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Content-Gott und Lehrbuch-Kant

Ottfried Höffe will dem Zeitgeist gegenhalten und fragt (wen eigentlich?)
Ist Gott demokratisch?

Von Peter Kern
 

Religionskritik erfordert keinen Bürgermut vor Bischofssitz und Fürstenthron mehr. Der von der Präambel des Grundgesetzes bemühte Gott ist nur noch ein folkloristisches Überbleibsel, Präambel-Gott genannt. Der Atheismus, den man sich noch bis ins 19. Jahrhundert mit mühsamen Kämpfen erkaufen musste, ist längst gratis zu haben. »Die Welt ist eine Republik…und erträgt weder einen absoluten noch einen konstitutionellen Gott…Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident oder Erster Konsul, welcher nicht viel Ansehen genoss, ich musste ihn absetzen…Die Unsterblichkeit geht in den Kauf.« So schrieb einmal Gottfried Keller.

Dieses Buch will dem Zeitgeist gegenhalten. Es ist eine Absage an die Naturwissenschafts-Gläubigkeit. Dieser Alltagsreligion erscheint der Gottglaube als ein atavistischer Wahn. Wer ihm verfallen sei, habe ein ähnliches mentales Problem wie ein Impfverweigerer oder ein Reichsbürger. Das ist ein mit kleiner Münze zu erwerbender Materialismus. Der ist beseelt von dem Glauben, die physikalisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis der Dinge sei mit ihrer wirklichen Erkenntnis identisch. Aber das ist ein Irrglaube. Das Buch vergibt die Chance, sich diesem Irrglauben gegenüber zeitgemäß atheistisch zu erweisen. Es verspielt die Chance, denn Kants Philosophie kommt darin prominent zu Wort.

Sein Kant ist der Lehrbuch-Kant. Bei diesem spielt Gott keine wesentliche Rolle, meint Höffe. Und hat er nicht recht? Kants Rechts- und Morallehre kommen doch ohne religiöse Begründung aus. Der Philosoph war in Königsberg nicht hinter dem Mond zu Hause, sondern bewegte sich auf der Höhe seiner republikanischen Zeit. Die Adelsprivilegien und die Leibeigenschaft abzulehnen, die Freiheit der Kunst, der Religion, der Wissenschaft zu verteidigen - das ist sein Impetus. Sich um seine Glückseligkeit zu kümmern, erklärt Kant zur Pflicht gegen sich selbst; der Verweis auf die jenseitige Glückseligkeit fehlt auffallend.

Es klingt doch bei Kants Kritik der Gottesbeweise ganz eindeutig: »Der Begriff eines höchsten Wesens ist eine in mancher Absicht sehr nützliche Idee; sie ist aber darum, weil sie bloß Idee ist, ganz unfähig, um vermittels ihrer allein unsere Erkenntnis in Ansehung dessen, was existiert, zu erweitern.« Kant zieht menschlicher Vernunft ihre von der Erfahrung vorgegebene Grenze.

Aber das ist nicht der ganze Kant. Indem er die materialistischen Philosophien durchgeht, verweist er auf deren Widersprüche. Die von den physikalischen Naturwissenschaften imponierten Materialisten überschätzen, so Kant, ihr Wissen. Was ein Naturding seinen chemischen, biologischen und physikalischen Eigenschaften nach ist (zu Kants Zeit von den Newtonschen Gesetzen erfasst), ist nicht in Summe das Wissen davon, was dieses Naturding möglich macht. Naturprozesse regierende Gesetze zu erforschen, setzt ohne menschliches Zutun vorhandene Naturdinge voraus. Kein Newton kann einen Grashalm nach Naturgesetzen erzeugen, heißt es bei Kant. Auch die Bio- oder die Gentechnologie, wäre heutzutage zu ergänzen, sind auf eine Zellstruktur oder eine DNA verwiesen, die sie vorfinden müssen, um sie reproduzieren zu können.

Der Materialismus scheitert an der begrifflichen Bestimmung der Naturgesetze. Diese sind notwendige Mittel der Erzeugung eines Körpers, aber sie sind nicht sein Ganzes. Sie benötigen zueinander passende stoffliche Substrate, sonst wären sie reine Prozesse. Und die Naturgesetze müssen zweckmäßig zusammenwirken. Ihre zweckmäßige Organisation gehört einer physikalisch nicht zugänglichen, per Experiment nicht nachweisbaren Dimension der Natur an. Kants Begriff dafür: Teleologie. Die Nähe dieses Begriffs zur Theologie ist etymologisch zufällig, aber in seiner Philosophie sachlich gegeben. Der Begriff verweist auf die Notwendigkeit, eine göttliche Weltursache zu denken. Die sieht Kant im Besitz des für das kosmische Werden nötigen Plans und Substrats. Was er verneint, ist das Vermögen, in diesen Plan Einblick zu nehmen oder gar die Welt aus Gott zu deduzieren.

