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Selbstporträt aus dem Materiallager

Wilhelm Genazinos Aufzeichnungen 1972-2018 »Traum des Beobachters«

Von Wolfram Schütte
 

Zumindest ist das erste postume Buch des im Dezember 2018 in seiner langjährigen Wahlheimat Frankfurt am Main im Alter von 75 Jahren gestorbenen Wilhelm Genazino das umfangreichste seines gesamten Oeuvres. Allerdings ist dieser »Traum des Beobachters« weder Roman noch Essay, aus denen das Hauptwerk des in Mannheim geborenen Büchnerpreisträgers besteht. Genazino hat aber wohl seinen Lebensunterhalt weniger durch seine 20 Romane bestritten (obwohl er ein vielübersetzter Autor war), als durch seine ebenso regelmäßig entstandenen Hörspiele – von denen es meines Wissens bislang keine Sammlung gibt. Hinzu kamen im Laufe seiner 40jährigen Karriere als Freier Schriftsteller alle nur möglichen Preise.

Während dieser produktiven Jahre führte er ein »Werktagebuch«, das für den Zeitraum zwischen 1972 & 2018 auf ein Konvolut von 38 Aktenordnern mit ca. 7000 Seiten anwuchs. Daraus haben nun die beiden Literaturwissenschaftler Jan Bürger & Friedhelm Marx, nach eigenen Angaben, eine »repräsentative Auswahl« getroffen & ihr den Genazino-Titel »Der Traum des Beobachters« gegeben. Ihre Auswahl umfasst nur knapp 10% des »Werktagebuchs».

Indem sie die Einträge unterschiedlichsten Charakters, Form & Umfangs aufgrund von Genazinos akribischer Buchführung den Jahren ihrer Niederschrift zuordnen & für jedes Jahr die entscheidenden Fixpunkte im Leben & Werk ihres Autors notieren, entsteht auch so etwas wie die chronologische Skizze von Genazinos literarischer Karriere, deren geschlossene Darstellung als Bio- oder Monographie, soweit ich sehe, bislang noch aussteht.

Die allermeisten dieser Florilegien aus seinem »Werktagebuch« sind Erstveröffentlichungen, betonen Bürger/Marx. Das ist deshalb von Belang, weil  Genazino seine Aufzeichnungen ursprünglich als »Materialcontainer« oder »Steinbruch« zur späteren Verwendung für seine Werke gedacht hatte & wohl auch manche Notiz »in stark bearbeiteter Form« benutzt hat, wie die Herausgeber bemerken & ihn zitieren, als er 2012 mit dem Literaturarchiv Marbach  seinen  »Vorlass« besprach: »In mehr als dreißig Ordnern habe ich Entwürfe, Vorstufen, Kapitelskizzen und kürzere Einzelbeschreibungen zu kommenden Romanen gesammelt und tatsächlich aufbewahrt. Ich hätte nie damit gerechnet, dass sich außer mir je ein Mensch für dieses Material interessieren könnte. Die Aufzeichnungen sind oft nur deshalb entstanden, weil ich meiner inneren Mutlosigkeit irgendetwas entgegenhalten wollte. Ohne diese Vor-Notizen wären die>eigentlichen< Werke nie entstanden».

Zumindest mit dem, was die beiden Editoren dem buchhalterisch geführten Konvolut für ihre Sammlung entnommen haben, hat dieses Resümee Genazinos wenig zu tun. Der »Traum des Beobachters» enthält mehr & anderes als bloß Bausteine für seine Romane. Das 38bändige »Werktagebuch« ist wie jedes ambitionierte Tagebuch ein Selbstgespräch des Autors, über seine Phobien, Phantasien & Utopien; eine Erinnerungskladde an Kindheit, Jugend  & Eltern oder an Reise-Erlebnisse in Belgien & den Niederlanden, Irland & Italien, Wien oder New York; eine Sammlung von Fundstücken & Entdeckungen, die ihm Augen & Ohren zugetragen haben & vor allem seine bis in verborgenste Winkel des Alltags der städtischen Menschen reichende sensible Aufmerksamkeit offen gelegt hat & die er nun teils als erzählten Augenblick fixiert oder sympathetisch analysiert, teils  zum Aphorismus sprachlich verdichtet hat. 

