Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik                                           Impressum & Datenschutz

 

Home   Belletristik   Literatur & Betrieb  Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  


 







Eine Maus als Elefant?

Überlegungen zu Andreas Isenschmids Proust-Lektüre.

Von Wolfgang Bock
 

Andreas Isenschmids Beschäftigung mit dem Jüdischen bei Marcel Proust (1871-1922) beginnt mit der Dreyfus-Affäre und dem damit zusammenhängenden modernen Antisemitismus. 1894 wurde Alfred Dreyfus als angeblicher deutscher Spion in der französischen Armee verurteilt, am 5. 1. 1895 öffentlich degradiert und anschließend nach Guyana verbracht. Der Skandal war eine Erweckung für den Zionisten Theodor Herzl, der als Journalist und Beobachter am Prozess teilnahm. Einer der wenigen, die an Dreyfus‘ Unschuld glaubten, war der junge Marcel Proust. Das Verhalten Dreyfus gegenüber wird für Isenschmid die Hauptreferenz einer Wirklichkeit gegenüber einer Fiktion und damit zur realistischen Nagelprobe für Prousts Schreiben. Er greift dazu auf die Frühschriften und die Briefe, vor allem aber auf die Varianten des Romans Jean Santeuil zurück. Es handelte sich bei der Dreyfus-Affäre um einen Justizskandal. 1897 begann die Kampagne für die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Alfred Dreyfus. Émile Zola schrieb fünf Artikel in fünf Wochen, wodurch die Sache ihre nationale Dimension bekam. Proust ging regelmäßig zum Prozess, auch zu dem gegen Zola. Wie verhält er sich zu diesem Skandal? Er sähe sich nicht als Jude, aber auch nicht als Nicht-Jude, meint Isenschmid:

»Die These dieses Buches ist es, dass Proust sowohl bei seinem politischen Aktivismus als Dreyfusard wie beim Schreiben von starken jüdischen Gefühlen geleitet wurde, dass er sie aber meist nur indirekt zum Ausdruck brachte und zu ihnen eine durchgängig ambivalente Beziehung unterhielt. (S. 23)«

Proust und die jüdische Tradition
Diese Mutmaßung über die Beziehung Prousts zu seinen Gefühlen gibt das Ergebnis des ersten von drei Kapiteln ab. In diesem Sinne kann Isenschmid im zweiten Kapitel zeigen, dass entgegen einer katholischen Lesart nicht das väterliche Illier-Combray mit seinen Kirchenglocken Prousts wichtigste Umgebung ausmache, sondern dass die berühmten Gutenachtdramen in Auteuil bei Paris spielen, im Hause der Familie der jüdischen Mutter. Im dritten Kapitel wird deutlich, dass Charles Swann, der von Proust erdachte Held der Recherche, ein assimilierter Jude und mit Eigenschaften seines Großvaters, seines Großonkels und anderer ausgestattet ist und weiter, dass bei aller Ambivalenz der Beschreibungen der jüdischen Familie der Blochs im Roman diesen seine Sympathie gilt. Proust macht sich aber auch antisemitische Ansichten zu eigen und legt sie in den Mund seiner Figuren. Isenschmid befragt vor allem Proust nicht ernsthaft danach, ob er damit nicht ausgedrückt habe, was das Jüdische sei?

Der Proustsche Maelstrom
Sich ernsthaft mit Marcel Proust zu beschäftigen, hat es in sich. Oft teilen der Leser und die Leserin ihre Zeit ein in eine Phase vor und nach dieser Beschäftigung. Es geht um Kontaktmagie: zu stark ist der Sog, selbst so kleinteilig und mäandernd zu schreiben wie der französische Ausnahmeromancier. Proust und seinen Texten gegenüber erweisen sich die herkömmlichen Referenzen der angeblich so harten Realität als windelweich und hinfällig: Rechtschreibregeln betrifft das ebenfalls wie sogenannte „Lebensformen“ (wie beispielsweise Thomas Manns „Lübeck als Lebensform“, die Isenschmid erwähnt). Eine dualistische Trennung zwischen empirischen Marcel und dem Erzähler der Recherche, zwischen der Sphäre der Kunst und des politischen Lebens lässt sich hier ebenso wenig aufrechterhalten wie eine vermeintliche Härte von Fakten vor der Dekonstruktion. Wer Proust liest, wird nach einer Phase der Abstoßung unweigerlich von diesem affiziert und es dauert Jahre, um das eigene Schreiben von diesem Durchgang zu emanzipieren. Das gilt für Prosa ebenso wie für Kritik und betrifft den überbordenden Stil Prousts, von dem die Leser und die Leserin sich zunächst kaum freimachen können. Es gilt aber auch für bestimmte Themen wie das Jüdische.

