheiden konnten.

Der Erzengel des Todes und sein (fiktiver) Berater

Damit der Roman nicht im Korsett der (bisher weitgehend unbekannten und daher eher trivialen) Realität erstickt, hat Empoli die Hauptfigur Wadim Baranow erfunden. Ein nicht näher vorgestellter Ich-Erzähler, der sich in Moskau aufhält, der "unergründlichen Hauptstadt einer neuen Epoche", ist einerseits fasziniert von diesem geheimnisvollen Baranow, dem vor einiger Zeit demissionierten Berater des "Zaren" Wladimir Putin. Und er ist besessen von Jewgeni Samjatin, einem russischen Schiffbauingenieur und Schriftsteller (1884-1937), der in den 1920er Jahren den dystopischen Roman Wir verfasste und damit bei Stalin in Ungnade fiel. Es gibt in Empolis Roman, vage Interessenten an einer Neuauflage von Wir sowie einer Verfilmung, was als Ursache für den Aufenthalt genommen wird. Wann der Roman spielt bleibt unklar; es ist diffus vom Ukraine-Krieg in der Vergangenheit die Rede. So recht kommt der Erzähler nicht voran; er pflegt sein Außenseitertum obwohl (oder gerade weil?) er als Ausländer einer ständigen Überwachung zu unterliegen scheint (die Begleiter nennt er "Briefmarken").

In den sozialen Netzwerken entdeckt er einen gewissen Nicolas Brandeis. Der Name erinnert an eine Figur aus einem Joseph-Roth-Roman und ist vor allem das Pseudonym, unter dem Baranow einst Essays, Aufsätze und ein Theaterstück veröffentlicht hatte. Brandeis' Postings sind eher selten und meist geheimnisvoll. Ist es Baranow oder einfach nur irgendein Student, der das Pseudonym angenommen hat? Als Brandeis einen Satz aus Wir postet, wird er hellhörig. Er antwortet dem unbekannten Nutzer ebenfalls mit einem Zitat und rasch steht der Reporter in Baranows für russische Verhältnisse luxuriösen Anwesen außerhalb von Moskau.

Nach kurzer Begrüßung und Bewunderung eines Original-Briefes von Samjatin an Stalin folgt ein nur durch gelegentliche Fragen unterbrochener Monolog Baranows, der den Hauptteil des Buches ausmacht (ab Seite 52 hören die Fragen auf und die Anführungszeichen verschwinden). Es beginnt mit Baranows Familiengeschichte, dem aristokratisch-rebellischen Großvater, der genug Anpassungsvermögen besaß, um nicht Opfer von Säuberungsaktionen zu werden und dem eher ängstlichen, im wissenschaftlichen Dienst gestandenen Vater, dessen Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bald zusammenbrach, während Baranow in den wilden Jahren der 1990ern irgendwie im ORT, dem größten Fernsehsender, unterkam und sich um Dunstkreis eines Michael Chodorkowski bewegte (der ihm die Freundin Xenja abspenstig machte). Er kam in Kontakt mit Boris Beresowski, Oligarch, Besitzer eines Medien-Imperiums und Günstling der Jelzin-Familie, dessen Idee darin bestand, sich einen leicht in seinem Sinn formbaren Nachfolger für den gesundheitlich angeschlagenen Jelzin zu suchen. Er kam auf den damals vollkommen unbekannten FSB-Chef Wladimir Putin. Baranow schildert seine erste Begegnung mit Putin in Beisein von Beresowski.

Baranow hält mit seinen Urteilen über die Jelzin-Jahre nicht hinter dem Berg. Putins Doktrin decken sich mit seinen: Die Zeit der Herrschaft der "Bürokraten" sei vorbei – das Volk sehnt sich nach einem starken Mann, der ihnen Sicherheit gibt. Im Grunde war diese Epoche kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur eine Art Pause, nachdem es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein "Wettstreit zwischen Künstlern" gegeben habe. Zu den Künstlern gehören für ihn Stalin, Hitler und Churchill.

Es gelte sich nun wieder an Stalin zu orientieren. Baranows These: Dessen Säuberungsaktionen waren die Botschaft an das Volk, dem blutrünstigen Diktator, dass man seine Sorgen wahrnahm. Die Schauprozesse waren "Hollywood-Megaproduktionen" um den "Fluß der Wut" zu kanalisieren. Es war einfacher, einen Verantwortlichen zu erschießen, als den Sachverhalt des Versagens von Institutionen zu analysieren und abzustellen. Und so wurde der unbekannte Putin durch sein hartes Durchgreifen im Tschetschenien-Krieg nach dem (vermeintlichen?) Terror-Anschlag in Moskau (zwei Wohnhäuser werden in die Luft gesprengt) nicht zuletzt von Beresowskis Medien erfolgreich als Macher inszeniert. Er werde die Terroristen auch noch auf der Latrine kaltmachen, so verkündete Putin im Herbst 1999. Von nun an ist er für Baranow der Zar und ein einziges Mal wird es pathetisch in diesem Buch, wenn davon die Rede ist, wie sich binnen weniger Augenblicke der "asketischen Funktionär" zum "Erzengel des Todes" wandelte.