Eine literarische Vorgehensweise der Stoffsammlung, assoziativen Metaphorisierung & sprachlich-humoristischen Pointierung , die man ja auch von der Zettel-Wirtschaft Arno Schmidts & dem Ideengewimmel Jean Pauls her kennt.

Kurzum: die von Bürger/Marx zu einem Selbstporträt Wilhelm Genazinos ausgewählten & arrangierten intimen Gedanken- & Sprachsplitter sind einerseits eine »Resteverwertung» von Genazinos literarischen Hinterlassenschaften, andererseits inszenieren die Herausgeber fünf Jahre nach seinem Tod Wilhelm Genazinos glanzvolle Wiederauferstehung aus seiner umfänglichen literarischen »Wunderkammer« mit einer überwältigenden Fülle zwar bereits ge-&versammelter, aber nicht mehr roman-erzählerisch verwerteter Materialien.

Gewissermaßen als (erklärende) Ouvertüre ihrer Auswahl haben die Herausgeber eine längere Reflexion Genazinos aus dem Jahr 2013 vorausgeschickt. Darin begründet der Autor die notwendige Existenz seiner Werktagebücher damit, dass sein »Bedürfnis, die Zuckungen des Alltags mit meinem Bewusstsein zu synchronisieren« aufgrund seiner Gedächtnisschwäche »nicht mehr vollständig« gelinge. Deshalb sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als von der »Prothese des Schreibens« Gebrauch zu machen.

Sobald er einen »Ausflug in die Realität hinter sich hatte«, eilte er nach Hause & schrieb nieder, was ihm da auffällig geworden & noch im Gedächtnis war, bis er – inspiriert von einem Einkaufszettel seiner Mutter – nicht mehr ohne Zettel & Bleistift die Wohnung verließ & seine (Er-)Findungen während seiner streunenden Wanderungen durch Frankfurt oder auf Reisen notierte.

Diese »heißen« Notate »kühlte« er durch die gestaltende Übertragung in sein Werktagebuch ab. Manche von ihnen konnte er auch schon den laufenden Romanprojekten zuweisen – etwa dem »Bordellroman«, »Jugendroman«, »Schreckroman«- oder unter welchen wechselnden Arbeitstiteln er seine Beutestücke aus der gesellschaftlichen Realität auch immer ablegte.

Interessant an dieser späten selbstreflexiven Notiz Genazinos ist nicht nur, dass er sich zur schriftstellerischen Hilfe von der geliebten Mutter animiert sieht (den im Leben gescheiterten, glücklosen Vater bemitleidet er eher ungnädig), sondern, dass er in dieser Sammlertätigkeit seine »archaische Angst« verborgen glaubt – »die Angst, dass mich eines Tages das Schreiben selbst verlassen würde. (…) Die Zettel dagegen flüstern mit Anmut und Zuversicht: Morgen geht es weiter. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass diese läppischen kleinen Notizen den Kampf gegen solche Riesenängste aufnehmen und ihn dann und wann gewinnen würden«.

Angst, Panik, Peinlichkeit, Scham, Lächerlichkeit, Langeweile, Tod, Einsamkeit sind ständige, sich verstärkende Begleiterscheinungen eines Lebens, das die meiste Zeit allein gelebt wird – nachdem eine frühe Ehe gescheitert war & von den beiden Kindern nur eines überlebt hatte.