Warum so langatmig Kant in dieser Rezension? Weil diese Reflexion im Buch fehlt und es damit seinen Gegenstand verfehlt. Es gönnt der theoretischen religiösen Begründung gar keine Auseinandersetzung. Es umgeht den Wahrheitsanspruch dieses Denkens, der doch lautet, die Welt habe einen göttlichen Urheber. Dass die heutige Theologie selbst keine rationalen Gründe für ihren Gottglauben mehr anzubieten hat und alles auf die Karten Glaube und Offenbarung setzt, ist kein Argument, es ebenso zu machen.

Höffe handelt nur Nützlichkeitsargumente ab. Es sei gut, wenn ein republikanisches Gemeinwesen viele Gläubige hat, ist so eines. Der nach Gesichtspunkten des Utilitarismus beurteilte Gott ist der des Niklas Luhmann. Höffe zitiert den Systemtheoretiker und Verwaltungsfachmann, der den entsprechenden Gesichtspunkt vorträgt: »Die Gesellschaft wäre arm dran, würde ihr das Angebot einer Möglichkeit, der Welt und dem eigenen Leben Sinn zu geben, fehlen.« Religion als Content einer Gesellschaft, der es an der entsprechenden Ressource mangelt. Man vergleiche Luhmanns Sinn-Administration mit Kant und man kann ermessen, warum die Frankfurter Kritische Theorie von einer Verfallslogik spricht.

Unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit hebt der Autor den Beitrag der Religion für unsere bildhafte Sprache hervor. (Dich schickt der Himmel); grandiose Architektur (wie den Kölner Dom) haben wir ihr zu verdanken; Bach-Kantaten und Broadway-Musicals (Jesus Christ Superstar) finden Erwähnung. Der Autor schlägt den Kirchen anscheinend vor, ihr Überleben zu sichern, indem sie als Sparte der Kulturindustrie mit ihren Pfunden wuchern. Es fällt einem die britische Monarchie ein. Ist die auf diese Weise nicht ihrer Abschaffung entgangen?

Das Buch handelt die Positionen der deutschen Kirchen in Fragen der Genomforschung oder der Sterbehilfe ab. Liegt hier nicht ein wirklicher Nutzen für eine demokratische, Begründung in schwierigen Fragen suchende Öffentlichkeit vor? Es liegt ein Dilemma vor, dem das Buch gar nicht nachspürt. Ihre ethischen Postulate leiten die beiden Kirchen von ihrem Gottglauben her – für den sie keine vernünftige Begründung liefern können. Dieses Unvermögen beschädigt mit dem Grund das Begründete.

Dem Essay – er hat neben der jüdischen und christlichen auch die islamische und buddhistische Glaubensrichtung skizzenhaft zum Gegenstand - ist es um das Sinn- und Intensivierungspotential religiöser Überzeugung zu tun. Es sträubt sich bei solcher Formulierung die Feder. Die sträubt sich auch deswegen, weil gar keine Philosophie mit Intensivierungspotential fürs Denken vorkommt; man denke an Karl Heinz Haag, dem wir die obige, subtile, von Kant angestoßene Reflexion verdanken.

Die großen Moral- und Staatstheorien werden wohl gestreift, Machiavelli, Hobbes, Locke, Rousseau. Die liefern religionsunabhängige Begründungen für politische Philosophie, zeigt Ottfried Höffe. Selbst bei Locke und Rousseau glimmen aber noch die alten Scheiterhaufen, sprechen die beiden den atheistischen Ketzern doch die Fähigkeit zum guten Staatsbürger ab, so erfährt man. Die »Verunreinigung der politischen Philosophie mit religiösen Elementen« datiere von Augustinus her. Höffe feiert sein Thema keineswegs nur, er sieht auch die Kehrseite. Das entpolitisierende Potential religiöser Weltanschauung fürchtet er. Aber an der Erschöpfung des Politischen dürften mehr TikTok und Twitter schuld sein als die Augustinische Zwei-Reiche-Lehre. (Gebt dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist).