Es werde nach Isenschmid von Proust nicht direkt angesprochen und gleiche darin – so will zumindest der Titel seines Essays nahelegen – dem sprichwörtlichen Elefanten im Raum, den jeder kenne, über den offen zu sprechen sich aber niemand traue. Dabei verpasst Isenschmid, worum es ihm offiziell geht: Es gibt keine jüdische Identität oder das Jüdische, auf das man Proust festlegen könnte und zu dem dieser sich neudeutsch bekennen sollte. Jüdisch ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wird. Was sie oder er daraus macht, ist ihre oder seine Sache. Anders gesagt, nicht allein die Position des Zentralrats der Juden ist jüdisch, sondern auch die von Judith Butler; nicht nur eine Meinung von Theodor Herzl, sondern auch die von Marcel Proust. Bei einem Bekenntnis zum Jüdischen, auf das Isenschmid anscheinend aus ist, handelt sich um eine Diskursformation, die sich erst im Zuge der rassistischen Debatten des späten 19. Jahrhundert ausbildet und in den heute wiederkehrenden vorherrschenden Zwang zu der Anerkennung einer eigenen Identität fröhliche Umstände feiert. Für Franz Kafka beispielsweise war die jüdische Frage eben solche, ob man sich assimilieren soll oder nicht. Ein Bekenntnis zu einer jüdischen Identität, zum Staat Israel usw. wächst erst auf dem Rücken des modernen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, der faschistischen Vernichtungspolitik und des Zionismus. Auch die Unterscheidung zwischen jüdischen und arabischen Semiten geht auf die „archäologische Politik des Staates Groß-Israel“ (Amos Elon) und die Propaganda der Gegenseite zurück. Bei Proust dagegen ist gerade das Faszinierende, dass die Welt zum Text wird und der Text zur Welt. Nicht umsonst lautet eine berühmte Stelle der Recherche: „Und die Häuser, die Straßen, die Alleen, sind flüchtig, ach! wie die Jahre.“ Wenn ein jüdisches Dispositiv gibt, das dem Volk des Buches annähernd gerecht wird, dann ist es dieses.

Das Jüdische bei Proust – der Gipfel der Verwirrung
Isenschmid will zeigen, dass bei Proust ein jüdischer Zusammenhang, wenn auch verrückt und verschoben, permanent anwesend sei. Das ist im Prinzip ein löbliches Unterfangen. In seinem Bemühen, den literaturwissenschaftlichen Diskurs über Marcel Prousts, der mit dem französischen Vater und dem Leben im katholischen Illier-Combray verbunden ist, nun einen jüdischen, auf die Familie der Mutter und deren Wohnsitz in Auteuil am Rande des Bois de Boulogne zu ersetzen, aber wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Isenschmid will bei Proust, wenn es um das Jüdische ginge, einen schlingernden Diskurs ausmachen. Es handle sich um eine Verwirrung des Autors, der bei dem Thema nicht mehr wisse, wo ihm der Kopf stehe.[1] Proust aber schreibt über seine Verhältnisse so, wie sie sich ihm darbieten: über die jüdischen Fragen als Bewegung zwischen Assimilation und Herkunft, als ein Pendeln zwischen der Welt des katholischen Vaters und der der deutsch-jüdischen Mutter ebenso wie zwischen seiner homoerotischen und heterosexuellen Neigung und ebenso wie zwischen dem empirischen Marcel und dem Erzähler-Ich der Romane Jean Santeuil und Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, der Recherche. Die konstatierte Verwirrung liegt bei Isenschmid, der ein ästhetisches Klischee bedient, wonach der Künstler nicht wisse, was er tue. Der Autor macht etwas anderes, als der Kritiker sich gedacht hat. Proust Form fällt aus Isenschmids Kategorien heraus. Sein Rahmen setzt die Trennung zwischen der empirischen und der ästhetischen Welt voraus, die Proust gerade aufheben will. Isenschmid tut so, als setzte er einen differenzierten Diskurs an und untersucht die verschiedenen Pastiche-Ebenen, von denen aus in einem „Fiktionsbruch“ (S. 53) das Reale ins Fiktionale hineinspräche, der wirkliche Marcel nun der Romanfigur die Worte in den Mund legen würde. Oder das Vorbild der Figur Charles Swann, Charles Haas, in der Romanfigur wiederzuerkennen wäre.