Diese Skala seiner immer prekären individuellen Befindlichkeiten begegnet dem Leser vielfach in den Notaten des geborenen Melancholikers. »Ich war schon als Kind überfordert. Deshalb fiel es mir später leicht, Überforderung als allgemein vertraut zu empfinden und mich in ihr einzurichten«. Sich in einer stetig bedrängenden Existenz»einzurichten», wo doch »das Leben die Struktur einer Falle» hat & der Schriftsteller »so empfindlich ist, dass ich Blicke, die mich treffen, kaum ertragen kann. Am liebsten würde ich, wie Sokrates im >Phaidros<, meinen Kopf verhüllen«.

Die »Peinlichkeit« der eigenen Existenz des Schriftstellers lässt ihn »zwei Positionen des Schreibens« mutmaßen: »Man kann schreiben, um mit dem Schreiben besser (oder überhaupt erst) aus neurotischen Konstellationen herauszukommen. Man kann dann durch das Schreiben in neue neurotische Konstellationen hineinkommen», benennt er das Dilemma des Schriftstellers 1987. In einer der letzten von den vielen über die  Jahre verteilten Gedanken über das Schreiben heißt es 2017, ein Jahr vor seinem Todesjahr: »Oft entsteht Literatur dann, wenn die Zumutungen des Lebens so mächtig und sonderbar über uns hereinbrechen, dass der Betroffene nicht mehr weiß, was er jetzt noch sagen soll, Ein solcher Daseinsschock kann zum Anfang eines neuen, anderen Sprechens werden«.

Glaubte der Mann, der sich schon über »ein ordentliches Ende eines Schriftstellers« Gedanken gemacht hatte, der seine Isolation beklagte, der daran merkt, dass er alt wird, weil er »Teile der Realität nicht mehr versteht» & »die Dinge ringsum in die Ferne rücken« - glaubte der Erwecker des Unscheinbaren zuletzt noch an einen literarischen Neuanfang als  über Siebzigjähriger? Zumindest gewinnt man den Eindruck, aus der immer dichterischen Streuung von Jugend- & Kindheitserinnerungen an die Armut & Glücklosigkeit seiner Familie, dass der späte Genazino als sein letztes Werk das literarische »Geständnis« seiner ihn & seine Phobien bis zuletzt prägenden Herkunft vorgehabt. Zumindest ruft er sich die fernste Vergangenheit mit den längst toten Eltern immer wieder in kleinen Momentaufnahmen der Erinnerung zurück.

Die letzten Aufzeichnungen sind undatiert, z.B.: »Wie quälend langsam die Zeit vergeht. Er überlegte, ob er nicht ein paar Tage in den Odenwald, in die Pfalz oder in den Südschwarzwald verschwinden sollte; er legte sich zwei Stunden auf das Sofa, dann schaute er aus dem Fenster oder ging (ohne Grund) schon wieder zu einem Arzt – und schon wurde er von der Zeit gequält«.

Jan Bürger & Friedhelm Marx haben ans Ende ihres »Selbstporträts Wilhelm Genazinos, aus seinen 38 Zettelkästen gezogen» – um es jeanpaulinisch zu sagen – einen lyrischen Abschied gesetzt, der ein gedankenreiches, teilweise tieftrauriges, manchmal aber auch sehr komisches Buch mit einem zarten poetischen Bild beschließt: »Engelartig herabsegelnde Blätter«.

P.S. Der Korpus des Textes wird aufgelockert durch Illustrationen. Es sind Faksimiles einzelner Seiten des Konvoluts des »Werktagebuchs« – und zwar sind es Seiten, die nicht zum ausgewählten Text des Buchs gehören (also nun doch: als Bild). Angenehm & hilfreich ist auch das Personenregister.

Artikel online seit 23.03.23
 

Wilhelm Genazino
Der Traum des Beobachters Aufzeichnungen 1972-2018
Ausgewählt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Jan Bürger und Friedhelm Marx. Zahlreiche Illustrationen, Register
Hanser-Verlag. München 2023
464 Seiten
34,00 €
978-3-446-27620-8

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