Seine Rationalität wäre Putin beim Untergang der "Kursk" fast zum Verhängnis geworden. Statt sich öffentlichkeitswirksam als Betroffener zu zeigen, zog er es vor, in seinem Urlaubsort zu verweilen. Beresowski war empört, seine Medien agitierten gegen den kalten Präsidenten. Als er zu Spenden für die Hinterbliebenen aufrief, platzte Putin der Kragen. Warum Beresowski denn nicht selber seine Chalets in der Schweiz verschenke. Es ist der Anfang von Ende Beresowskis; man nahm ihm einfach seinen Fernsehsender ab, zwang ihn, seine Firmen unter Wert zu verkaufen (es blieben dennoch Milliarden). Sein Sticheln gegen Putin ließ er auch im ausländischen Exil nicht sein. Schließlich wurde er in London tot aufgefunden. Die Polizei legte sich rasch auf Suizid fest. Baranow vermied es, Putin direkt auf eine mögliche Beteiligung des FSB anzusprechen.

Schon vorher wurde deutlich, dass Beresowski geirrt hatte. Denn Putin lässt sich nicht formen – er formt selber. Baranow wurde Putins Berater; eine eher informelle Tätigkeit, die ihn nicht vor eventuellen Intrigen aus dem Hofstaat, insbesondere von Igor Setschin, den man "Russlands Darth Vader" nennt, schützte. Baranow war klug genug, seine Emotionen auszublenden und sich zurück zu nehmen. Er versuchte eher, die Reaktionen und Handlungen seines Zaren zu antizipieren. In den grundsätzliche Themen behandelnden Dialogen mit Putin kam es vor allem darauf an, an den richtigen Stellen nichts zu sagen oder mit "Ich glaube gar nichts, Präsident" alles in der Schwebe zu lassen.

Die außenpolitische Doktrin Putins hat Baranow internalisiert. Es wird das Ende der "Fügsamkeit" angesagt. Vorbei werden die Zeiten der Demütigung sein, als ein amerikanischer Präsident bei der Rede des russischen Präsidenten in einen nicht enden wollenden Lachanfall verfällt oder sich im amerikanischen Fernsehen von einem Mann in Hosenträgern befragen lassen muss. Hinter der markanten Rhetorik zeigen sich allerdings massive Minderwertigkeitskomplexe, etwa wenn Clintons Frage, wie es Jelzin gehe, von Putin schon als Beleidigung aufgefasst wird. Immer wieder betont Putin die Größe der Nation. Die Russen seinen nämlich, so wird er zitiert, 1991 nicht besiegt worden, sondern sie hätten sich einer Diktatur entledigt. Nicht der Westen habe die Mauer zum Einsturz gebracht und den Warschauer Pakt aufgelöst, sondern Russland. Baranows Verachtung für den Westen ist intellektueller und wird in manchmal schneidenden Allegorien ausgedrückt. Manchmal schießt Empoli aber auch über das Ziel hinaus, beispielsweise als er die Szene mit der Labrador-Hündin Koni, die um die ängstliche Bundeskanzlerin Merkel umher streift und um Zuneigung bittet, als neue Volte der Außenpolitik ausgibt.

Putin strebt "Ordnung im Inneren und Macht nach außen" an. Er möchte gefürchtet werden; Verbrechen und Grausamkeit als Basis – so bezeichnete einst Machiavelli diese Herrschaftsform. Gewalt sei das "Herz" des russischen Staates. Putins Albtraum sei es, wenn bei einer Revolution die Truppen gegen ihn aufbegehren würden, statt gegen die Revolutionäre. Damit es nicht dazu kommt, muss die Bevölkerung in den Zustand der ständigen Ungewissheit versetzt werden, eine "ständige Alarmbereitschaft", die niemanden in Sicherheit wähnt vor dem Zugriff des Apparates. Ein starker Herrscher müsse Loyalität von "den Starken" erlangen, nicht von den "Mittelmässigen und Schwachen"; diese müssten den Staat fürchten. Baranow wie Putin sehen die Loyalität zum Beispiel dahingehend erreicht, wenn Oligarchen sich aus politischen Entscheidungen heraushalten. Zwar ist Baranow schockiert ist, wie sein ehemaliger Freund Chodorkowski in Handschellen und in einem Käfig im Fernsehen vorgeführt wird. Unvorstellbar, dass im Westen ein Murdoch oder Zuckerberg in Handschellen abgeführt würde, so Baranow süffisant. Aber es sei der Beleg dafür, dass in Russland nicht Geld regiere, so stellt er fast triumphierend fest, sondern der Wunsch, "Teil von etwas Einzigartigem" zu sein.

