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Abtauchen

Ein Gedenkwort für Carlo Emilio Gadda & seine
»Grässliche Bescherung in der Via Merulana«

Wolfram Schütte
 

In seinem amüsanten Essay »Warum Klassiker lesen?« versammelt der wunderbare Italo Calvino 14 Gründe, seine Frage zu beantworten. Zwei davon lauten: »Es werden Bücher Klassiker genannt, die für den, der sie gelesen und geliebt hat, einen Reichtum darstellen – aber sie stellen einen nicht minder großen Reichtum für den dar, der sich das Glück vorbehält, sie zum ersten Mal unter den besten Bedingungen zu lesen, um sie richtig zu genießen.« 

Es ist also nie zu spät, einen Klassiker zu lesen, möglicherweise sogar besser, ihn als älterer Mensch zu lesen, denn als junger. Weil »ein Klassiker ein Buch ist, das nie aufhört, das zu sagen, was es zu sagen hat.«

So könnte der 50.Todestag (am 21.Mai) des 1893 in Mailand geborenen Carlo Emilio Gadda ein hinreichender Grund sein, »Die grässliche Bescherung in der Via Merulana« wieder einmal oder erstmals »unter besten Bedingungen« zu lesen.

Auf Deutsch, versteht sich - was dank der bewundernswerten Übersetzung der neologistisch beschlagenen Toni Kienlechner möglich ist. Ihre Arbeit ist 1961, wenige Jahre nach der endgültigen Originalausgabe, erstmals erschien, war mittlerweile vergriffen, ist aber von Wagenbach gerade eben wieder vorgelegt worden. Sie gilt unter Kennern als eine der außerordentlichsten   philologischen Leistungen – was jeder begreift, der auch nur ein paar Seiten von ihr gelesen hat.

Obwohl zwei Morde an reichen alten Damen im Rom des Jahres 1927 zu der grässlichen Bescherung in der Via Merulana geführt haben, ist das Genre des Kriminalromans der literarischen Eruption Gaddas ferner als jeder im Roman genannte römische Ort den noch heute existierenden realen Lokalitäten. Denn der kriminalistische Anschein – gar das banale Interesse des Whodunit) verblasst sehr bald hinter einer satirisch-humoristischen Welt, die von dem Autor zwar als umfassende, detaillierte Ortsbeschreibung Roms & seiner ländlichen Umgebung erschaffen wird & alle Aufmerksamkeit auf sich zieht; aber das wahre Wunder des Buchs, in dem der Autor lustvoll vom Hundertsten ins Tausendste (& zurück) kommt, ist die Sprache (Kienlechner/Gaddas): ein Festschmaus gewissermaßen, beispielsweise diese Passage etwa in der Mitte des Buches, die unter Polizisten der römischen Quästur zu Mussolinis Zeit spielt:

»>Und morgen früh, Pompè, da machen Sie einen kleinen Spaziergang über die Via Veneto. Da müssen Sie, so ganz per Zufall, einer Engländerin über den Weg laufen, verstehen Sie? Und dann, haben Sie mich kapiert…< Tiefer Blick auf Pompeo. >Ihr folgen, ihr nachgehen: und sie, zusammen mit dem Knaben, erwischen!< Zeigefinger sticht in den Abgrund, >Nach dem Rendezvous< , Triumph, mitsamt dem Knaben haben Sie sie festzunehmen, nicht etwa vorher<: Trällern, >Nachdem Sie sie getroffen haben! Haben Sie mich kapiert, Pompè? Mit dem Stoppelhaarigen!< Er krauste die Stirn. >Engländerin, Engländerin<, pensif ,minding, >oder noch besser… warum nicht?<, minding, >Schottin oder Amerikanerin!< Kurzes Schweigen: >nach dem Rendezvous!<
>Ich habe begriffen, Herr Oberkommissar: aber…<
>Stoppelhaarige!<: Augenbrauen und Wimpern unerbittlich, gen Himmel gewandt: erbarmungsloser Ton: Handfläche abweisend vorgestreckt, um jeden zulässigen oder unzulässigen Einwand abzuweisen: Finger steif zur Monstranz gefächert.«
(…)
>Diese Jungfrauen gehen jeweils zu hundertfünfzig auf einmal an Land an der Immacolatella. An der Mole Beverello. Von der
Conte Verde!< verkündete er: und riss die Brauen bis zur halben Stirn empor. Zeigefinger-Daumen lehrhaft zur Linse gerundet: >oder von einem Transatlantiker der Kauns Lein!<  Kommen in Schwärmen, schwirren aus dem Bauch der Conte, wie Hühnervolk aus der Steige: wenn´s nach langer Fahrt übers Weltmeer endlich auf Land gesetzt wird, freigelassen: trippelten in Truppen den Schiffssteg herunter, mit Taschen, mit Brillen, verstreuten sich übers Beverello:  zwischen Koffern, zwischen Hotel- und Cooks-Travels-Agenten mit goldfädengestickter Schrift auf den Mützen, und Gepäckträgern und mauloffenen Adjutanten und Eisverkäufern und  Korallenhörnchenhändlern und Diensterbötigen mit Adressen und Ratschlägen und Erfindern von Notwendigkeiten, Beflissenen, Neugierigen aller Arten, Weibern.

>Nun ja…<, und der Doktor Fumi bewegte seine Linse aus zwei Fingern, den kleinen Finger abgespreizt, >Hühnervolk, das goldene Eier legt! Wenn sie legen. Und der Papa, und die Mama, drüben in Chicago, die glauben, dass sie Bilder im Museum studieren, und wie die Madonna gekleidet ist, wie schön sie ist: wie schön unser St. Gennaro, ja, der auch<:und er schüttelte dazu das Haupt, über die Gutgläubigkeit der Väter, der Mütter. >Die Kapelle von Beato Angelico! Und die Stanzen des Raffael! Die Fresken des Pinturicchio!< Er seufzte. >Da braucht´s andere Kämmerlein, für diese Lämmchen<, murmelte er. >Die Himmelfahrt!«, rief er aus: >vom Tizian Vecellio!< und dieser Vatersname, ausgesprochen in dem dreckigen Quästurraum, erhöhte die Ehrbarkeit des Namens Tizian, als ob er damit sozusagen ein  Mann mit ordnungsgemäßen Papieren sei, über jede Verdächtigung erhaben.«

Es ist eine veritable Sprachlust, in die Vielzahl der dschungelartig wuchernden Erzählmäander der wunderbaren Bescherung abzutauchen, die Carlo Emilio Gadda in & um die Via Merulana in Rom uns als Klassiker-Vergnügen hinterlassen hat!

Artikel online seit 20.05.23
 

Carlo Emilio Gadda
Die grässliche Bescherung in der Via Merulana
Roman
Aus dem Italienischen
von Toni Kienlechner
Mit einem Nachwort
von Anna Vollmer
Wagenbach-Verlag
Engl. Broschur,
347 Seiten
26,00 €

 


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