Als Gegenfigur zum Kirchenvater präsentiert der Autor den Aristoteles. Ein bisschen ist der sein Säulenheiliger. An ihm ist ihm wichtig, dass die Theorie der Eudaimonia…keinerlei religiösen Charakter (hat). Mit diesem Wort ist man schnell auf dem Holzweg. Eudaimonia meint bei Aristoteles Mäßigung. Die hat es dem Autor angetan, gar in ihrer Steigerung als Verzicht. Bei Höffe ist es die Haltung eines Bürgers, dem mit dem öffentlichen Raum die Sphäre fehlt, wo politisch-kollektives Handeln stattfinden kann. Stattdessen privater Verzicht als Weltverbesserungsstrategie. Gegen zu viel Konsum und Völlerei empfiehlt er die zum Ethos geadelte Askese. Das Buch ist in dieser Passage Ratgeber-Philosophie. Der Autor hält dann spielend Anschluss an die umlaufenden Schlagworte wie Achtsamkeit oder Nachhaltigkeit.

Verblüffend, dass er dennoch für sich in Anspruch nimmt, eine politische Philosophie geschrieben zu haben; sein Buch versteht sich nicht als ein Elfenbeinturm-Denken, schreibt er. Eine nur privatim ihren Ausdruck findende Moral bleibt aber in diesem Turm allemal eingesperrt. Die katholische Soziallehre eines Oswald von Nell-Breuning – der Autor bezieht sich darauf - kannte dagegen noch ein kollektives, in der Arbeiterbewegung verankertes Subjekt.

Wobei Höffe der klassischen Tugendlehre durchaus eine politische Botschaft entnimmt. Es ist die des Maßhaltens, bezogen auf den Sozialstaat. Der solle es mit der Nächstenliebe nicht übertreiben, sonst lande man beim »entmündigenden Fürsorgestaat oder, noch schlimmer, beim dem den Eigenwert und die Eigenverantwortung jedes Individuums einschränkenden Sozialismus und Kollektivismus. Er sieht die Gefahr einer ständig wachsenden Umverteilung.«

Die Umverteilung kann man wahrlich sehen. Unternehmen, beispielsweise der Chipindustrie, lassen sich aktuell ihre Investitionen von öffentlichen Mitteln ordentlich sponsern. Da die Regierung die Industrie auffordert, sich von der chinesisch-taiwanesischen Chipproduktion abzukoppeln, halten die Vertreter der Industrie die Hand auf. Der Preis einer solchen Fabrik beläuft sich auf über fünf Milliarden, und der Steuerbürger wird wohl mit zwei Milliarden dabei sein, wenn Infineon - keineswegs ein notleidendes Unternehmen, wie dem Kurs-Gewinn-Verhältnis auf dem Börsenzettel zu entnehmen ist - in Dresden investiert. Aber an diese Umverteilung denkt Höffe nicht. Ihn plagt die Sorge, das Subsidiaritätsprinzip würde verletzt, wenn für die unterste Stufe der Klassengesellschaft ein bisschen mehr abfällt.

Höffe ist ein den Pluralismus und die liberale Demokratie verteidigender Autor. Das macht seinen sonstigen Liberalismus etwas kommoder. Sein Begriff von Demokratie ist dabei so plakativ wie ein aus einem Sozialkundebuch abgeschriebener Lehrsatz. Demokratie ist, wenn demokratische Verfahrensweise herrscht. Eine Gesellschaft, in der die Gleichheit der Bürger sich nicht auf die rechtliche und politische Sphäre beschränkt, sondern ebenso auf dem ökonomischen Sektor behauptet, kann er nicht denken. Der katholischen Soziallehre eines Nell-Breuning war dieser Gedanke noch eingängig. Demokratie ist für Höffe nur eine Methode, um den Willen der Staatsbürger zu ermitteln.

Religiös praktizierende Deutsche sind eine verschwindende Minderheit geworden, und die Kirchen sind nur noch die Grüfte und Grabmäler Gottes, wie ein vom Autor zitierter Prognostiker namens Nietzsche einmal geschrieben hat. Die Religionen sind überflüssig geworden, weil der moderne Sozialstaat das Jammertal der Vergangenheit abgeschafft hat, in dem sie, nach dem berühmten Marxschen Diktum, als Opium des Volkes noch vonnöten waren. Mit der überwundenen Not wird ein neuer Blick auf die Sache möglich, was aber eine Kritik der alten Religionskritik zur Voraussetzung hat. Einer undogmatischen Linken fällt diese Aufgabe zu - wenn es sie denn gäbe. Eine solche Linke eine verschwindende Minderheit zu nennen, ist noch schwer untertrieben. So sind es vereinzelte Individuen, und die können sich an Heinrich Heine orientieren. Der musste seine Abkehr vom Atheismus gegen das Gerücht verteidigen, er sei ein frommes Lämmlein geworden… Es waren Gedanken… und nicht die Phospordünste der Glaubenspisse.

Artikel online seit 08.01.23
 

Ottfried Höffe
Ist Gott demokratisch?
Zum Verhältnis von Demokratie und Religion
Hirzel Verlag
231 Seiten
24,00 €
978-3-7776-3078-6

 

 


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