All das aber macht Proust gerade nicht; er verweigert sich einem solche Realismus als Trennung zwischen einer primären Realität des Außen und der sekundären innerhalb des Romans. Er unterscheidet nicht zwischen dem politischen Marcel in der Dreyfus-Affäre und dessen Verarbeitung in den Romanen. Proust nimmt gerade die Ästhetik so ernst, dass er ihr selbst eine eigene Realität zuspricht. Darin wird deutlich, dass das Jüdische, das Proust in seinem Roman nach Isenschmid anscheinend verdeckt, verschoben oder entstellt zum Ausdruck brächte, gerade diese Verschiebung darstellt.

Das Jüdische – eine Schimäre
Historisch weiß man, dass die Idee einer jüdischen Identität so gut wie die einer anderen ethnisch, kulturell oder rassisch begründeten eine fiktionale ist. Sie bleibt identitär und kulturalistisch. Sie entsteht als Reversi des Ungeistes einer Rassenidentität des sogenannten Ariernachweises. Was soll dieses Jüdische nach Isenschmid im Letzten sein? Eine entsprechende Lesart bei Proust will er darin sehen, dass die Existenzen von Charles Swann und der Bloch-Familie als erzählerischer „Widerstand gegen den Tod“ im Namen erhalten bleiben.[2] Für Swann sieht er solchen Widerstand in dem Bemühen, dass er in seiner Tochter Gilberte als Jude weiterleben wolle; ein Ansinnen, dem sie sich verweigert. Über den Tod hinaus gehen zu wollen (und damit diesem Widerstand zu leisten), ist aber kein Kennzeichen eines Jüdischen, auch nicht in der Ästhetik. Ursprünglich kennt das Judentum kein Weiterleben nach dem Tod. Das kommt erst in der Konkurrenz mit dem Christentum auf. Wir finden diese Idee dann in dem christlichen Wunsch bei Augustinus‘, nach der Apokalypse zu den Überlebenden des zweiten Lebens zu gehören, ebenso wie bei den frühbürgerlichen Gemälden, die die Kaufleute aus Florenz und Venedig von sich selbst anfertigen lassen, um ihren Tod zu überleben. Es lebt in der Lebensphilosophie wie im existenzialistischen „Vorauslaufen zum Vorbei“ eines Martin Heideggers, in der Frage der „Urwahl“ Jean-Paul-Sartres oder im absurden „Dennoch“ eines Albert Camus angesichts des Todes. Und indem Isenschmid das Jüdische so fassen will, legt er an Proust in dieser Frage Maßstäbe eines Identischen an, das sich bei dessen Schreiben gerade in einer Bewegung befindet. Proust trifft gerade keine Entscheidung für eine französische, deutsche oder jüdische Welt; er beschreibt, er schreibt und lebt und schafft so den Unterschied zwischen Leben, Sterben und Schreiben ab. Wenn es ihm um Wahrheit und Aufrichtigkeit geht, so schließt er sich an das ethische Projekt von Baruch Spinoza an. Das arbeitet Isenschmid sehr schön in seinem ersten Kapitel heraus; es scheint ihm aber nicht auszureichen.[3] Und so hypostasiert er sein Konzept und fällt dahinter zurück. Denn wenn ein Jüdisches existiert, dann doch wohl als der Spannungsbogen, in dem Marcel Proust es in der Recherche darstellt: als Tendenz zur Assimilation der nach Frankreich eingewanderten Juden mit ihrer doppelten Herkunft aus Spanien und Portugal per Schiff und aus Deutschland, Polen und Russland per Land. Zu dieser Assimilation gehört es dazu, sich gegen die nichtassimilierten Juden auszusprechen, ja auch das Jüdische so zu verleugnen, wie der Pseudo-Messias Sabbatai Zwi am 16. September 1666 sein entsprechendes Vorhaben aufgibt, als er vom türkischen Sultan Mehmet IV. vor die Wahl gestellt wird, sich zum Islam zu bekennen. Er tut es und dass er es tut, ist für seine Anhänger gerade das Zeichen, dass es sich bei Ihm wirklich um den Messias handele. Auch das ist jüdisch. Oder eben auch die messianischen gesonnen Juden, die auf dem Kongress von Ahmadinedschad in Teheran 2005 dafür beten, dass der Staat Israel bald untergehen wird, damit der Messias schneller komme.[4] So ambivalent wie Proust über das Jüdische schreibt, so ist es und es ist wohlfeil, ihm nachzuweisen, dass er dabei schwankte, die Ebene zwischen Ästhetik und Realität verwechselte und nicht wüsste, was er täte. In Wahrheit besteht Prousts Kunst gerade in dieser Ambivalenz, nicht sein empirisches Ich davon abgrenzen zu müssen.