Das Vorbild Wladislaw Surkow

Spätestens hier muss auf das vermutliche Vorbild für die Figur Baranow eingegangen werden. Es dürfte sich um Wladislaw Surkow handeln, der tatsächlich für einige Zeit als Berater Putins fungierte. Es gibt zwei Indizien, die dafür sprechen. Zum einen beschreibt die Journalistin Catherine Belton Surkow in ihrem Buch Putins Netz als "kindergesichtig". Und im Magier im Kreml ist auf Seite 9 vom "kindlichen Gesicht" die Rede. In Beltons Schurkenkatalog ist von Surkow allerdings nur drei Mal und ziemlich kurz die Rede und zwar stets in Verbindung mit Alexander Woloschin, der lange Zeit Stabschef des Kreml war und damit Surkows Vorgesetzter. Für Surkow als Vorbild spricht zudem, dass dieser auch wie der fiktive Baranow unter einem Pseudonym schriftstellerisch tätig war. So wird ihm der 2009 erschienene Roman Nahe Null zugeschrieben, der ein Jahr später übersetzt von Ganna-Maria Braungardt im Berlin-Verlag auf Deutsch mit dem Autorennamen "Natan Dubowizki" erschienen war (und inzwischen spurlos aus allen Antiquariaten verschwunden zu sein scheint). Surkow soll den Roman sogar selber rezensiert und gelobt haben.

Der Schriftsteller Viktor Jerofejew, der Surkow für den Autor von Nahe Null hält, nannte ihn den "Chefideologen" des Kreml. Für den britischen Journalisten Peter Pomerantsev, der solide Kenntnisse über Surkow hat, die auch bei Empoli Verwendung finden, war er Putins "Rasputin" und der "graue Kardinal" im Kreml.(Zu Beginn wird auf eine Lektüre von Kardinal de Retz' Memoiren hingewiesen.) Ganz "grau" war Surkow allerdings nicht bzw. nicht immer. So gab er 2005 dem Spiegel ein Interview (die nichtssagenden Fragen sind allerdings kein Ruhmesblatt für das Nachrichtenmagazin; man mag sich nachträglich Surkows Amüsement vorstellen). Im Roman wird Baranow von Garri Kasparow als "Magier" apostrophiert. Er selber bezeichnet sich als "Handlanger", der im Ruhestand sei. An griffigen Zuschreibungen fehlt es also nicht.

Die Komposition zählt

Baranows Zynismus steht im Roman von Empoli für sich alleine - und sorgt damit für schaurige Unterhaltung. Er bekommt "eine Bühne". Der Journalist im Buch macht das, was schwer fällt: er hört zu. Giuliano da Empoli widersteht nicht nur der Versuchung, Putin bzw. seine Hauptfigur zu dämonisieren, sondern er unterlässt auch eine unmittelbare moralische Widerrede. Auch bleibt man von Vorhersagen jeglicher Art verschont. Im Gegensatz zu so vielen paternalistisch auftrumpfenden "Experten" genießt hier der Leser das Vertrauen. Man kann (und wird) die Widersprüche in Baranows kruden Einschätzungen selber entdecken müssen.

Zwar sind die hier ausgebreiteten Fakten, die Putins Weltsicht beschreiben, hinlänglich bekannt. Aber es geht in diesem Roman um das kompositorische Arrangement, um Bündelung. Die wahre Hauptfigur in diesem Buch ist Putin. Manche Beschreibungen sind ein bisschen diffus, etwa wenn von Putins Gesicht mit "mineralischen Härte" die Rede ist. Manches verstört, etwa die Aussage Baranows an einen russischen Söldner im Donbass, dass es bei kriegerischen Auseinandersetzungen nicht um den vollständigen Erfolg, den Sieg, gehe. Die Eroberung dürfe nicht endgültig sei, sondern es sei "nur" ein bestimmtes Chaos-Level anzustreben. Dies lässt in Verbindung mit dem aktuellen Ukraine-Krieg nichts Gutes erwarten. Zuweilen vergisst man, dass dieser Mann im Kreml real ist und nicht nur eine Romanfigur.