Der geteilte Himmel
Und so endet Isenschmids Buch, wie es begonnen hat. Diese Ambivalenz lässt sich nicht weiter aufklären. Wo Isenschmid über die wertvollen Details, die er zu Prousts jüdischer Familie beibringt, zu einem übergeordneten Konzept weitergehen will, fällt er hinter sich zurück. Er will zwei Erzähler in der Recherche ausmachen, einen dichterischen, der die Erfahrungen seines Liebeslebens preisgibt und einen historischen, der die Erfahrungen mit der Assimilation von außen berichtet. Das sei das Wesen der Ambivalenz: „So viel Einsicht. So viel Abstand. So, das wars.“ (S. 191) Als Leser sagt man: Danke, aber das wussten wir schon auf Seite 23 besser. Das Darüberhinausgehende hat dadurch etwas von Jorge Luis Borges Fiktionen. Diese Kritik ist erst beendet, wenn der Kritiker zum Original geworden ist. Andreas Isenschmid wähnt sich gleichsam als der Autor von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Er ist unter Zeichen und Orakel unter einem real geteilten und idealistisch identitären Himmel geraten, die es beide bei Proust nicht gibt.

[1] „Ich glaube nicht, dass Proust, als er diese wunderbare Restaurantszene schrieb, wusste, wo ihm der Kopf, geschweige das Herz stand. Sie enthält sein höchstes Lob des Jüdischen und ist in ihrem Schleudern der Gipfel der Verwirrung in seinen Gefühlen jüdischer Zugehörigkeit.“ (S. 168)

[2] „[…] nicht religiöses, sondern ästhetisches Erinnern, Romankunst soll den Widerstand gegen den Tod verbürgen.“ (S. 55).

[3] „Der Geist Spinozas, wie Brunschvicg ihn beschreibt, ist identisch mit dem Geist des Proust'schen Picquarts: Spinoza widmet sich angesichts der »Entfesselung der brute populaire« der selbstlosen Erforschung der überparteilichen Wahrheit, wie Picquart stellt er diese Wahrheit über sein Leben. (S. 51) Er wiederholt das Spinoza-Motiv nochmals im Anhang, S. 196.

[4] Isenschmid erwähnt weitere Beispiele im Anhang, zieht aus ihnen aber keinen Schluss.

Artikel online seit 14.01.23
 

Andreas Isenschmid
Der Elefant im Raum
Proust und das Jüdische
Hanser Verlag 202
240 Seiten
26,00 €
978-3-446-27271-2



 

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie    Impressum - Mediadaten