Das Buch hat allerdings auch Schwächen. Dramaturgisch mag es unerlässlich sein, der Hauptperson eine Familiengeschichte zuzuweisen. Hier nimmt sich Empoli hinsichtlich des möglichen Vorbilds große Freiheiten, und schmückt mit seiner Großvatergeschichte die Stalin-Zeit aus. Aber die Erzählung rund um von Xenja, der großen Liebe Baranows, die zunächst mit Chodorkowski geht und später dann den Berater des Zaren lieben lernt, wirkt eher aufgesetzt. Baranows Melancholie, nicht mehr nach Schweden reisen zu können, weil er auf der Sanktionsliste der EU steht, kommt ähnlich der neuen Fixierung auf das Familienleben, auf seine fünfjährige Tochter Anja, ein bisschen hölzern daher.

Jewgeni Samjatins Wir

Besser wäre es gewesen, der Roman hätte nach Kapitel 30 geendet, welches mit der "Albtraummaschine" des Westens – Russland - beginnt. Dort beschwört Baranow gegen Ende raunend die kommende Herrschaft der Maschinen über den Menschen. Damit wird der Bogen zu Samjatins Wir gespannt. Jewjeni Samjatin, der zunächst mit der Revolution sympathisierte, war Schiffbauingenieur und spielte auch im literarischen Leben Moskaus eine Rolle. 1920 verfasste er Wir. Der Roman wurde als "konterreaktionär" eingestuft und ist niemals in der Sowjetunion erschienen. Bekannt wurde er im Ausland durch zahlreiche Übersetzungen. Nur knapp entkam der Autor dem Straflager; der Brief an Stalin, mit dem er den Diktator milde stimmte und nach Europa ausreisen durfte, wird im Magier im Kreml ausschnittweise zitiert.

Hauptfigur in Wir ist der 32jährige "D-503", der im "Einzigen Staat" lebt. Er ist der Konstrukteur des "Integral"; einer Art Weltraumrakete, die das Prestigeobjekt des Staates zu sein scheint. Sein Denken ist wie die Staatsräson rein rational geprägt. Emotionen werden als überflüssig und minderwertig betrachtet. Es ist ein Überwachungsstaat par excellence. Der Tag ist getaktet; es gibt feste Aufsteh- und Schlafzeiten. Wenn man nachts nicht schläft, ist dies ein Verbrechen. Es gibt Pflichtspaziergänge, festgelegte Essenszeiten für die "Naphtha-Nahrung", die mit vorgeschriebenen 50 Kaubewegungen für jeden Bissen zu verzehren ist. Man lebt gläsern selbst in den zwei privaten Stunden pro Tag. Nur mit rosa Billetts, an den "Geschlechtstagen", dürfen Vorhänge heruntergelassen werden, wobei die "blinde Lust" verpönt ist; es gilt die "Lex sexualis". Treffen mit anderen Personen werden mit Abonnements gebucht, die natürlich ebenfalls kontrolliert werden. Sogar Gespräche auf der Straße können mit speziellen Membranen abgehört werden. Briefe werden vor der Zustellung gelesen. Poesie hat dem "Nützlichen" zu dienen; andere Literatur wird als schädlich betrachtet. Im Staat gibt es keine Tiere, Bäume oder Pflanzen. Sie gelten als "unvernünftig" und hässlich; diese Welt, die wir "Natur" nennen, befindet sich jenseits der ominösen "Grünen Mauer". Dort sollen noch Menschen leben, während im Einzigen Staat alle Bewohner nummeriert sind. Statt der zehn Gebote werden die Gesetze des Staates gelehrt. Die Wahl des "Wohltäters" (es ist die 48. Wiederwahl) wird per Akklamation im Stadion, einer "gewaltigen Schale der Einstimmigkeit", durchgeführt.

Wie meist in solchen Dystopien, tendieren einige Figuren zum Ausbruch aus diesen Strukturen. So lernt D-503 eine Frau, I-330, kennen. Sie verwirrt ihn und gegen alle Vernunft verliebt er sich in sie (seine rein sexuelle Affäre mit einer anderen Frau, die er pflichtschuldigst schwängert, wird ihm lästig). Der Befund, der dem Mathematiker, der die Wissenschaft im Dienst des Staates stellen will, übermittelt wird, kommt einer  Katastrophe gleich: "Bei Ihnen hat sich offenbar eine Seele gebildet." Hinzu kommt, dass I-330 eine Vertreterin der "Mephi" ist, einer revolutionären Widerstandsbewegung, die immer mehr Zulauf erhält. Das Regime erkennt, dass sich die "Krankheit der Phantasie" gebildet hat. In großen Propagandaaktionen wird verkündet, dass man mittels einer kleinen Operation im Gehirn den für die Phantasie zuständigen Bereich zerstören kann und danach das gewohnte, paradiesische Leben weitergeht. Massen laufen mit dem Bekenntnis "Wir sind operiert!" durch die Straßen. D-503 ist verzweifelt. Einerseits will er sein bisher so stabiles Weltbild erhalten, andererseits liebt er I-330. Als er zu erkennen glaubt, dass man ihn nur als Konstrukteur des "Integral" gebraucht hat, lässt er sich operieren und triumphiert mit dem vermeintlichen Sieg der Vernunft, während die Abtrünnige unter der "Gasglocke" gefoltert wird – und vermutlich stirbt.

Wir ist als eine Art Tagebuch verfasst. D-503 wendet sich in insgesamt 40 Eintragungen offensiv an imaginäre Leser. Die Eintragungen sind in expressionistischem Duktus verfasst. Nicht immer ist eindeutig, was Traum und was Realität ist. Zudem widerspricht sich die Figur, was vermutlich beabsichtigt ist, und bewusst eine Identifikation erschwert.  In der Ausgabe, die mir vorliegt (KiWi Paperback, 1958 und 1984, 10. Auflage 2008; Übersetzung von Gisela Drohla), ist ein Nachwort des Journalisten und Filmemachers Jürgen Rühle (1924-1986) zu finden. Er weist zurecht auf Parallelen zu H. G. Wells hin und erklärt Verwandtschaft und Unterschiede zu Huxleys Schöne Neue Welt und Orwells 1984 (zwölf bzw. vierundzwanzig Jahre später entstanden). Somit wäre Wir der Ursprung der großen Dystopien des 20. Jahrhunderts, wobei zumindest Orwell nachweislich Kenntnis von Samjatins Roman hatte. Die Einschätzung, dass es sich um eine "optimistische Tragödie" handelt, kann ich in Anbetracht des Ausgangs nicht nachvollziehen. Zumal dem "Einzigen Staat" ein nahezu apokalyptischer, 200jähriger Vernichtungskrieg vorausgegangen sein muss. Als dessen Resultat hätten nur 0,2% der Bevölkerung überlebt.

Der Roman bekommt durch die stetig wachsende Bedeutung digitalisierter Medien eine neue, zusätzliche Brisanz. Empoli möchte Surkows Maxime von der "souveränen Demokratie" mit Samjatins Roman als "letzte Waffe gegen den digitalen Bienenstock" verknüpfen. Der Dichter habe, so der Erzähler im Magier, "ein Jahrhundert übersprungen und sich direkt an unsere Zeit gewandt". Tatsächlich kann man hier und da einige Imperative des "Einzigen Staates" bereits verwirklicht sehen. Damit sind nicht nur die gängigen Diktaturen (insbesondere China und Nordkorea) gemeint. Die Stelle, in der die Kampagne für die Gehirn-Operation zwecks Entfernung der "Phantasie" ausgeführt wird, zeigt verblüffende Parallelen zur (deutschen) Hysterie um die Covid-Impfung 2021. Das Denken von D-503 ist geradezu ein Modell für die zeitgenössische "Follow-The-Science"-Forderung, die inzwischen häufig politisch beeinflusst ist. Auch die Gefahren gegenwärtiger progressiv-identitärer Bewegungen erscheinen am Horizont, wenn es heißt "Originalität zerstört Gleichheit" und die Konsequenz dann eben aus der Beseitigung von Individualität besteht. Oder wenn vom "Atavismus" der "Verschiedenheit" von Nasen als "Grund zum Neid" die Rede ist, was zu einer abstrusen Aufgabenformulierung führt, in der Zukunft für einheitliche Nasen zu sorgen. Die Quintessenz eines omnipräsenten, "fürsorglichen" Staates wird in der Rechtfertigung "Ist die Freiheit des Menschen gleich Null, begeht er keine Verbrechen" zusammengefasst. Die Zustimmung zu dieser Aussage findet sich merkwürdigerweise auch immer mehr in demokratisch verfassten Gesellschaften.

Neben einem unterhaltsam-gruseligen Roman über das System Putin gebührt Giuliano da Empoli vor allem Dank, auf Samjatins Wir hingewiesen zu haben.

Artikel online seit 20.03.23
 

Giuliano da Empoli
Der Magier im Kreml
C.H. Beck
265 Seiten
25,00
978-3-406-79993-8

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